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Angst vor dem Leben, Angst vor dem Tod



Opern-Paradox: Szenische Handlung gibt es kaum. Aber gleichwohl ein Thriller, basierend auf historischen Fakten zur Zeit der französischen Revolution, im Fokus eine Gemeinschaft von Nonnen. Keine Arien. Weder Duette, Terzette noch Ensembles. Nicht einmal eine Liebesgeschichte, und ergo auch keine schmachtenden Tenöre oder eifersüchtigen Baritone. Überhaupt fast keine Männer, und wenn, dann nur als Randfiguren: Bruder, Vater, Prälat und Soldateska. Trotzdem ist alles da, was eine Oper ausmacht, eine selten gespielte zwar, aber eine, die mittlerweile zu den Schlüsselwerken der Gattung des 20. Jahrhunderts gehört. Deren eigenständige tonale Musik – auch das ein Gegensatz zur Avantgarde der 1950er Jahre – das sinnliche Empfinden unmittelbar und mit unwiderstehlichem Sog anspricht: «Dialogues des Carmélites» von Francis Poulenc (1899-1963). Von Poulenc selbst, von dem es halb bewundernd, halb spöttisch hiess, er wechsle ständig und unzimperlich zwischen Cabaret und Kirche, ist das Wort überliefert: «Surtout n’analysez pas ma musique, aimez-la!»


1953 erhielt der Komponist vom Teatro alla Scala einen Werkauftrag. Eigentlich hatte man ein Werk über eine Laienschwester im Umfeld des Franz von Assisi vorgeschlagen, doch er entschied sich für einen anderen Stoff, den er selbst zum Libretto – drei Akte zu je vier Bildern – formte. 1957 erlebte die Oper dann an der Scala unter Nino Sanzogno ihre Uraufführung.

Literarische Vorlagen

Als Grundlage diente Poulenc dabei das Drehbuch «Les dialogues des Carmélites». Verfasst hatte es Georges Bernanos 1947; verfilmt wurde es allerdings erst 1960 (mit Jeanne Moreau, Pascale Audret, Madeleine Renaud, Jean-Louis Barrault u. a.) Am 14. Juni 1951 erlebte der Stoff seine Uraufführung als – deutschsprachiges! – Bühnenstück unter dem Titel «Die begnadete Angst» am Zürcher Schauspielhaus in der Regie von Oskar Wälterlin und mit Therese Giehse als Priorin! Erwähnenswert ist ein Detail in der damaligen Theaterkritik, das später nochmals aufzugreifen ist. Diesen ins Deutsche übertragenen Dialogen, heisst es da, «haftet zu sehr die Bezogenheit auf den Film an. Der fortgesetzte, brüske Wechsel von sechsunddreißig (!) Bildern verrät allzu deutlich den epischen Stil der Filmdramaturgie. [...] Die Tragkraft des Wortes reicht hier nicht aus [...] der für den Film bestimmte Text von Bernanos gewinnt nichts dadurch, daß er auf die Bühne gebracht wird. Ist schon verfilmtes Theater problematisch, so ist es vertheaterter Film noch weit mehr» (DIE ZEIT, 21.6.1951).


Bernanos seinerseits hat sich auf die Novelle «Die Letzte am Schafott» von Gertud von le Fort, veröffentlicht 1931, bezogen. Als ahnungsvolles Fanal des aufdämmernden Naziterrors schildert die deutsche Dichterin darin den Opfergang von sechzehn Ordensschwestern des Karmeliterklosters in Compiègne, die unter der jakobinischen Schreckensherrschaft wegen kontrarevolutionären Agitierens am 17. Juli 1794 auf der Pariser Place de Grève durch die Guillotine hingerichtet wurden. Von le Fort stützt sich in ihrer als Brief eines Aristokraten verfassten Erzählung auf den posthum veröffentlichten authentischen Bericht der Mère Marie de l’Incarnation, die damals als Einzige dem Massaker entgangen war. Aufgrund ihrer Aufzeichnungen wurden die sechszehn Nonnen 1906 seliggesprochen.

