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Quel elisir mirabile (Teil III)


Philippe Mercier ~ (oben ~1740, Musée Fayet, Béziers; unten 1725/30, Louvre, Paris)

Als akustische Unterstützung der «Verkostung» finden Sie am Ende des jeweiligen Abschnitts eine Ziffer (x) mit dem Link zum beschriebenen Musikstück. Durch Anklicken öffnet sich ein youtube-Tab, den Sie nach dem Anhören schliessen und an der nämlichen Stelle weiterlesen können. Sämtliche Links finden sich auch in der Liste ganz am Schluss des Textes. Und vielleicht vertragen Sie auch weitere «Wein-Degustationen»?

​​Vivat Bacchus (Teil I) und Tocca e bevi (Teil II).

Saimir Pirgu als Hoffmann und die studentischen Mitsäufer (OHZ – © Bild: Monika Rittershaus)


Wie Falstaff tut auch der Dichter E. T. A. Hoffmann lieber einen tiefen Blick in Flasche und Becher als ins graue Antlitz der Realität, zumindest aus der Sicht von Jacques Offenbach und seiner Librettisten Jules Barbier und Michel Carré. Sie tränken Hoffmanns fantastischen Contes förmlich in Alkohol. Jede seiner Liebesaffäre scheitert letztlich an seinem getrübtem Blick; Projektion, Blendung, Selbsttäuschung ist das dreimal variierte Thema dieser Oper. Der Alkohol ist gleichzeitig Causa und Remedium. Darum entsteigt auch Hoffmanns Muse in Gestalt des Studenten Nikolausse einem Weinfass, und er/sie wird am Schluss lakonisch konstatieren: «Pauvre Hoffmann, ivre mort. Mais guéri?» (Armer Hoffmann, stockbetrunken. Aber geheilt?). Damit wird das «mal de l’époque» thematisiert, an dem auch Baudelaire, Rimbaud & Co. litten und dem sie mit unterschiedlichsten Mitteln begegneten. Ein entmaterialisiertes «Glou glou», Preislied auf sämtliche Wein- und Biergeister, eröffnet und beschliesst die abenteuerlichen Zechgeschichten. Flöten, Harfe und Streicherpizzicati imitieren das Moussieren des Gersten- und des Rebensaftes. Im Lutherkeller zu Berlin, wo Hoffmanns Besäufnis stattfindet, wird der Alkohol zur treibenden Kraft, die nicht nur Dichtung und Wahrheit zu einem verschwimmenden Bild zusammenfügt, nicht nur Imagination des romantischen Dichters, Seelenschmetter und Katzenjammer inklusive, beflügelt, sondern als dramaturgische Klammer die drei Mittelakte zusammenschweisst. (1)

Saimir Pirgu als (stockbetrunkener) Hoffmann und Alexandra Kadurina als Muse/Niklausse

(OHZ – © Bild: Monika Rittershaus)

Simon Keenlyside als Hamlet (Met – © Bild: Brent Ness)


Dieselbe Librettistenfirma Carré & Barbier, besorgte auch die Vorlage zu Ambroise Thomas’ «Hamlet», der 1868, also dreizehn Jahre vor Offenbachs unvollendet gebliebenem Schwanengesang, ebenfalls in Paris uraufgeführt wurde. Thomas stand immer etwas im Schatten des Zeitgenossen Gounod, seine Opern werden ausserhalb Frankreichs kaum mehr gespielt, auch nicht «Hamlet», trotz Grand Tableau mit Ballett und virtuoser Scène de la folie. Auch das Chanson bacchique, das der Titelheld zur Begrüssung der Schauspieler singt, steht in der Tradition des angenehmen Ohrkitzels und der brillanten Stimmentfaltung: «O vin, dissipe la tristesse.» In einem zweistrophigen Trinklied im wiegenden 6/8-Takt philosophiert der Dänenprinz über das irdische Ungemach und reimt ungescheut «cœur» auf «liqueur». Dazwischen schiebt sich ein Mittelteil in Moll und eine rezitativische Passage, die über eine koloraturartige Kadenz in die ursprüngliche Tonart zurückführt. Chorische Einwürfe und ein gleissendes Nachspiel mit Trompeten und Schlagwerk lassen vermuten, dass Hamlets Tragik ebenso wie Ophelias spektakuläre Wahnsinnsarie eher mondäner Natur sind als Indizien existentieller Krisen. (2)


Frauen auf der Opernbühne erscheinen uns als Liebende, Betrogene, Wahnsinnige, als Verführerinnen und Magierinnen, als Hexen und sogar als Mörderinnen... Der Rausch, der Suff jedoch ist praktisch ausschliesslich den Männern vorbehalten. Ein charmantes Damenschwipschen darstellen, das kann jedoch nur einer: Jacques Offenbach!

