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Gefühlsstürme und Bühnengewitter

Geniale Musik. Exzellente Sänger. Ein raffiniertes Bühnenbild. Ein großartiger Opernabend also? Ja, mit Einschränkungen, und Nein, aber diskussionswürdig.


Auf dem Programm des Theaters Basel stand Giuseppe Verdis «Rigoletto», mithin jenes Werk, das 1851 die Erfolgstrias einleitete und zusammen mit «Il trovatore» und «La traviata», beide 1853 uraufgeführt, den Weltruhm des Komponisten endgültig festigte. Zugrunde liegt dieser in ungewöhnlich dunklen Orchesterfarben gemalten Oper die Tragédie en vers «Le roi s’amuse» (1832) von Victor Hugo. Als Vorbild diente diesem François Ier (1494-1547), ein typischer Renaissance-Fürst, vergnügungssüchtig, glänzend, kunstliebend – er hatte unter anderem Leonardo da Vinci nach Frankreich geholt. Historisch verbürgt ist auch die Figur des Hofnarren Triboulet; den Buckel hat ihm jedoch Victor Hugo verpasst, um die Figur – vergleichbar mit seinem Quasimodo – als Außenseiter und sogar optisch nicht der Norm entsprechend zu zeichnen. Obwohl der Roi-Chevalier, wie man François nannte, dreihundert Jahre zuvor verstorben war, sah sich die französische Zensur genötigt, das in ihren Augen amoralische Stück zu verbieten, das zudem das ruchlose Treiben eines Royals, wenn auch eines längst verblichenen, an den Pranger stellte. Und damit die Verruchtheit der herrschenden Klasse denunzierte, also durchaus eine politisch gefärbte, wenn auch durch die historische Distanz abgemilderte Gesellschaftskritik beinhaltete.

Doch Verdi und sein Librettist Francesco Maria Piave verfolgen eine andere Spur.

Zwar folgen sie Hugos Vorlage recht genau, und doch nehmen sie – weniger inhaltlich als vielmehr psychologisch – entscheidende Veränderungen vor. Das beweist allein schon die Wahl des Titels. «La maledizione» (Der Fluch) sollte die Oper ursprünglich heißen. Was zeigt, dass die Autoren den Fokus weg vom königlichen Libertin und stärker auf den Höfling und seinen Umgang mit dem über ihn verhängten Fluch zu lenken beabsichtigten. Dennoch taxierte die habsburgische Zensurbehörde – wir befinden uns in der turbulenten Zeit des Risorgimento! – die Schilderung des leichtlebigen Königs als antiroyalistisch. Der König wurde deshalb zu einem unbedeutenden, namenlosen Provinzfürsten, dem Duca di Mantova, herabgestuft und der Hofnarr zur Titelfigur erhoben – aus Triboulet und Triboletto war, in Assoziation zum französischen rigoler, Rigoletto geworden. So konnte die Premiere schliesslich am 11. März 1851 in Teatro la Fenice zu Venedig stattfinden; in den folgenden zehn Jahren wurde das Werk auf rund 250 Bühnen weltweit nachgespielt, ein Erfolg, der bis heute anhält.

Was also wurde gegenüber der Vorlage verändert? Als scharfsinniger Psychologe und Kenner der menschlichen Seele hat Verdi das Motiv des Fluchs in den Vordergrund gerückt, was die dramaturgische Klammer des Werks bildet, vom Anfang bis zum letzten verzweifelten Satz «Ah, la maledizione!», ausgestoßen über Gildas Leiche. Initiiert hat die Verwünschung Monterone, Vater einer vom Herzog ebenfalls verführten Tochter, der von Rigoletto noch zusätzlich verspottet wird.


