Dass das Cello singen kann, ist bekannt. Dass es auch tanzen kann, und zwar ganz großartig, kann man in der jüngsten Ballettpremiere des Opernhauses Zürich erleben.
Doch zuerst noch dies: In meiner CD-Sammlung gibt es eine Dreierbox mit dem Titel «Favourite Cello Concertos», gespielt von Jacqueline du Pré – die beiden Haydn-Konzerte, Konzerte von Monn, Boccherini, Schumann, Saint-Saëns, Dvořák. Und natürlich dasjenige von Edward Elgar, das man am stärksten mit der Cellistin verbindet. Eingespielt 1965 – die du Pré war damals 20 Jahre alt – mit dem London Symphony unter Sir John Barbirolli, der als Orchestercellist die Uraufführung des Werks unter der Leitung des Komponisten im Jahr 1919 selbst erlebt hatte. Diese CD, aufgenommen noch analog und in den 1980er-Jahren remastered, begleitet mich seit Jahrzehnten, auch wenn heute alles im Netz ebenfalls zu finden ist. 1987 starb die Musikerin, 42-jährig, an einer besonders aggressiven Form von Multipler Sklerose, vierzehn Jahre nach ihrem letzten Konzert im Februar 1973, dem Doppelkonzert von Brahms mit dem Geiger Pinchas Zukerman und unter dem Dirigat von Leonard Bernstein. Nach ihrem künstlerischen Verstummen hatte sie sich, solange es noch möglich war, dem Unterrichten gewidmet und mit einer Stiftung für die MS-Forschung engagiert.
Jacqueline du Pré und Daniel Barenboim – Traumpaar der klassischen Musik für kurze Zeit
Die ungestüme Frische, die vitale Musizierlust und Intensität der Elgar-Einspielung steht in brutalem Gegensatz zur unvorstellbaren Tragik einer jung erblühten und zu früh ausgelöschten Karriere, die diese legendäre Aufnahme überschattet. Und bei jedem Anhören schmerzlich wach wird.
Die gebürtige Britin, Cathy Marston, Zürcher Ballettdirektorin ab kommender Spielzeit, präsentiert jetzt, in Christian Spucks letzter Spielzeit und auf dessen ausdrücklichen Wunsch, dem Publikum ihre choreografische Visitenkarte mit einer getanzten Hommage an die unvergessliche Künstlerin.
Marston ist als Tänzerin zwischen 1994 und 1999 in Zürich, Luzern und Bern, wo sie bereits als Direktorin tätig war und seit Jahren mit ihrer Familie lebt, aufgetreten. Entstanden ist die Choreografie mit dem ebenso lapidaren wie schlüssigen Titel «The Cellist» im Jahr 2020 für das Royal Ballet London. Und im Gegensatz zum berühmten (und umstrittenen) Film von 1998 handelt es sich um eine Art subtiler Liebesgeschichte aus der Sicht des Cellos, zu dem du Pré eine fast symbiotisch zu nennende affektive Beziehung pflegte. (Man hört ja mitunter von tourenden Cellisten, die für ihr instrumentales Alter Ego sogar einen zweiten Sitz in der Fliegerkabine buchen.)
Tatsächlich wäre «The Cello» ebenfalls als Titel denkbar gewesen, zumal die kreative Choreografin es wagt, das Cello zu vermenschlichen, indem sie den Part des Instruments einem Tänzer anvertraut. Ein solches Unterfangen könnte leicht ins Sentimentale oder gar Kitschige abdriften, doch dank dem empathischen Wei Chen überzeugt die Umsetzung: Das Instrument wird zur Persönlichkeit mit eigener Identität. Mit eigenen Gefühlen sogar.
Zu Beginn ist die Bühne dunkel. Allmählich erkennen wir zwei leicht gerundete, mahagonifarbene Stellwände – sie wirken wie die geschwungenen Zargen eines mächtigen Streichinstruments. Darüber leuchtet ein schmaler Lichtschlitz, der seine Position im Lauf des Abends leicht verändert und den man – mit etwas Fantasie – als ƒ-Loch in der Decke eines Cellos interpretieren könnte, durch welches das Licht ins Innere des Korpus, in die Seele des Instruments fällt. Durch die Drehung der Wände werden Nischen und Spanten sichtbar, das Innere wandelt sich zum Äußeren und umgekehrt: Hildegard Bechtler hat ein minimalistisches, suggestives Bühnenbild geschaffen, dem der Verzicht auf zusätzliche konkrete Requisiten entspricht. Bei Bedarf werden durch die Tänzer lediglich diverse Stühle (ein Cellist muss halt sitzen!) oder zur Andeutung einer Konzertsituation ganze Stuhlreihen und auch mal ein Podest mit spielerischer Leichtigkeit hereingeschoben. Die vielen sperrigen Cellokästen dagegen wirken etwas schwerfällig, ihre Anzahl hätte mit Vorteil reduziert werden können.
Das Cello und sie...
Auf der dunklen Bühne liegt Wei Chen in braunrotem Outfit: Er ist «Das Instrument» – vielleicht das Stradivari von 1673, das du Pré zu Beginn ihrer Karriere spielte? Zu den satten Klängen des Elgar-Konzerts scheint das Cello, scheint der Cello-Mann zu erwachen. Eine erste magisch aufgeladene, schicksalshafte Begegnung mit Jacqueline du Pré: Wer hat wen gefunden, wer wen gewählt – Jacqueline das Cello, oder das Cello das Mädchen? Dies könnte eine der zentralen Fragen über das Wesen des Künstlertums sein, die Cathy Marston und der Theaterautor Edward Kemp im Szenario ihrer erzählten «Biografie» anklingen lassen, allerdings ohne Anspruch weder auf eine schlüssige Antwort noch auf biografische Exaktheit, dafür mit berührenden, manchmal heiteren, manchmal spielerischen und schließlich erschütternden Stationen des grausamen Schicksals. Dank dieser unsentimentalen und bildstarken Erzählweise lässt sich der Gang des Geschehens – das Wort Handlung scheint fast zu konkret – unschwer nachvollziehen.
