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Haydns Handys


Joseph Haydn – WPAP


Das großzügige Foyer des Basler Theaters (um das die Zürcher die Basler nur beneiden können!) ist rappelvoll. Man sitzt auf den Stufen, hockt auf dem Boden, drängt sich auf den Balkonen – für die Feuerwehr muss es ein Albtraum sein. An der Stirnseite der Halle wurde ein schnuckeliges Guckkastentheater aufgebaut, nachempfunden den Papiertheatern, wie sie im 19. Jahrhundert in den Wohnzimmern des Bildungsbürgertums zur Ergötzung und Erbauung standen. Hier soll der erste Teil von Joseph Haydns «Schöpfung» stattfinden.

Haydn komponierte dieses, sein wohl populärstes Oratorium zwischen 1796 und 1798. Inspiriert dazu wurde er auf seinen beiden Reisen nach England, wo er die Oratorien Händels zu Gehör bekam. Zwar hatte er bereits in Wien damit Kontakt gehabt – man denke beispielsweise an Mozarts Bearbeitung des «Messias», die er auf Anregung Gottfried van Swietens 1789 vorgenommen und aufgeführt hatte. Auch Haydn selbst hatte 1793 bereits Händels «Alexander’s Feast» in Wien dirigiert. Doch nach seinem Besuch auf der Insel konkretisierte sich sein Vorsatz, Ähnliches in seinem sprachlichen und musikalischen Idiom zu schaffen, hatte er doch eine entsprechende Textvorlage, basierend auf der Genesis und John Miltons «Paradise Lost», aus London mitgebracht. Auf dieser Grundlage lieferte ihm der besagte Baron van Swieten, ein ambitionierter Homme de lettres, eine deutschsprachige Vorlage und gleichzeitig auch eine Fülle von kompositorischen Anregungen. Für die spätere Zusammenarbeit an den «Jahreszeiten» erwiesen sich Swietens Vorschläge allerdings als allzu imperativ, was zu zeitweiligen Zerwürfnissen zwischen Komponist und Librettist führte, den Erfolg des Werks allerdings keineswegs schmälerte. Äußerst erfolgreich war auch die Uraufführung Ende April 1798 unter Leitung des Komponisten im Palais Schwarzenberg und ein Jahr später am Burgtheater – diesmal mit der von Haydn intendierten großen Besetzung und, notabene, Salieri am Cembalo.

Swietens Text ist durchdrungen vom aufklärerischen Gedankengut seiner Zeit; christlich zwar, aber keineswegs kirchlich; der strengorthodoxe Klerus beanstandete doch tatsächlich die Aufführung in Gotteshäusern. Das Gottesbild, das hier entworfen wird, ist dasjenige eines Baumeisters, eines Ingenieurs, eines Demiurgen, der die Welt planvoll entstehen ließ, indem das Chaos über die sich strukturierende Materie allmählich zum höher und höchst entwickelten Lebewesen evolviert. Nachher soll die Welt ohne «göttliches» Zutun funktionieren. Hierzu wurde eigens der Mensch eingesetzt; vernunftbegabte Wesen, die diese Welt tätig nutzen und regieren sollten – wenn falscher Wahn sie nicht verführte, noch mehr zu wünschen und zu wissen... Der biblische Sündenfall wird ausgespart, hinfällig daher auch ein erlösender Messias.

Somit können auch Agnostiker, Atheisten und knallharte Wissenschaftler dieser Erzählung etwas abgewinnen und vielleicht sogar dem «Wunderwerk» staunend gegenüberstehen, wie es die vielen Chöre der himmlischen Heerscharen – einmal aufklärerisch gar als «Himmelsbürger» bezeichnet! – nahelegen. Und so betrachtet, darf man dem Schöpfungsmythos auch aus kosmologischer Sicht durchaus Aktualität und Relevanz zusprechen. Auch die Moral von Tüchtigkeit und Arbeit, das Ethos von Schaffenskraft und Gestaltungswille, das Credo von Machbarkeit sind bis heute Teil menschlichen Daseins. Ja, natürlich gibt es auch jene für uns Heutige schwer goutierbare Stelle, da Eva, hold lächelnd, sich dem Willen Adams als «Mann und König der Natur» unterordnet. Da weht der Zeitgeist unverhohlen. Im folgenden wunderbaren Duett (Nr. 32) begegnen sich die beiden jedoch absolut auf Augenhöhe. Vor allem sollte uns dieser blinde Fleck und die mitunter etwas gestelzte, pathetische Sprache nicht die Sicht auf den tatsächlichen Gehalt und die zahlreichen, wunderbar anschaulichen und poetischen Bilder trüben – Ferner: Wie viele Opernlibretti müssten ebenfalls in Ungnade fallen!