Doch geht es dabei nicht in erster Linie um einen wie auch immer gearteten numinosen Fluch, sondern vielmehr um Rigolettos Verhältnis dazu: Eine Art Idée fixe, eine Obsession, die ihn während des ganzen Stücks umtreibt; Rigoletto trägt die Verwünschung als zerstörerisches Stigma in sich selbst: Sein Verhalten am Hofe ist das eines menschenverachtenden Zynikers, eines böswilligen Spötters, dessen krude Äußerungen selbst dem nicht eben zimperlichen Herzog bisweilen etwas zu krass erscheinen. Als weit schwergewichtigere «Verfehlung» muss man sodann seine innige, fast pathologische Beziehung zu seiner einzigen Tochter Gilda empfinden: Er hat sie zwar in die Stadt seines Wirkens geholt, hält sie aber aus Fürsorge, väterlicher Eifersucht, Beschützerinstinkt, vielleicht gar aus Liebe wie eine Gefangene. Lediglich eine altjüngferliche Gesellschafterin und ein Besuch der sonntäglichen Messe werden ihr zugestanden. Ja, er vertraut ihr nicht einmal an, wer und was er ist: «Padre ti sono, e basti!» Sie, die Tochter Gilda, sei ihm Religion, Familie, Heimat, Universum... Man stelle sich vor, welche Last da einem kaum der Kindheit entwachsenen Mädchen aufgebürdet wird. Man stelle sich vor, eine junge Frau an der Schwelle des Erwachsenwerdens derart einzukerkern, um sie vor den Nachstellungen junger Männer, vor allem des Herzogs, zu bewahren. Wäre heutzutage ein klarer Fall für die Kesb.

Man kommt nicht umhin, Rigoletto als realitätsblind zu bezeichnen. So gesehen, ist die mich jedes Mal irritierende unrealistische Szene bezeichnend, in der des Herzogs Höflinge Gilda entführen, um sie in den herzoglichen Palazzo zu bringen, und Rigoletto eine Maske/Augenbinde anlegen: Er sieht nicht, was um ihn geschieht. Dass er selbst Akteur in dieser schimpflichen Szene ist, blendet er, im Glauben, es handle sich um die Entführung einer Anderen, komplett aus. Von hier lässt sich ein Bogen zum grausigen Ende der Oper spannen: Für die Gefühlslage seiner Tochter hat er wenig Verständnis; unsensibel führt er ihr die Treulosigkeit des herzoglichen Verführers vor, um sie von der unheilvollen Liebe zu kurieren. Jetzt will er sich an diesem rächen, diesem jungen, strahlenden Schönling, der ihn ein Leben lang mit einem lässigen Fingerschnippen gepiesackt und zum Spaß missbraucht hat. Dass Gilda den Herzog tatsächlich liebt, dass dieser, wie es einzelne musikalische Sequenzen durchaus vermuten lassen, echter Gefühle fähig ist, lässt er ausser Acht. Dem Auftragsmörder Sparafucile (im Italien des 19. Jahrhunderts nannte man solche Killer als Bravi) gegenüber nennt er den als Mordopfer bestimmten Duca «delitto», sich selbst aber bezeichnet er als «punizione» – das zeugt von einem maßlos übersteigerten Machtgebaren als Vollzieher einer (überirdischen?) Gerichtsbarkeit; ausgerechnet er, der dem Herzog in der ersten Szene geraten hatte, einen störenden Ehemann durch Enthauptung aus dem Weg zu räumen...

Alle sind Verlierer

Eine aktuelle Aufführung muss diesen hochkomplexen Beziehungen innerhalb des extrem patriarchalen Systems Rechnung tragen. Denn: In diesem Stück gibt es eigentlich nur Verlierer – um den Zynismus auf die Spitze zu treiben: mit Ausnahme Sparafuciles (David Shipley mit sinistrem Bass), der immerhin seine zwanzig Scudi als Mörderlohn erhalten hat. Und noch betont, dass er kein ladro, kein Dieb, kein Bandit sei. Sein «Ehrgefühl» verbiete ihm, den Auftraggeber anstelle des lebenslustigen jungen Galans zu meucheln. Immerhin erklärt er sich auf Drängen seiner Schwester Maddalena (Nataliia Kukhar mit klarem Alt) bereit, denjenigen sterben zu lassen, der in dieser stürmischen Nacht als nächstes an die Türe der Spelunke klopfe. Wir wissen es und sind doch immer wieder erschüttert: Es ist Gilda, die sich für den Geliebten opfert. Aber nicht nur: Sie sühnt mit ihrem Tod gleichzeitig auch den Mordauftrag des Vaters; für ihn wird sie im Himmel Fürbitte leisten. Eine Dimension, die Rigoletto entgeht und ihn zum hilflosen Zeugen macht, wenn Gilda den tragischen, aber für sie einzig schlüssigen Weg geht, um einer freudenlosen, lebensfeindlichen Obhut zu entrinnen und ebenso einem illusorischen Glück zu entsagen.


