top of page

Aus himmlischer Harmonie...


Einen Tag vor dem eigentlichen Datum, dem 22. November, – aber was ist schon ein Tag mit Blick auf rund 1800 Jahre? – luden die Zürcher Sing-Akademie und das historisch informierte Ensemble «La Scintilla» der Zürcher Oper zu einem außergewöhnlichen Konzert in die Stauffacher Kirche St. Jakob. Aussergewöhnlich, was Ausführung und Interpretation betrifft. Aussergewöhnlich auch bezüglich der Programmgestaltung mit dem Titel «Ode an Cecilia». Also (fast) passend zum Namensfest der Patronin der Musik, insbesondere der Kirchenmusik. Zudem liegen Gestalt und Wirken, die sogenannte Vita der musikalischen Heiligen ja eh im Dunkel. Ob sie überhaupt je gelebt hat. ist ungewiss. Aber musiziert hat sie mit Sicherheit, und zwar himmlisch! So ist es durchaus am Platz, der frühchristlichen Märtyrerin ein paar Zeilen zu widmen.


Frühen kirchlichen Zeugnissen aus dem 5. Jahrhundert folgend, vor allem aber gemäss der «Legenda Aurea», verfasst von einem Dominikanermönch im 13. Jahrhundert, lebte Cäcilia, Tochter einer erlauchten christlichen Familie, im 3. Jahrhundert in Rom. Als junge Frau sollte sie einem Jüngling namens Valerianus angetraut werden. In der Hochzeitsnacht gestand sie dem Bräutigam ihr Gelübde zur Jungfräulichkeit. Offenbar so überzeugend, dass auch er und sogar sein Bruder sich zum neuen Glauben bekehrten. Im Umfeld der drakonischen Christenverfolgungen wurden die beiden Männer enthauptet, Cäcilia dagegen sollte in den heissen Dämpfen einer Therme den Erstickungstod erleiden. Sie überstand die Tortur und wurde dem Scharfrichter überantwortet, dem es auch nach drei Schlägen nicht gelang, ihr das Haupt vom Rumpf zu trennen. Blutend überlebte sie drei Tage, liess ihre gesamte Habe unter die Armen verteilen und verstarb. Über ihrem Grab wurde ein Gotteshaus errichtet, das nach vielen Vorgängerbauten noch heute in Gestalt einer Basilica minore existiert: Santa Cecilia in Trastevere.


Raffaello (1514): Interessant in seiner Darstellung, dass Cäcilia die Irdischen Instrumente am Boden gering achtet und auch die Orgel sinken lässt; ihre Hingabe richtet sich auf die himmlische Musik, die die andern nicht zu hören scheinen.

Musikerin wider Willen

Dargestellt wird die fromme Cäcilia meist mit einer tragbaren Orgel, einem Portativ. Zum Instrument – manchmal auch eine Zither oder ein Streichinstrument – ist sie tatsächlich wie die Jungfrau zum Kind gekommen. In der frühen Überlieferung schenkte sie der Musik, die zu ihrer Hochzeit aufgespielt wurde, nämlich keinerlei Beachtung. Im Gegenteil, sie bekräftigte «in ihrem Herzen singend», das heisst: betend ihr Gelübde zur Keuschheit. In der Überlieferung vollzog sich über die Jahrhunderte eine ebenso plausible wie amüsante Inhaltsverschiebung: Die zeitliche Angabe «während die Instrumente spielten» kann grammatikalisch auch als Instrumentalis «die Orgeln spielend» interpretiert werden; aus dem Gebet zu Gott wurde der Gesang für Gott, zumal Musik für die Ikonographie um einiges ergiebiger ist.


Wie auch immer: Cäcilias Himmelsmusik inspirierte durch die Jahrhunderte Musiker, Dichter, bildende Künstler zu Meisterwerken. Chöre, musikalische Institutionen (und Primadonnen!) tragen ihren Namen, sogar Heinrich von Kleist schrieb eine Novelle über die Gewalt der Musik. Womit die Kurve zum besagten Konzert geschafft ist.


Auftakt macht die Sinfonia zu Henry Purcells «Ode for St. Cecilia’s Day» von 1692. Unter dem Dirigat von Florian Helgath, dem Künstlerischen Leiter der Sing-Akademie, lässt die «Scintilla» buchstäblich die Funken sprühen: Über dem in intensiven Farben leuchtenden Klangteppich ziehen die beiden Trompeter gleissende Kometenbahnen; die Pauken, mit Holzschlegeln bespielt, unterstreichen den prachtvoll strahlenden Festcharakter dieser Eingangsmusik.

Dann tritt der Chor auf. Gemessenen Schrittes, von hinten auftretend, bewegt er sich links und rechts an den Zuhörerreihen vorbei, um vorne im Chor Aufstellung zu nehmen. Während ihres Auftritts summen, grummeln, brummeln die Sängerinnen und Sänger in tiefer Lage vor sich hin, so dass ein irisierendes Klanggespinst entsteht, ein wenig an gregorianischen Gesang erinnernd, jedenfalls unerhört suggestiv und geheimnisvoll. Unmerklich, wenn die Akademisten ihre Plätze erreicht haben, geht es über in den Chorklassiker «Mouyayoum» des schwedischen Komponisten Anders Hillborg (*1954). Sein Stück für 16-stimmigen gemischten Chor, entstanden 1983/85, verzichtet, vergleichbar einer Vokalise, auf jegliche semantisch konnotierte Aussage. Die Musik, wird der Komponist im Programmheft zitiert, verdecke oft den Text – und umgekehrt (selbst Opernkenner werde das eingestehen!). So entwickelt sich denn eine am Obertongesang orientierte Tongebilde aus Klangschichten, die sich über länger Zeiträume hinweg etablieren, überlagern, amalgamieren und wieder auseinanderdriften. Vokale, mitunter auch skandierte Silben, repetitive Klangformeln ballen sich und verebben, erfahren akzentuierte Aufruhr und dynamische Zuspitzung und schaffen so einen unerhört reichen Sound – quasi Chorkunst reduced to the max. Dabei zeigt sich die stupende Qualität des 32-köpfigen Ensemble: Präzision, Flexibilität und Intonationssicherheit. Nach gut zwölf Minuten ist der Zauber vorbei und man erwacht wie aus einer anderen Welt.


