Es kommt nicht allzu oft vor, dass man in einem Konzert mit bekannten, ja, vertrauten Werken das Gefühl hat, etwas Neues zu hören. In einem Konzert des Kammerorchesters «I tempi» ist mir das unlängst passiert, und ich muss gestehen, dass ich nicht einmal das Orchester gekannt habe, was sich nun schlagartig ändert!
@ Bild: Giorgia Bertazzi
«I tempi» – der Name hat natürlich nichts mit der Zeit oder den Zeiten zu tun. Auch nicht mit dem Wetter. Sondern er inspiriert sich sicherlich am italienischen Ausdruck tempi, was dem deutschen Begriff Satzbezeichnung oder dem französischen Mouvement entspricht. Gegründet wurde die in Basel ansässige Formation Anfang 2013 von Gevorg Gharabekyan. Im Mai erfolgte dann bereits das erste Konzert mit Adelina Oprean als Solistin, bei der Gharabekyan Geige studiert hatte, bevor er sich bei Ralf Weikert auch als Dirigent ausbilden liess.
Seit seinem Bestehen folgt das Ensemble dem künstlerischen Credo, die Trennung von barockem und modernem Orchester aufzuheben. Musiziert wird also auf historischen Darmsaiten und moderner Bespannung – situativ, je nach Werk und in keinem Fall einem dogmatischen Zwang folgend. Oberstes Kriterium ist vielmehr die Authentizität, die Suche nach einem dem Werk adäquaten Klangbild. Und das ist naturgemäss völlig unterschiedlich bei J. S. Bach oder Helena Winkelmann, der Schaffhauser Komponistin, von der 2023 ein Auftragswerk, ein Trompetenkonzert, aufgeführt werden soll
Gegenwärtig haben sich «I tempi» auf einen Zyklus aller neun Sinfonien Beethovens eingelassen unter dem etwas ambitionierten Titel «Beethoven update». Mittlerweile sind sie bei der Dritten angelangt, kombiniert mit Mozarts «Zauberflöten»-Ouvertüre und Sibelius’ Violinkonzert in d-Moll. Man habe sich bei der Zusammenstellung vor dem Hintergrund eines schrecklichen Krieges vom humanistischen Gedankengut inspirieren lassen, das diesen Kompositionen zugrunde liegt. Für die «Zauberflöte» und die «Eroica», deren Entstehungsphasen rund ein Jahrzehnt auseinander liegen und die beide von der Hoffnung auf eine friedliche, gerechte Welt, basierend auf der Losung der Grande Révolution, geprägt sind, mag das einleuchten – Mozart war Freimaurer, Beethoven stand deren Ideologie zumindest nahe. Wie aber gilt das für das Konzert des grossen Finnen, das ein rundes Jahrhundert später entstanden ist?
Das Programmheft hilft auf die Sprünge: Jean Sibelius war eines der Gründungsmitglieder der ersten finnischen Freimaurerloge «Suomi loosi No. 1», die 1922 in Helsinki errichtet wurde, nachdem die masonische Tätigkeit während rund sechs Jahrhunderten unter schwedischer Fremdherrschaft gestanden hatte. Im 19. Jahrhundert bis zur Oktoberrevolution 1917 war die Freimaurerei unter zaristisch-russischer Herrschaft verboten gewesen.
Unter Sibelius’ letzten Kompositionen um 1930 finden sich tatsächlich einige freimaurerische Ritualmusiken. Das d-Moll-Konzert für Violine, das das solistische Zentrum des Abends bildete, ist jedoch bereits 1903 und – in einer zweiten Fassung –1905 entstanden. Die Uraufführung der Erstfassung von 1904 war offenbar ein Desaster, obwohl Sibelius, selbst Geiger, mit den Möglichkeiten des Instruments bestens vertraut war. Zugedacht war das Werk ursprünglich dem deutschen Geigenvirtuosen Willy Burmester, der es in Berlin hätte aus der Taufe heben sollen. Aus finanziellen Gründen wurde es dann aber doch in Helsinki uraufgeführt, aber mit einem anderen Geiger, der offenbar den enormen technischen Anforderungen nicht gewachsen war, worauf es der Komponist überarbeitete und konziser fasste, um es 1905 mit dem böhmischen Virtuosen Karel Halíř unter Richard Strauss in Berlin zur Aufführung zu bringen, diesmal erfolgreicher. Burmester fühlte sich wohl nicht ganz zu Unrecht erneut übergangen und weigerte sich fortan, das Werk jemals aufzuführen. Den eigentlichen Durchbruch schaffte das Konzert dank Virtuosen wie Heifetz und Oistrach und behauptet so seinen festen Platz unter den wichtigsten Violinkonzerten des 20. Jahrhunderts.