Doch so weit sind wir noch nicht. Zwei Scheinwerfer zaubern schicksalshaft dräuende Lichtkegel auf den schwarzen Vorhang, der sich schon während des düsteren Preludios kurz hebt und den Blick freigibt auf Rigoletto, der wie ein eingesperrtes Tier im Gespensterlicht im Kreis herumirrt.


Das Orchester – die Bläser sozusagen im Kaltstart – trudelt zu Beginn, auch später gibt es da und dort kleine koordinatorische Unstimmigkeiten, doch unter Michele Spottis sportlich-spritziger Stabführung festigt sich der Klang, gewinnt an Profil und Präzision, an Kontur und Kraft. Besonders die Gewitterszenen des 3. Akts mit dem vorzüglichen disponierten Chor gelingt eindrucksvoll. Grundsätzlich werden die Tempi recht forsch angegangen; das wirkt einerseits frisch und wach, andererseits bleiben Zwischentöne und das in dieser Oper so charakteristische Clair-Obscur mitunter etwas auf der Strecke, was sich im Laufe der Vorstellungen sicherlich noch subtiler einpegeln könnte.

Ein Bühnenbild wie eine Skulptur: Bühnenmaquette zu Rigoletto von Pierre Yovanovitch (© Bild: Paolo Abate)

Zurück zum Con brio des Anfangs, zum kontrastreichen Wechsel vom schicksalsschwangeren Vorspiel zur tänzerischen Brillanz der Bühnenmusik. Mit dem Heben des Vorhangs zeigt sich auf der Bühne ein abstraktes Kunstwerk, das der französische Designer und Innendekorateur Pierre Yovanovitch geschaffen hat, sein erstes Bühnenbild, wie zu erfahren war. Aus dem Hintergrund führt rechterhand eine elegant geschwungene Treppe hinunter zur Bühnenebene mit einer kreisförmigen Plattform. Diese ihrerseits ist besetzt von einer gebogenen Wand, die sich der Kreisperipherie entlang bewegen lässt. Im 2. und im 3. Akt wird sie durch je eine weitere halbrunde Wand, ebenfalls konzentrisch platziert und fahrbar, ergänzt. Diese drei Schalen erinnern an Blütenblätter, die um ein und denselben Mittelpunkt angeordnet sind. Rotierend sollen sie, laut Programmheft, das Fortschreiten der Zeit symbolisieren (wenig überzeugend!) sowie die sich verengende, ausweglose Situation charakterisieren (eher einleuchtend!). Das ist hochästhetisch, ein Objet d’art geradezu, sehr dekorativ, very stylish, un peu nouveau-riche... Die mobilen Wände zeigen uns je nach Position mal die innere rote, mal die äussere blaue Seite. Durch die intensive Farbgebung schlucken sie allerdings bei der vorwiegend düsteren Beleuchtung zu viel Licht, sodass die Szene im Dunkel verschwimmt. Bei vollem Licht dagegen wirken sie sehr dominant – ob ein neutralerer Anstrich bei entsprechender Beleuchtung (Cornelius Hunziker) nicht doch mehr Atmosphäre erzeugt hätte!? Die Treppe immerhin bietet eine ideale Rampe für Gildas Auftritt, indem sie zu den Melismen und Fiorituren ihrer Arie «Caro nome» kindlich von Stufe zu Stufe hüpfen darf, ein hübscher Einfall in der ansonsten nur halbwegs überzeugenden Regie von Vincent Huguet.

Stichwort Gesang! Stichwort Gilda! Stichwort Regula Mühlemann, die hier ihr Rollendébut gibt. Mit der jungen Luzernerin findet diese Figur eine in Stimme und Gestalt ideale Verkörperung. Makellose, geradezu spielerisch leichte Koloraturen charakterisieren das junge, erstmals verliebte Mädchen; Intensität und Wärme und sogar ein wenig Aufmüpfigkeit die liebvolle Tochter; Gefühlsüberschwang die Liebende; ätherisches Kolorit die an Leib und Seele versehrte Frau – ein emotionaler Wandel aus der hoffnungsfrohen Lichtwelt hin zur transzendierenden Entrückung. Berührend!