Stéphanie d’Oustrac (un peu grise) als Périchole (Opéra comique, Paris – © Bild: Stefan Brion)


In seiner Opéra-bouffe «La Périchole», wo er einmal mehr mit seinen Lieblingslibrettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy zusammenarbeitete, begegnen wir der Strassensängerin Périchole. Sie hat sich von der Aussicht, endlich wieder einmal eine warme Mahlzeit zu bekommen, vom peruanischen Vizekönig in dessen Palast einladen lassen und dort auch tüchtig dem Wein zugesprochen. Entsprechend schwer ist nun ihre Zunge, Zickzack ihr Gang und anzüglich ihr Blick («ma parole un peu vague, ... tout en marchant je zigzague, ... mon œil est égrillard»). Einkomponierten Hoquets, kleine Verzögerungen und das kokett verschämte «Chut! faut pas qu’on le dise» machen aus dieser zweistrophigen Griserie ein musikalisches Kabinettstück à la française. (3)


Wie eigenartig es einem beim blossen Absingen eines vulgären Trinklieds am falschen Ort ergehen kann, muss Jean, der Gaukler, erfahren, als er auf Wunsch der Menge und für ein schäbiges Almosen das Allelujah des Weins vor dem Kirchportal anstimmt und deshalb zwecks Besserung der Person vom Prior prompt als Mönch ins Kloster eingezogen wird. Jules Massenets selten aufgeführtes «Le Jongleur de Notre-Dame» handelt von einem fahrenden Spielmann, der – obwohl von seinen Mitfratres scheel angesehen – mit seiner Kunst, der Jonglage, den himmlischen Segen einer Muttergottesstatue erwirkt und im Zustand der Exaltation vor dem Altar tot zusammenbricht. Das Lied, das unwillentlich seine mönchische Laufbahn einleitet, ist ein blasphemisches Pater noster zur Ehre Gottvaters, des Weins («Le vin, c’est dieu le père»), dem ein Ave Vénus und schliesslich ein Credo auf die Trunkenheit und die trinkfesten Kleriker folgt. Begleitet nur von seiner Leier – Massenet setzt Harfe und Solovioline ein –, intoniert Jean eine psalmodierende eintönige Melodie, in welche die brüllende Menge mit dem respondierenden Halleluja einfällt. Ihren Reiz verdankt die vergnügliche Parodie der archaischen Harmonik, die mit parallel geführten Stimmen, fallenden Leittönen und Jeans Tenor als Cantus firmus einen gregorianischen Choral parodiert – des Priors Entrüstung scheint nur zu verständlich, aber es scheint ihm nicht bewusst zu sein, dass «Spirituelles» durchaus einen Doppelsinn hat... (4)

Studenten der Florida State University (Dir. Sara E. Widzer)

Strategische Räusche

Mit der spassigen Seite des Weingenusses operiert Rossini, der bekanntlich leiblichen Genüssen keineswegs abhold war. Auch in seinem «Barbiere di Siviglia» wird der Rausch als Strategie eingesetzt; hier nicht, um den Zwiespalt zwischen Fiktion und Realität, zwischen Kunst und Leben überhaupt erst auszuhalten, sondern einiges materialistischer, nämlich um ans Ziel seiner (erotischen) Wünsche zu gelangen. «Ubbriaco si fingerà», rät Figaro dem liebestrunkenen Almaviva. Und Rossini widmet dem fingiert betrunkenen gräflichen Soldaten eine der ergötzlichsten Szenen der Opernliteratur. Der lärmende Eindringling hat musikalisch auf stur geschaltet: Er scheint keines anderen Intervalls mehr fähig zu sein als punktierter Quart- und Quintsprünge – auskomponierter Rülpser sozusagen –, die er mit der renitenten Beharrlichkeit des Betrunkenen wiederholt und so den Dottor Bartolo-Balordo-Bertoldo-Barbaro zur Weissglut treibt. Und mit abrupten dynamischen Wechseln, Triolen und spritzigen Trillern sotto voce schafft es Rossini, selbst das Orchester zum Torkeln zu bringen. (5)