Christian Tetzlaff, Mitte fünfzig, ist mit Sibelius¨ einzigem Violinkonzert bestens vertraut, hat er es doch bereits zweimal auf CD eingespielt, 2002 und 2019. Von Routine jedoch ist nichts zu spüren; Tetzlaff nimmt uns mit seinem suggestiven, erzählerischen Geigenton mit auf eine musikalische Fahrt. Schon der aussergewöhnliche Pianissimo-Beginn – Allegro moderato – lässt uns gleich auf die vordere Stuhlkante rutschen. Über dem sordinierten Tremolo der 1. und 2. Geigen zaubert der Solist eine unendlich zarte Kantilene; ein Anfang, der nicht nur Tetzlaffs Meisterschaft zeigt, sondern ebenso seine Risikobereitschaft, den Ton aus dem Nichts entstehen zu lassen. Später besticht der Solist mit schwerelosem und doch klar fokussiertem Spiel, das Intensität und Gehalt über den reinen Wohlklang stellt. Unerschrocken wird das breite dynamische Spektrum ausgekostet, und das Orchester zieht flexibel mit, was zu einer überzeugenden Balance zwischen konzertant und orchestral führt. Beeindruckend sodann die nuancierte Farbgebung und die atmende Agogik der Solovioline, was – ganz besonders im lyrischen Mittelsatz Adagio di molto – nicht zum gefühligen Brei wird, sondern Klarheit, gepaart mit Wärme und romantischen Zauber im besten Sinn, ausstrahlt. Und sich mühelos – nicht gegen, sondern mit – den Holzbläsern im beseelten Dialog findet. Der letzte Satz wird je nach Sichtweise als «Polonaise der Eisbären» bezeichnet oder, so sah es Sibelius selbst, als Dance macabre – wie auch immer, Tetzlaff lässt seiner stupenden Technik freien Lauf: fulminante Brillanz ohne Effekthascherei, sehr persönlich gefärbt, aber doch ganz im Dienst der Musik. Als Zugabe entführte der Künstler mit der Sarabande aus Bachs 2. Partita in d-Moll in ein ganz anderes Universum: eine hochsensible Meditation, die Zeit und Raum vergessen liess.
Umrahmt wurde das spätromantische Solistenkonzert von den beiden Klassikern. Mozarts Ouvertüre zu seiner zweitletzten Oper «Die Zauberflöte», offenbar als letztes Stück der Oper, nur wenige Tage vor deren Uraufführung am 28. September 1791 komponiert, machte den Anfang. Freilich ist die Ouvertüre nur schon durch den einleitenden dreifachen Bläserakkord im Tutti, der sich vor der Durchführung in leichter Abwandlung und nun als freimaurerisch-ritueller Bläserklang wiederholt, an den Inhalt und die Atmosphäre der anschliessenden Oper gebunden; freilich evoziert der Wechsel zwischen statisch feierlichen und fugiert bewegten Abschnitten auf den zentralen Prüfungsweg hin, dennoch hat diese Ouvertüre stärker als Mozarts andere Opernvorspiele den Charakter eines in sich geschlossenen sinfonischen Satzes, eines der «kunstvollsten Sätze der Wiener Klassik» überhaupt (Stefan Kunze). Seine Monumentalität, sein Pathos und die Tonart Es-Dur schaffen zudem einen klug gedachten Bogen zur weiten «Humanitätsmusik», die den Abend beschliessen wird, der «Eroica».
Nach einer Aufführung in privatem Kreise 1804 – was man aufgrund einer Gagenabrechnung unter anderem für einen zusätzlichen unüblichen dritten Hornisten eruieren konnte! – wurde die Sinfonie im Frühling1805 erstmals öffentlich im Theater an der Wien gespielt, wo Ende des gleichen Jahrs auch «Fidelio» uraufgeführt wurde. Bekannt ist ebenfalls, dass Beethoven ursprünglich beabsichtigt hatte, das Werk Napoleon Bonaparte zu dedizieren, über dessen Selbstkrönung zum Kaiser jedoch dermassen enttäuscht war, dass er die Widmung zurücknahm und neutraler formulierte «Sinfonia eroica, composita per festeggiare il sovvenire di un grand’uomo» und seinen Gönner Fürst Lobkowitz als Widmungsträger einsetzte.
Die Uraufführung soll gemäss zeitgenössischen Berichten das Publikum ratlos und irritiert zurückgelassen haben. Die Aufführung im Saal des Zürcher Konservatoriums hatte eine vergleichbare Wirkung – allerdings mit positiven Vorzeichen! Gevorg Gharabekyan und das gut vierzigköpfige Kammerorchester «I tempi» schaffen mit ihrem wachen, alerten, federnden Musizieren (für die beiden Klassiker teilweise mit leichteren Bogen gespielt, aber im Hinblick auf Sibelius mit moderner Besaitung) ein äusserst plastisches Klangbild. Die Akzente sitzen präzis, selbst das heikle Horn-Trio im Scherzo klingt perfekt, oder fast. Das Spiel mit der Farbpalette ist beachtlich – etwa im berühmten Trauermarsch. Unzählige kleine, oftmals überhörte Details gewinnen Schärfe und Kontur. Sie machen auch die unerhörte Neuartigkeit der Komposition deutlich.
Spielfreude und der Wille zum gemeinsam durchgestalteten Ganzen machen die oft gehörte Sinfonie – und ebenso die mozartsche Ouvertüre – zum beglückenden Erlebnis. Ein Ensemble, das sich mit Sorgfalt, Authentizität und nicht zuletzt mit toller Programmierung auf die vorderen Plätze spielt. Jedenfalls wird man sich die nächsten Konzerttermine merken: www.itempi.com.
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