Wenig schlüssig dagegen ist Gildas optische Erscheinung im 2. Akt: eine damenhaft hochgesteckte Frisur, ein schickes Cocktail-Kleid und Hochhackige – soll sie auf diese Weise in den erlauchten Kreis der Verführten integriert werden? Im letzten Akt wird dafür, entgegen dem Textbuch, auf ausgesprochen männliche Kleidung Gildas verzichtet, was den Stellvertretermord plausibler gemacht hätte. Generell folgen die Kostüme von Clémence Pernoud einer etwas wenig profilierten Moderne, fashionable und zum Bühnenbild passend.

Dieses wird im 3. und letzten Akt im Zentrum der drei kreisenden Wände zum rot ausgeleuchteten Bordell. Am Tisch in der Mitte sitzen nicht nur Maddalena als Sparafuciles Komplizin, sondern zwei weitere leichte Damen und spielen Karten. Sie bilden die stumme Staffage zum berühmten Quartett, und man fragt sich, wozu. Auch Gilda und Rigoletto setzen sich direkt zur Spielrunde, und man fragt sich, weshalb. Was Verdi in einer der genialsten Kompositionen der Opernliteratur schafft, wird hier auch szenisch explizit gemacht; rein sängerisch mag diese Nähe sicher ein Vorteil sein, dramaturgisch jedoch ist sie eher ungewöhnlich, um nicht zu sagen befremdlich. Noch eigenartiger wird die Szene, wenn sich der Herzog von seiner neuesten Eroberung wegstiehlt und Gilda in die Arme schließt. Hier kommt also jene für ihn bislang nicht gekannte Gefühlsaufwallung zum Ausdruck, die ihn schon zu Beginn des 2. Akt gegenüber Gilda übermannt hat und was dort auch die Musik ausdrückte. Nur, hier sprechen nicht nur seine Worte, sondern auch seine Gesangslinie von ganz anderen Emotionen und Absichten.

Einen vergleichbaren, recht willkürlichen und etwas billigen Eingriff erlaubt sich die Regie auch in jener besagten Szene des 2. Akts (Ella mi fu rapita – sie wurde mir geraubt). Der Herzog wird da nämlich von einer Frauenriege beim Fitness begleitet, was offenbar einen spaßigen Akzent ins tragische Geschehen setzen soll. Schliesslich wird auch der folgende zentrale Auftritt Rigolettos, wo er sich mit den Höflingen anlegt, durch einen seltsamen Regieeinfall kontaminiert. Da senkt sich ein moderner Lüster von der Decke und bildet eine Art Käfig um den verzweifelt um seine Tochter Bittenden. Wir verstehen: Er ist lahmgelegt, isoliert, bezwungen vom korrupten Hofstaat – doch wird ihm so weitgehend die Möglichkeit genommen, mit den Gegnern zu interagieren, wie es die hochdramatische Komposition eigentlich nahelegte.

Der Bariton Nikoloz Lagvilava als Rigoletto (zum Glück ohne Buckel) verfügt über einen machtvollen, imposanten Bariton und meistert die anspruchsvolle Partie mit offenbar unerschöpflichen Reserven. Für die so bewegenden Töne gegenüber der Tochter stehen ihm weniger überzeugende Register zur Verfügung; seine Liebe zur Tochter drückt er aus, indem er ihr das Haar bürstet. Ähnliches gilt auch für den Herzog von Pavel Valuzhin: ein tragfähiger, im Verlauf des Abends zunehmend sicherer Tenor, doch den lyrischen Schmelz, die Wärme, die man auch im Spintofach gerne hören würde, ist nur ansatzweise vorhanden. – Alles in allem, eine solide, recht gelungene Aufführung, die den Besuch lohnt. Nur schon wegen der hinreissenden Komposition, die selbst Verdi als eine seiner besten einschätzte.

Bilder: Theater Basel – © Matthias Baus

24.01.2023


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