Die Musik des Mittsechzigers dagegen atmet eine unerhörte Frische und Originalität, die weit über das Schema des traditionellen Oratoriums hinausreicht und in ihrer Bildhaftigkeit die Zuhörer sofort ansprach. Und es noch immer tut. Hörend sehen wir den Regen prasseln, die Blitze zucken, die Schneeflocken tanzen... Wir atmen Blumenduft, ergötzen uns an der Vielfalt der Tiere – Biodiversität bis hin zum Heer der Insekten und dem kriechenden Gewürm...

Haydns Schöpfungs-Musik – «hoch gschriebn, und doch verständlich dabey», wie ein Zeitgenosse meinte – bezaubert durch ihre Unmittelbarkeit, was sie wie Mozarts «Zauberflöte» für Projekte mit Kindern und Jugendlichen auszeichnet. Hier liegt auch der Ansatz für das Basler Partizipationsexperiment zwischen Theater und Schule. Der belgische Regisseur Thomas Verstraeten hat die ersten beiden Teile, also ohne den kontemplativen dritten Teil im Garten Eden, rund achtzig Schülerinnen und Schülern der Gymnasien Muttenz und Oberwil anvertraut, die im letzten Jahr offenbar beide ihr 50-jähriges Bestehen feierten. Dazu hat der Arrangeur Daniel Brenner eine Kurzfassung erstellt, die sich in erster Linie am verfügbaren Instrumentarium orientiert: neben Oboe, Flöte, zwei Violinen auch Klavier, Marimba, Gitarre, Saxophon und Akkordeon. Zusammen ergibt das einen ziemlich vorwitzigen und, da Bassinstrumente fehlen, speziell hellen Sound. Auch kleinere vokale Abschnitte werden beherzt und unbekümmert vorgetragen, solistisch oder als weißgewandeter Engelchor, der auch als Kulissenschieber fungiert. Wie im Original, auf Gottes Wort, beleben Papp-Wellen und Karton-Land die herzige Bühne; Sonne, Mond und flotter Blitz treten auf. Plakativ, plastisch und grellbunt, ganz so, wie es der barocken Theaterästhetik entspricht (oder dem pädagogisch wertvollen Kindertheater). Später kommen Blumen und ein Baum dazu, dann Leviathan, der dickbäuchige Wal, der brüllende Löwe, das blökende Schaf, der zackige Hirsch... Schliesslich, festgehalten vom Pulk der Handys, die Erschaffung des ersten Menschen. Natürlich kein Mann, sondern ein schillerndes Zwischenwesen, alles ironisch gebrochen und von Sietske van Aerde mit fantasievollen Kostümen ausstaffiert, die auch zur Streetparade oder zur Fasnacht taugen würden.

Mr. Haydn Goes to Town

Nach einer guten halben Stunde ist das Spektakel vorbei, die junge Truppe verzieht sich stadtwärts, wie wir später durch eine Flut von Handyvideos erfahren werden, während wir, das Publikum, unsere Plätze im Saal einnehmen. Doch bevor Dirigent Jörg Halubek den Taktstock hebt, gewährt der Screen, der bühnenfüllend über einer Art Regieraum oder Kontrollzentrum mit Computern und Mischpulten hängt, Einblick in die Theatergarderoben. Dort ist das Jungvolk zugange. Feixend, grimassierend, palavernd, posierend, blödelnd. Hauptrequisit: Smartphone. Medium: Liveclips. Gehalt: -?-


Nicht, dass die Bilderflut aufhörte, aber immerhin übernimmt jetzt das Ohr anstelle des strapazierten Auges. Es erklingt das schleichende, tastende Chaos. Und wie es erklingt! Mit einem suggestiven Tutti-Akkord, gemeißelt von trockenen Paukenschlägen, geformt von äschneidenden Streicherklängen. Dann die ersten Worte des Bassisten Alex Rosen: «Im Anfange...» Mit dunkel timbrierter, angenehm fließender Stimme, mitunter etwas manieriert artikulierend, als wolle er den Text ironisieren, passt er gut zur Rolle des Raphael als Historicus, aber ebenso zum bedächtigen Adam im 3. Teil. Strahlendes Licht in die Düsternis zündet bereits mit seinem ersten Einsatz der helle, agile Tenor von Ronan Caillet als Uriel. Und als er bei der Menschwerdung das Bild des Mannes «mit Würd’ und Hoheit angetan» kraftvoll besingt, mischt sich als augenzwinkernder Kommentar ein Akkordeon in den Orchesterklang – Haydn mit seinem Flair für überraschende Effekte hätte es sicherlich mit Schmunzeln gebilligt. Komplettiert wird das ausgezeichnete Solistentrio durch Álfheiður Erla Guðmundsdóttir. Im Gegensatz zur schlank geführten Stimme als Gabriel rundet sie später als Eva ihren unangestrengt schwebenden Sopran mit weicheren, sinnlicheren Farben.