Antonino Siragusa als scheinbetrunkener Almaviva stürmt Don Bartolos Haus

(Bayerische Staatsoper München)


Rossinis Barbiere legt es nahe, auch sein berühmtes Vorbild, das gleichnamige Werk von Giovanni Battista Paisiello, einem Alkoholtest zu unterziehen, zumal die Libretti sich über ganze Passagen wörtlich gleichen. So lautet auch bei Petrosellini, dem Librettisten von Paisiello, die entsprechende Regieanweisung: «... in uniforme militare e fingendosi un poco ubbriaco». Paisiello verlegt die ganze Szene in ein Rezitativ, ohne aus der Situation musikalisch besondere Funken zu schlagen.

«Caro elisir, sei mio, tutto mio» – freut sich Pavol Breslik als Nemorino

(OHZ – © Bild: Judith Schlosser)


Der Wein, genauer ein Bordeaux, bringt auch in Donizettis «Elisir d’amore» den fatalen Stein ins Rollen – besser: die Gefühle ins Wallen! Hier soll das Elixier, das schon Tristan und Isolde, allerdings mit verhängnisvollerem Ausgang, zusammenbrachte, dem liebeskranken Nemorino als vermeintlicher Liebestrank zu jenem Selbstvertrauen verhelfen, das zur Betörung einer Frau, zumal einer spröden, koketten wie Adina, unerlässlich ist. Die Anspielung ans literarische Vorbild erfolgt bereits am Anfang der Oper: Adina liest, was schon mal Nemorinos masslose Bewunderung für die kluge Schöne erweckt: In vier Takten gibt er seiner Hochachtung vor so viel Belesenheit Ausdruck («essa legge, studia, impara ... non vi ha cosa ad essa ignota» – sie liest, studiert, lernt, weiss alles), und das Orchester kommentiert seinerseits durch den repetierten Hochton G mit leiser Ironie; für den eigenen «tölpelhaften Analphabetismus» bringt Nemorino lediglich zwei Takte auf: «Io son sempre un idiota, io non so che sospirar» (Ich Trottel kann bloss seufzen). Einen Hoffnungsschimmer entdeckt er jedoch, als Adina in schmeichlerischem Walzerton den – hier positiven – Ausgang der Fabel erzählt. Ach, stünde doch auch ihm ein derartiges «Elisir mirabile» zu Gebot! So ist denn der Arme nur zu rasch bereit, die Gunst des Schicksals bzw. der Angebeteten mit einem solchen Trank herbeizuzwingen, zumal sich bereits ein Nebenbuhler mit martialischem Trommelwirbel ankündigt. Doch da ist zum Glück auch der bramarbasierende Wanderdoktor Dulcamara – der Name «Bittersüss» ist Programm –, der das entsprechende Mittel in seinem Sortiment führt, ins Dorf gekommen. Allerdings muss das Trinkrezept, das Dulcamara gratis zum «magico liquore» mitliefert, jeden Liebhaber edler Bordeauxweine hell entsetzen: «... la bottiglia un pò si scuote e si bada che il vapor non se ne vada» (Man schüttle sacht die Flasche, achte aber darauf, das der Weingeist nicht entweiche). Doch schliesslich geht es hier nicht um eine pietätvolle Weindegustation, sondern ums schlichte Überleben, was – noch vor dem Weingenuss – das ekstatische «Obligato» Nemorinos deutlich mitteilt. (6)


Daran schliesst sich im folgenden Rezitativ zum Finale I eine wahre Liebeserklärung an die köstliche Flasche mit dem Wundertrank: «Caro elisir, sei mio, sì, tutto mio!». Ein entschlossenes «Bevasi», schon rieselt der Tropfen – eine Sequenz von fallenden Terzen – die Kehle hinunter und füllt wohlige Wärme die Adern. Mit psychologischem Geschick zeichnet Donizetti nun die verschiedenen Stadien des Rauschs: Zuerst aufgekratzte Fröhlichkeit, durchsetzt von kleinen Rülpsern, Trotzig-beschwingtes Trällern, begleitet von spöttischen Pizzicati, gipfeln im Disput mit der immer noch unsensiblen Angebeteten, doch die Terzenseligkeit lässt erahnen, dass letzten Endes doch noch alles gut kommt. (7)