Den wiederum praktisch nahtlosen Fortgang mit vertrauteren, aber nicht minder eindrücklichen Klängen schafft sodann Händels «Ode for St. Cecilia’s Day». Der Komponist präsentierte das Werk erstmals zur Eröffnung der Londoner Theatersaison am Cäcilientag 1739, nachdem er sich in den Jahren zuvor, genötigt durch den Publikumsgeschmack und finanzielle Zwänge, allmählich von der italienischen Oper abgewandt und dem englischen Oratorium zugewandt hatte. Als Textvorlage diente ihm das vielstrophige Poëm von John Dryden von 1687, auf das sich bereits Nicholas Brady für seinen Textvorlage für Purcell knapp fünfzig Jahre zuvor gestützt hatte.


Gestrichen und geblasen, gezupft und geschlagen

Erstaunlich allerdings, dass die Gestalt der Namenspatronin erst sehr spät, als Schöpferin der Orgel, erwähnt wird. Zuvor geht es um nichts weniger als die Entstehung der Welt aus der Sphärenharmonie. In der Folge wird den einzelnen Instrumenten gehuldigt und schliesslich dem Instrument aller Instrumente, der menschlichen Stimme, die bei Orpheus ihren ersten vollkommenen Ausdruck fand. Händel nutzt die anschaulichen Schilderungen, indem er dem Text die entsprechenden Instrumente gegenüberstellt. Etwa das Cello (Claudius Hermann) in Nr. 5, wo der Einfluss der Musik auf die menschlichen Leidenschaften besungen wird. In Nr. 6 ruft die virtuose Trompete (Markus Würsch) zum Gefecht. Liebesschmerz, beklagt durch Flöte (Ruth Daniela Pereira Fernandes) und die Theorbe (Rosario Conte), ist Thema von Nr. 8. In Nr. 9 kündet die schrille (sic!) Geige (Monika Baer) von Eifersucht und Stolz. Nr.10 verlangt gar eine obligate Orgel (Johannes Strobl), was schon Händel mit Sicherheit für improvisatorische Exploits nutzte.


Ob solistisch oder im Tutti, die «Scintilla» lässt keine Wünsche offen: ein an allen Pulten waches und energetisches Musikzieren auf höchstem Niveau, das sich ideal mit dem alerten, frischen Chorklang verbindet. Nahtlos in dieses beglückende Musizieren fügen sich die beiden Gesangssolisten. Der bei aller Wärme, schwerelose und lichte Sopran von Christina Landshamer eignet sich vorzüglich für dieses Repertoire; die Sängerin ist ja oft auf Opernbühnen tätig, auch die Cäcilien-Ode, nicht für liturgischer Kontext geschaffen, trägt stellenweise opernhafte Züge. Werner Güras heller Tenor überzeugt gleichermassen mit Flexibilität wie mit Durchschlagskraft, was in der effektvollen Arie «The trumpet’s loud clangor» besonders prächtig zur Geltung kommt.

Nachdem die Sopranistin die Gestalt des mythologischen Sängers evoziert hat, der zu einer tänzerischen Hornpipe die Natur verzaubert ( Nr. 11), passiert die zweite irritierende und doch höchst reizvolle Überraschung: Fast fugenlos wird an dieser Stelle Benjamin Brittens «Hymn to St Cecilia» eingeschoben. Das dreiteilige Chorwerk,1942 entstanden, ist eine dreimalige Anrufung der Heiligen mit der Bitte um Inspiration. Am Anfang und dazwischen steht eine Schilderung der Ängste und Leiden, denen die Menschen, vor allem auch Kinder ausgesetzt sind – in der damaligen Situation des 2. Weltkriegs und ganz grundsätzlich durch die existentielle Bedrohung der conditio humana. Für sie alle ist Musik eine Quelle der Kraft und des Trosts. Britten – übrigens am 22. November (!) 1913 geboren – orientiert sich zwar am bewunderten Vorbild Purcell, geht aber einen eigenständigen Weg. Der barocken Tradition der Cäcilien-Oden entsprechend, werden im III. Teil ebenfalls einzelne Instrumente erwähnt, deren Klang von Chor-Soli aus verschiedenen Stimmregistern beschrieben werden. Wiederum überzeugt der präzise Chorklang mit fein abgestufter Dynamik und stets gewahrter Transparenz. Bemerkenswert innerhalb des weitgefächerten Tonspektrums: Selbst in exponierten Lagen klingen die hohen Stimmen nie schrill, derweil die Bässe auch in tiefen Lagen Kontur und Plastizität bewahren. Die Professionalität des Chores, jetzt a-capella, ist unüberhörbar.


Nach diesem Einschub folgen die beiden Schlussnummer aus Händels Ode: die Lobpreisung Cäcilias als Erfinderin der Orgel. Und die anschliessende Schlussfuge des Chors, die den Zerfall des Orbits am Jüngsten Tag thematisiert– «and Music shall untune the sky»... Doch wir, wir genossen anderthalb Stunden Musik, vielfältiger, dichter und anregender wie sie nicht sein könnten!




Weitere Beiträge finden Sie unter INDEX

bottom of page