Ronan Caillet (T) Álfheiður Erla Guðmundsdóttir (S) Alex Rosen (B)


Nicht nur begleitend, sondern quasi als weiterer Protagonist agierend, kommentierend und malend, präsentiert sich das Barockorchester «La Cetra», das mit einer intensiv leuchtenden, subtil abgestimmten Farbpalette begeistert und immer wieder mit fantasievoll ausgezierten Rezitativen und kleinen Soli überrascht. Uneingeschränktes Lob auch dem Chor, der, links und rechts im Orchestergraben postiert, das Geschehen machtvoll und zugleich atmosphärisch differenziert unterstreicht.


Während im Theater Tag um Tag die ideale Welt erschaffen wird, schaffen sich die Teenies nun draussen im abendlichen Basel ihre eigene reale Welt, die hart mit Haydns klingendem Universum kollidiert. Die unternehmungslustige Clique durchstreift die Stadt auf der Suche nach – ja, wonach eigentlich?

Jedenfalls ist das Smartphone allzeit treuer Begleiter. Damit werden pausenlos Clips und Selfies ins Theater geschickt, welche über die Leinwand flackern. So können/dürfen/müssen wir erfahren, was sich draussen tut: Besuch im Supermarkt für ein paar Snacks. Partytime in einem Club. Schneller Drink an der Bar. Zügige Kickboardfahrt. Halbherziger Strip vor einem Denkmal... Eine ungefilterte, zum Teil banale Bilderflut, die in irritierendem, mitunter gar störendem Kontrast zur wunderbaren Musik steht – eigentlich sollte die Jungen im Gegenzug über Kopfhörer auch «unsere» Musik aus dem Saal mitbekommen: Wie würde das ihr Verhalten, ihre Emotionen beeinflussen? War nicht vorgesehen, wie auch grundsätzlich die Absicht des Experiments eher diffus bleibt. Spätestens bei der Begegnung mit einem Strassenapostel (ein Schauspieler!) und einem magischen Unterwasserballett beginnt es uns zu dämmern: Der Live-Charakter ist doch nicht ganz so spontan. Was Zufall, was arrangierter Effekt?


Draussen ist es Nacht geworden und drinnen der Mensch «zur lebendigen Seele». Mann und Weib. Auch in der Realität haben sich zwei Menschen, Frau und Frau, gefunden. In einer boxartigen Studentenbude, die sich aus dem Schnürboden herabsenkt, verbringen die beiden eine heiße Nacht und, als der «junge Morgen aus Rosenwolken bricht», genehmigen sich die beiden Verliebten ein Frühstück mit Müesli und Hafermilch – nein, kein Werbespot! Noch ist alles eitel Wonne, aber jetzt rückt sogar eine echte Schlange und der ominöse Apfel ins Bild, und man ahnt, das wird nicht gut enden... Doch nun öffnet sich eine Bodenklappe, die beiden klettern auf die Bühne herab, wo sich mittlerweile alle Mitwirkenden – die Profis vom Theater und die Schüler – zur versöhnlichen Schlussapotheose zusammenfinden. Und noch einmal Handy hoch! Jetzt, zum Applaus, auch im Publikum! Sein und Schein werden eins, die Grenzen zwischen analoger Realität und digitaler Fiktion fallen zusammen – rein technisch eine bewundernswerte Meisterleistung. Für bewundernswert wenig Inhalt.


Ach ja, einmal wurde auf dem nächtlichen Stadtbummel ein roter Sticker an einen Laternenpfahl geklebt: «Grève du Climat» – War das die Aussage dieses Abends? Man wüsste da noch noch ein paar weitere...

Eva und Eva beim Müesli Bilder: Screenshots und @Theater Basel – Judith Schlosser



24.04.2023

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