Der durchtriebene Dottor Dulcamara (Paolo Cavanelli) und der naive Nemorino (Stephen Costello)

(Glyndebourne Festival – © Bild: Bill Cooper)

Vittorio Grigolo als Nemorino (Met – © Bild: Marty Sohl)


Als Kontrastmoment zu einer mörderischen Intrige findet im 2. Akt von Umberto Giordanos «Fedora», nach einem Drama von Victorien Sardou, eine Abendgesellschaft statt. Vor der Folie einer leichtlebigen, schicken Soirée im Palais der Gräfin Romazova perlt nicht nur das Klavierspiel eines polnischen Pianisten (der sich später als Spion herausstellen wird), sondern auch der Champagner. Und zwar «il vino della vedova Cliquot» – allerdings ist nicht bekannt, ob die genannte Firma damals die Gagen der Sänger gesponsert hat...

«Rasch steigt er in den Kopf, der Champagner...» singt Rosa Feola als Olga Sukarev

(The Metropolitan Opera, New York)


In einer dünkelhaften Arie tadelt einer der Gäste, der Diplomat Siriex, die zwiespältige Natur der russischen Weiber. Doch die Gräfin Olga Sukarev kontert mit einer feinsinnigen Replik über das Wesen der Pariser Männer: «Il parigino è come il vino» – was nicht nur ein hübscher Reim ist, sondern deren Charakter trefflich beschreibt: Charmant und perfid, heiter und eiskalt, verdreht er uns den Kopf, um alsbald abgestanden, schal zu wirken. Leggerissimo e spigliato, leicht und wendig, schreibt der Komponist in die Partitur, und der schnelle 2/4-Takt, die gehäuften Triller, der duftige, transparente Satz mit hohen Streichern, Flöte und Piccolo, mit perlenden Pizzicati, Arpeggien und Glöckchen unterstreichen das Nichtige, Flüchtige des edlen Gesöffs. Die kapriziöse Gräfin aber lässt sich nicht beschwipsen und taxiert unbestechlich: «vano strepito, troppa spuma ... e spenta l’ebrezza, resta il tedio» – eitles Gebraus, zu viel Schaum ... und nach dem Rausch bleibt die Dumpfheit. (8)


Von wegen! So unterschiedliche die Provenienz, so verschieden die Jahrgänge, nicht zu reden vom Bouquet, der Note, der Cuvée und was der önologischen Fachsimpeleien mehr sind, was da musikalisch in Generationen und Stilepochen herangereift ist, gehört in der Tat zum Süffigsten, was die holde Kunst zu bieten hat. Und das Beste daran: Selbst bei exzessivem Zuspruch sind weder Kater noch Kopfschmerzen am andern Tag zu befürchten. Prost, Musica! Vivat Bacchus!

Caravaggio: Bacchus (1593) – Gallerie degli Uffici, Florenz

Teil III: Quel elisir mirabile (22.01.2023)


Weitere Beiträge finden Sie unter INDEX

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(1) Jacques Offenbach: LES CONTES D’HOFFMANN – «Glou Glou», Chor der Bier- und Weingeister

(2) Ambroise Thomas: HAMLET – «Ô vin, dissipe la tristesse qui pèse sur mon cœur», Arie des Prinzen zur Begrüssung der Schausteller

(3) Jacques Offenbach: LA PÉRICHOLE – «Ah! Quel dîner je viens de faire», Griserie der Périchole

(4) Jules Massenet: LE JONGLEUR DE NOTRE-DAME – «Le vin, c’est Dieu le Père», Alléluia du vin des Jongleurs Jean

(5) Gioachino Rossini: IL BARBIERE DI SIVIGLIA – «Ehì di casa, buona gente», Szene des fingiert betrunkenen Grafen Almaviva

(6) Gaetano Donizetti: L’ELISIR D’AMORE – «Ardir – dottore, perdonate...», Duett Nemorino-Dulcamare

(7) ibid: «Caro elisir sei mio! Sì, tutto mio!», Rezitativ und Duett Nemorino-Adina

(8) Umberto Giordano: FEDORA – Il Parigino è come il vino» , Spottlied der Gräfin Olga Sukarev

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