top of page

Für die da Leid tragen


Caspar David Friedrich: Der Friedhof, um 1825 – @ Gemäldegalerie Dresden, Foto: Jean Louis Mazières


Letzte Oktobertage, bald November. Der Monat der Melancholie, der Nebel, des Dauer-Blues. November ist der Monat, in dem die christlichen Kirchen der Verstorbenen gedenken: Anfang November (Allerheiligen, Allerseelen) die Katholiken; Ende des Monats, am Sonntag vor dem 1. Advent (Totensonntag), die Protestanten. – Passion und Weihnachtsmusik haben ihren festen Platz im Kirchenjahr und, mittlerweile, ebenso im weltlichen Konzertkalender. Aber gibt es auch eine Zeit des Requiems? Die aktuelle Jahreszeit bietet sich an und, mit schrecklicher Dringlichkeit, auch die gegenwärtige grauenvolle Weltlage...

Man kennt ihn als älteren Herrn mit weißem Rauschebart,– hier ist Johannes Brahms etwa 20 Jahre alt (Foto: Alfred Orel, Leipzig ~1853)


Zum Innehalten und Mit-Leiden bewegt Johannes Brahms’ Requiem, das jetzt in der Zürcher Tonhalle und in weiteren Schweizer Städten erklingt, dargeboten von der Zürcher Sing-Akademie und «La Scintilla», der auf historischen Instrumenten spielenden Formation des Opernhaus-Orchesters.


Ursprünglich erklang die Missa pro defunctis anlässlich der Beisetzung oder zum Gedenken von weltlichen Standespersonen oder geistlichen Würdenträgern. Im späten 18., vor allem im 19. Jahrhundert und später löst sich die Totenmesse aus dem kirchlichen Kontext und dem konkreten Geschehnis und wechselt vom Sakralraum auf die Konzertbühne. Neben dem Chor gewinnen opulent besetzte Orchester sowie herausragende Solistenpartien an Raum und Gewicht. Und nicht selten erfährt das endzeitliche Grauen vor Hölle und Tod am Tag des Zorns, dem Dies irae, je nach Werk, Schöpfer und dessen Credo eindrücklichste musikalische Drastik, um danach umso effektvoller mit der flehentlichen Bitte um ewige Ruhe, Requiem eternam, zu kontrastieren.

Ein anderes Requiem: Trost unter Tränen

Nicht so bei Johannes Brahms (1833–1897). Bei ihm stehen nicht die Toten und die Bitte um deren Seelenfrieden im Zentrum. Selbst der Erlösung verheißende Tod Christi findet mit keinem Wort Erwähnung. Brahms geht es um die Hinterbliebenen, um uns, die Trauernden – uns soll mit diesem zutiefst humanistischen Werk Trost und Anteilnahme zuteilwerden. So lautet denn auch der erste Satz «Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.» Empathie, Ernst und Demut angesichts der unausweichlichen und doch immer aufs Neue erschütternden Verbindung von Leben und Tod lassen diese «Trauermusik als Seligpreisung der Leidtragenden» erfahren, wie Brahms seine Komposition bezeichnete. Selbst wenn im sechsten Satz die Posaunen des Jüngsten Gerichts erschallen, so rufen sie nicht die Sündigen vor den Richtstuhl, sondern künden von Auferstehung und Verwandlung nach dem Tod, was eher mit der evangelisch-lutherischen Exegese übereinstimmt als die römisch-katholische Vorstellung von Fegefeuer und Höllenqualen. «Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?» sind denn auch die letzten Worte dieses monumentalen Teils. Eine Haltung, die der nüchternen Frömmigkeit des Sohns eines hamburgischen Stadtpfeifers entsprochen haben dürfte. Und dementsprechend wählt Brahms – er war wohl weder Agnostiker noch Atheist, sondern einfach genuin gläubig fern aller kirchlichen Dogmen und orthodoxen Rituale – die zu vertonenden Texte nicht aus dem traditionellen Kanon der liturgischen (lateinischen!) Totenmesse, sondern benutzt eine eigens zusammengestellte Auswahl von Texten aus den beiden Testamenten, den Apostel-Briefen und den Psalmen aufgrund der Luther-Bibel. Ebenso setzt Brahms auch den Titel: «Ein deutsches Requiem», mit unbestimmtem Artikel! Was seine persönliche, subjektive Sicht auf die Bibelworte unterstreicht.

Die Entstehung von Opus 45 ist ein langer vierzehnjähriger, diskontinuierlicher Prozess, und umso erstaunlicher ist die Geschlossenheit des Ganzen, die sich u. a. in der achsensymmetrischen Anordnung der sieben Teile um den mittleren vierten Satz spiegelt. Erste Skizzen, zum Teil noch im Kontext anderer Kompositionen, gehen auf die Zeit zurück, da Brahms das Ehepaar Schumann kennenlernte (1853) bzw. kurz darauf, als Robert nach dem Suizidversuch in die Nervenheilanstalt eingewiesen wurde – Brahms betonte später, dass das Requiem eigentlich Schumann «gehöre». (Dieser hatte ja den jungen Komponisten über alle Maßen gelobt und ihm eine große Zukunft verheißen.)