So erleben wir die ersten Kontakte der jungen Jackie im Kreis ihrer Familie mit dem Klang des Cellos: Tänzerinnen und Tänzer in unspektakulären erd- und pastellfarbigen, vage an die Sixties erinnernden Kleidern (Bregje van Balen) bringen Vinyl-Schallplatten – Tortelier, Casals, Rostropowitsch, du Prés Vorbilder und künftige Lehrer – auf die Bühne, lassen sie rotieren, halten sie lauschend ans Ohr, legen sie auf einen pantomimisch dargestellten Plattenspieler mit «Finger-Pickup». Genauso mimen die Tänzer auch Lampen, Hut- und Notenständer, sie sind aber auch Schüler, Lehrer, Studenten, Fangemeinde, Publikum und in einer der Ensemblenummern, die nicht alle gleichermassen stringent wirken, Instrumente und Instrumentalisten zugleich.
Die jungen Du-Pré-Schwestern – der Bruder Piers wird ausgespart – werden erfrischend dargestellt von Oceana Zimmermann (Jackie) und Amélie Egli (Hilary), zwei Elevinnen der Tanz-Akademie Zürich. Da sind auch der Vater, Daniel Mulligan mit eleganter, strenger Präsenz, und die Mutter, verkörpert von Mélanie Borel, umsichtig, fürsorglich. Sie legt der Tochter immer wieder wärmende – schützende! – Strickjacken um, die diese bedeutungsvoll abstreift. Vor allem erteilt die Mutter Jackie ersten Unterricht.
...sie und das Cello
Aus dem Teenager wird eine junge Frau und Künstlerin: Giulia Tonelli folgt diesem Werdegang mit packender Unmittelbarkeit und gleichzeitig respektvoller Behutsamkeit und Reflektiertheit. Jetzt wird auch die affektive Bindung zwischen Instrument und Spielerin geradezu körperlich erfahrbar. Wei Chen nimmt eine prägnante Cello-Position ein: die eine Hand hochgereckt – Hals und Griffbrett; die Hand geballt – die Schnecke; ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt – der Stachel. Zum imaginären Bogenstrich und zur für die Virtuosin typischen energiegeladenen Körpersprache auf der Bühne ertönt die sonore Kantilene des «echten» Cellos aus dem Graben, von Lev Sivkov mit Hingabe und Wärme gespielt und eingebettet in den nuancenreichen Klang der Philharmonia Zürich unter Paul Connelly. Die Partitur wurde von Philip Feeney zusammengestellt, der in seine eigene Musik geschickt Kompositionen aus dem Repertoire von Jacqueline du Pré einflicht – Beethoven, Mendelssohn, Piatti, Fauré, Rachmaninow, Schubert – mal als flüchtiger Anklang, mal als fragmentarische Erinnerung, mal als explizites Zitat...
Bald schon löst sich die «instrumentale» Spielhaltung auf: Cello und Solistin verschmelzen zur Einheit. Die beiden wirbeln, fliegen, gleiten, schweben, taumeln über die Bühne, kopfüber, kopfunter, Arme und Beine verschlingen sich. Manchmal übernimmt die eine die Führung, manchmal der andere – virtuos, elastisch, harmonisch. Doch dann hemmt ein plötzliches Zittern der Hand, ein Einknicken der Beine den Elan. Verzweifelt stösst Jacqueline das Instrument von sich: Ihr Schmerz, seine Traurigkeit sind mit Händen zu greifen.
Zuvor jedoch findet die folgenschwere Begegnung der 21-jährigen Jackie mit dem «Dirigenten», wie er auf dem Programmzettel aufgeführt wird, statt. Gemeint ist der damals 24-jährige Daniel Barenboim, der das erwähnte Konzert von Elgar dirigiert. Dynamisch charismatisch, erotisch: Esteban Berlanga. Sozusagen über die Schulter des Cellos hinweg finden sich die Blicke von Daniel und Jackie – ein Jahr später sind sie ein Paar! Jetzt ist Pas de trois angesagt und mehr, beispielsweise als weiteres Glanzlicht: die Probe des Scherzos aus dem Forellenquintett mit drei weiteren Musikern, wozu Barenboim seinen Klavierpart keck auf dem Bauch seiner künftigen Gattin hinfingert (im Graben: Kateryna Tereshchenko mit virtuosen Fingern). Solch explizite Darstellungen ebenso wie das elegische Vibrato oder das dezidierte Pizzicato auf Arm und Schulter des Cellos verleihen der Choreografie etwas verspielt Kindliches, Naives. Doch ist es verdienstvoll, dass solche Momente dank ihrer prägnanten Kürze die Grenze zur Plattitüde zwar streifen, sie aber nie überschreiten.
Der Horizont verengt sich; im Zeitraffer von gut 60 Minuten hat sich vor unseren Augen und Ohren ein Schicksal vollendet. Das letzte Konzert schafft Jacqueline du Pré trotz Willenskraft und liebevoller Unterstützung des Cellos, ihres Cellos, nicht mehr. Das Instrument bleibt allein zurück. Dreht sich am Boden wie eine Schallplatte – das Vermächtnis, das uns die Ausnahmekünstlerin hinterlassen hat: Favourite Cello Concertos!
Szenenfotos: @ OHZ – Gregory Batardon
02 05.2023
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