Von le Fort erfindet zudem eine zusätzliche Figur: Blanche, die als Halbwaise und Tochter des Marquis de La Force aufwächst. Die Todesangst ihrer Mutter – sie starb an den Folgen einer Frühgeburt – überträgt sich auf die Tochter, die mit einem Angstrauma aufwächst. 16-jährig, beschliesst sie, ins Kloster einzutreten, und findet Aufnahme im Orden von Karmel in Compiègne, nördlich von Paris. Dort lernt sie ihre Mitnovizin Constance kennen und erlebt das qualvolle Sterben der Priorin. Angesichts der Bedrohung durch die revolutionären Kräfte, animiert die gestrenge Subpriorin, die bereits erwähnte Marie der Menschwerdung, ihre Mitschwestern, ein Gelübde zum Martyrium abzulegen. Als die Klostergemeinschaft tatsächlich aufgelöst, die Karmelitinnen ihren Habit ablegen sollen, flieht Blanche, gedrängt von ihrem Bruder, nach Paris ins inzwischen verwüstete elterliche Palais, wo sie von Mère Marie aufgesucht wird, die ihr rät, sich in Sicherheit zu bringen. Doch Blanche weigert sich, selbst als sie erfährt, dass ihr Vater vom Pöbel umgebracht wurde.


Inzwischen sind die Nonnen zum Tod verurteilt. Eine nach der anderen besteigen sie das Blutgerüst, ihr Gesang wird immer dünner. Da stimmt Blanche, die das grause Spektakel aus der Menge mitverfolgt, in den Cantus ein, worauf sie vom aufgebrachten Mob erschlagen wird. In der Oper dagegen geht sie als letzte aufs Schafott, gefasst und furchtlos, das «Salve Regina» auf den Lippen...

Blick in seelische Tiefen In der aktuellen Produktion des Opernhauses Zürich wird dieses Ringen um Würde, um Stärke, für die eigene Überzeugung einzustehen, auch um die damit verbunden Ängste, die Zweifel und die Zerrissenheit grossartig umgesetzt – musikalisch, szenisch, emotional. Mit Respekt und dem Blick fürs Wesentliche begegnet die Regisseurin Jetske Mijnssen dem brutalen Stoff. Wie schon in ihrer erinnerungswürdigen Inszenierung von Rameaus «Hippolyte et Aricie» (2019) verzichtet sie auf knallige Effekte, blickt aber dafür tief ins Innenleben der handelnden Personen. Und schafft dadurch eine Dringlichkeit und Aktualität, der man sich nicht entziehen kann.


Statt einer zwanghaften Modernisierung mit Sneakers, T-Shirts und überflüssigen Videos zu frönen (nichts dagegen, wenn sinnstiftend eingesetzt!), setzt die Regie auf ein historisches Setting: Edle Stoffe, Rokoko-Kostüme, Perücken evozieren das Ancien Régime, die Trachten der Nonnen sind eh zeitlos (Gideon Davey). Dazu hat Ben Baur ein höchst raffiniertes Bühnenbild geschaffen: ein leicht übers Eck gestellter Einheitsraum mit grauen Wänden. Je nach Handlungsort werden einzelne blanke Wandflächen durch ebensolche mit Fenstern, Portalen, Durchgängen ausgewechselt. Auf diese Weise, ergänzt mit spärlichem Mobiliar, Kronleuchtern, Kandelabern, Kruzifix, entstehen ganz unterschiedliche Szenerien: nobler Salon mit Durchblick in den angrenzenden Ballsaal, klösterliches Parlatorium, Kapelle mit Altarnische, Zelle, Klaustrum… zum Schluss, kahl und leer, der Kerker in der Conciergerie, alles von Franck Evin suggestiv ins Licht gerückt. Diese lautlos und rapide wechselnden Ansichten entsprechen kongenial der Struktur des Stücks mit (nur noch) zwölf Bildern und den orchestralen Intermezzi. Sie entsprechen jedoch ebenso der ursprünglichen cineastischen Vorlage des Librettos; ein Eindruck, den der schwarze Vorhang zwischen den Szenen – gleichsam die Klappe zwischen den filmischen Einstellungen – noch unterstreicht. Und, wenn man denn will, der auch das Fallen des Beils vorwegnimmt.


Im Gegensatz zur zitierten Kritik, erzielt das dialogische, rezitativische, bisweilen ariose Parlando, das «gesungene» Wort in Verbindung mit der prächtig instrumentierten Musik eine machtvolle Wirkung. Bild, Text und Musik werden eins.

Gleich zu Beginn irrt Blanche zu einer einsamen Klarinettenkantilene durch das devastierte Elternhaus – was folgt, mag als eine Art Flashback zu begreifen sein, wie es Todgeweihte offenbar mitunter erleben.