Die übrigen Sätze entstanden in den 1860er-Jahren; einzelne Teile im Sommer 1866 in Zürich. Nach einer ziemlich lau aufgenommenen «Voraufführung» der ersten drei Sätze im Dezember 1867 zu Wien wurde das Werk – sechs umfangreiche Sätze – am 10. April 1868, einem Karfreitag, im Bremer Peters-Dom unter Leitung des Komponisten mit überwältigendem Erfolg uraufgeführt. Auf Anregung des dortigen Domkapellmeisters, dem die explizit christliche Dimension gefehlt hatte, wurden diverse Instrumentalstücke sowie je eine Arie aus Bachs Matthäus-Passion und Händels «Messias» eingefügt. Dies künftig zu unterbinden, oder weil er vielleicht selbst das Bedürfnis hatte, dem ernsten Werk eine lichtere, zumindest stimmlich hellere Note zu geben, setzte Brahms an die fünfte Stelle das nachkomponierte überirdische Sopransolo, das tatsächlich das Angedenken an die tröstende Mutter – sie war 1865 verstorben – thematisiert («Ihr habt nun Traurigkeit»). Damit erhielt das Werk seine endgültige siebensätzige Gestalt, in welcher es am 18. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus unter Carl Reinecke (zum zweiten Mal) uraufgeführt wurde. Fürs häusliche Musizieren hatte Brahms ebenfalls eine Fassung für vierhändiges Klavierspiel veröffentlicht, die später die Grundlage für eine Version mit zwei Klavieren und Pauke bildete.

Chorklangkultur vom Feinsten

Die Zürcher Sing-Akademie – der Kernchor von 32 Stimmen wurde für dieses Projekt auf eine halbe Hundertschaft erweitert – unter ihrem Dirigenten Florian Helgath bringt beste Voraussetzungen für das gewaltige Werk mit. Schon der geheimnisvolle, fast zärtliche Beginn lässt einen subito auf die vordere Stuhlkante rutschen: Da erklingt ein Piano von derart sublimer Innigkeit und zugleich erschütternder Intensität, ein Klangzauber, der den Jammer dieser Welt nicht wohlig zudeckt, das vielfache Leid nicht ungeschehen macht, sondern sublimiert und in eine andere Dimension transferiert – dazu ist wohl allein und ausschließlich die Kunst, vorab die Musik, befähigt! Schon in den ersten Takten werden die Schlüsselbegriffe angesprochen, die das Werk auszeichnen: Empathie, Trost unter Tränen! Am anderen Ende des dynamischen Spektrums dröhnen die wuchtigen Forte-Tutti, auch sie durchgestaltet und geformt, die Stimmen hell und geschmeidig, die exponierten Spitzentöne im Sopran rund und strahlend. Hohe Professionalität verbunden mit warmem Herzenston zeichnen diesen Chorklang aus, alles klingt frisch, empfunden, erlebt. Mit einer Dringlichkeit, die die Aufführung zum Ereignis werden lässt.

Florian Helgath ist seit 2017 Künstlerischer Leiter der Sing-Akademie Zürich (@ Christian Palm)


Das sorgfältig ausbalancierte Gesamtbild erfährt durch die beiden Solisten eine weitere Dimension. Markus Werba, mit wallenden Haar wie ein Apostel wirkend, verfügt über einen kernigen Bariton, firm im Ausdruck und klar in der Diktion. So klingt einer, der sein Geschick, seine Bestimmung akzeptiert hat. Seine Sentenzen über die Endlichkeit und die Hinfälligkeit des Menschen zeugen von durch reflektierte Einsicht gewonnene Seelenstärke; man könnte sich indes auch eine ausgeprägtere Emotionalität vorstellen, die unterschwelliges Hadern und vielleicht sogar Furcht erahnen ließe... Mit balsamischem Schönklang und kristallklarer, unangestrengter Höhe meistert Hanna-Elisabeth Müller ihren exponierten kurzen, aber umso eindrücklicheren Part im fünften Satz.

Hanna-Elisabeth Müller, Sopran Markus Werba (Bariton)


Das hochkarätige Orchester mit dem historischen Instrumentarium – darunter vier Naturhörner, zwei Harfen, Kontrafagott und exquisite Holzbläser – sowie der damit verbundenen Spielweise erzeugt ein ungemein lebendiges Klanguniversum, das den allzu feierlichen, larmoyanten oder undifferenziert gefälligen Charakter vermeidet und auch Kanten und Reibungen nicht scheut, doch stets organisch dem atmenden Puls folgt. Auch in komplexen Passagen achtet Helgath auf Transparenz und architektonische Klarheit. Er ordnet, schichtet und verbindet die Klangströme und Melodielinien zu einem Gewirk, reich an Farben, Konturen, Dynamik. Reich an Licht und Schatten. Wucht und Größe werden hier nicht mit Pathos und Behäbigkeit gleichgesetzt.

Wie drückte Clara Schumann in einem Brief an Brahms vom Jänner 1867 doch ihre Begeisterung für das Werk aus: «[...] es ist ein ganz gewaltiges Stück. Ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend. Ich kann’s, wie Du weißt, nie so recht in Worte fassen...»


Uns geht’s ähnlich, und so lassen wir’s hiermit gut sein, stimmen aber in den enthusiastischen Applaus für die ergreifende Interpretation aller Beteiligten ein.

21. 10. 2023



Weitere Beiträge finden Sie hier

P. S. Falls Sie das hochromantische Eingangsbild von C. D. Friedrich anspricht, sei Ihnen die entsprechende Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur empfohlen (bis zum 19. 11. 2023).



bottom of page