Dann sehen wir Blanche im Salon des väterlichen Palais. Kronleuchter, stilvolles Intérieur, höfisches Ball – Tanz auf dem Vulkan, apart choreografiert von Lillian Stillwell; die Aristokratie foutiert sich um die aufziehenden Anzeichen des kommenden Umsturzes. Blanche eröffnet ihrem Vater ihren Entschluss, ins Kloster einzutreten. Nicolas Cavallier gibt diesen mit perfekter Diktion und noblem, etwas steifem und damit absolut dem Bild entsprechenden grandseigneuralem Gehabe. Das Bild einer adligen, aber dysfunktionalen Familie ergänzt der Sohn, Blanches Bruder; Thomas Erlank besticht mit typisch französischem hellem Tenor und nobler Attitüde. Und dann ist da, wie gesagt, Blanche, das «Häschen», wie man sie en famille ob ihrer latenten Angstattacken liebevoll-herablassend nennt, stumm vorerst, aber mit grosser Präsenz. Diese Blanche sei für sie ein «grosses Mysterium», gesteht Olga Kulchynska. Vielleicht ist es genau das, was sie dazu befähigt, diese enigmatische Figur mit ihren neurotischen Zwängen und Ängsten so glaubwürdig darzustellen. Darüber hinaus versteht sie es, ihrem fokussierten Sopran je nach Gefühlslage unterschiedliche Farben zu verleihen, die sich dem geforderten französischen Konversations-Ton ebenso anpassen wie der aufblühenden Kantilene.


Eindrücklich ist auch die erste Begegnung Blanches mit der Priorin der Karmelitinnen, Madame de Croissy. Evelyn Herlitzius gestaltet die alte Klostervorsteherin, die von Lebensweisheit durchdrungene und vom Tod gezeichnete alte Frau, mit schonungslosem Einsatz, was Stimme und Spiel betrifft. Ihr schmerzlicher Tod, der so gar nichts von abgeklärtem Loslassen und innerem Frieden hat, ist einer der Höhepunkte des Abends. (Und stellt auch den agnostischen Zuschauer vor existentielle Fragen.)

Für lichte, mitunter fast heitere, zumindest verspielte Momente sorgt Sandra Hamaoui mit hellem Sopran als lebenslustige Novizin Constance, die aber im entscheidenden Moment Grösse und Wahrhaftigkeit beweist. Zur Vielfalt der faszinierenden und subtil gezeichneten Frauenportraits tragen auch Inga Kalina als warmherzige neue Priorin, Liliana Nikiteanu als freundliche Mère Jeanne de l’Enfant Jésus und Alice Coote als Mère Marie bei, letztere in ihrer apodiktischen, mitunter etwas schneidenden Strenge fast unheimlich – und es wirft ein schillerndes Licht auf ihre Person, die sich im entscheidenden Moment, wenn auch nach innerem Kampf, nicht unter die Verurteilten am Schafott reiht. Valeriy Murga gibt einen kraftvoll orgelnden Kerkermeister, begleitet von effektvollen Fackelträgern, und François Piolino einen so erbärmlichen wie erbarmenswürdigen Pfaffen. Vorzügliches leistet ebenfalls der von Janko Kastelic einstudierte Chor aus dem Off.


Mit Tito Ceccherini steht ein Spezialist für Neue Musik am Pult der Philharmonia Zürich. Aber auch der Partitur des «sanften Modernisten» weiss er soghafte, berauschende Klänge zu entlocken. Zügige Tempi und pointierte Dynamik schaffen ein geschärftes Klangbild, das bei aller Wucht und Bedeutsamkeit jegliche Larmoyanz, jeglichen Schwulst vermeidet, sondern stets der französischen Clarté verpflichtet bleibt. Einzig die der Partitur eingeschriebenen Schläge des niedersausenden Fallbeils bleiben etwas unterbelichtet. Ansonsten aber wird gerade diese letzte Szene durch einen glänzenden Regieeinfall zur bewegendsten des Abends. Der letzte gemeinsam angestimmte Hymnus verschlankt sich mit jedem Abgang, und jede der Todgeweihten wischt ihren auf die Kerkerwand gekritzelten Namen aus, bevor sie den letzten Gang antritt. – Und wir, im Zuschauerraum, halten den Atem an...

Besuchte Vorstellung: Premiere B Bilder: © OHZ – Herwig Prammer


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