Den Milchmann kennenlernen
- Bruno Rauch
- 19. März
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. Apr.

In memoriam Peter Bichsel (1935–2025)
Wer kennt sie nicht, Peter Bichsels wunderbar skurrile Geschichte von Frau Blum, die eigentlich den Milchmann kennenlernen wollte? Jetzt, da der kauzige, kritische und jederzeit mit Gewinn wieder zu lesende Schriftsteller gestorben ist, kam mir eine kleine Begebenheit in den Sinn. Sie liegt zwar schon etliche Jahre zurück, hat sich aber wirklich so zugetragen und mir fast eine frühmorgendliche Begegnung mit dem Milchmann verschafft, wie sie in Bichsels Erzählung – eben nicht! – passiert.
Wir wohnten damals in einer urbanen Randbebauung um einen Innenhof mit ganz unterschiedlichen Anrainern – Kleingewerbe, Garage, Quartierbeiz, Kinderkrippe...
Es war noch dunkel. Kaum halb fünf. Schlaftrunken versuchte ich zu ergründen, was mich zu derart nachtschlafener Zeit geweckt hatte. Wieder drang es durchs offene Fenster an mein Ohr: Ein dumpfes Scheppern wie von metallenen schweren Behältern, die über den Asphalt gewuchtet und geschleift werden. Dann ein saugendes Schmatzgeräusch, das entsteht, wenn man den Deckel von einem Kessel abzieht. Dazu das Plätschern und Schwappen einer Flüssigkeit, die aufgerührt, umgefüllt, ausgeleert wird…
Gewiss ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie durch Gerüche oder Geräusche an Situationen erinnert wurden, die Sie längst vergessen glaubten. Vergangenheit, die ganz weit hinten in der Erinnerungsschublade dahindämmert und jetzt mit einem Schlag farbig und frisch vor uns steht, als wär's gestern erst gewesen.
Genau das bewirkte das unzeitige Bullern, das mich brutal aus meinen Morgenschlummer gerissen hatte.

Zwar nicht «unser» Herr Grob, aber ein ebenso tüchtiger Milchmann ( © Sozaiarchiv)
Urplötzlich erstand er vor meinem geistigen Auge: Unser Milchmann! Grob, Ernst Grob mit Namen, den ich als kleiner Junge oft durch die Ritzen der Fensterläden ausspioniert hatte. Allmorgendlich brachte er die Milch in unser Quartier. Zuerst mit einem simplen Handwagen, später mit einem motorisierten Transportgefährt. Ich sehe ihn wieder vor mir in seiner blau-weiß gestreiften Uniformjacke, hinter dem Ohr einen roten Bleistift – oder war's ein gelber? Je nach Witterung trug er einen Gummimantel und auf dem allzeit pomadisierten messerscharfen Scheitel einen dunklen Filz. Und immer mit Krawatte und weißer, bodenlanger Schürze. Proper und zuverlässig machte Milchmann Grob seine Tour und ließ sich weder von Schnee noch Regen schrecken.
Schwungvoll tauchte er jeweils sein Maß in die Kanne – damals war die Milch noch nicht viereckig – und ließ sie in die blechernen oder emaillierten Kesseli und weißgetupften Krüge rauschen, die man am Vorabend im Milchkasten bereitgestellt hatte. Da und dort legte er gemäß Order ein «Mödeli Anke» dazu und notierte alles mit akkuraten Zahlen im speckigen Heft, das ebenfalls im Kästchen bereit lag. Von Zeit zu Zeit schüttete er den Rest der halbleeren Kannen zusammen, verquirlte den obenauf schwimmenden Rahm mit einer Art riesigem Schwingbesen, dass es nur so gurgelte und schäumte. Die leeren Kanister ließ er in Schräglage mit gekonntem Dreh über den Boden tanzen, um sie hinten wieder auf sein Fahrzeug zu hieven. Manchmal wurde er bereits von einigen Frauen in Morgenmantel und Pantoffeln erwartet. Sie ließen sich zusätzlich einen Deziliter Rahm abmessen oder gaben eine besondere Bestellung für den nächsten Tag auf.

Mitte der 1950er Jahre stellte der wackere Mann die Hauslieferung ein wie alle seine Kollegen in der Stadt. Übrig blieb das Milchkästchen, das bei uns noch immer so heißt, obwohl es inzwischen längst vom Postboten und vom Zeitungsverträger, von Zalando & Co. annektiert worden ist.
Solch liebliche Erinnerungen gingen mir durch den Kopf, als ich im Pyjama im Dunkeln ans Fenster tappte. Hatte hier ein tüchtiger Milchmann diesen alten Dienst am Kunden neu aufleben lassen?
Ungläubig spähte ich durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Eben stemmte ein Bursche eine schwere Kanne in einen VW-Bus, angelte zwei leere heraus und knallte sie dröhnend in die Hofeinfahrt, neben die Hintertür des Restaurants im Nebenhaus. Dann schwang er sich in die Führerkabine und ließ den Motor aufheulen. Just bevor der Wagen um die Ecke bog, konnte ich die Aufschrift auf der Seitenwand des Vehikels entziffern: «Rubli & Söhne – Schweinemast» – von Milchmann keine Spur...
Doch die Erinnerung an ihn, die lass' ich mir nicht nehmen. Nicht zuletzt dank Peter Bichsels feinsinniger Schmunzel-Geschichte von Frau Blum, die gern den Milchmann kennen lernen möchte. Die immer zwei Liter nimmt. Und die einen verbeulten Topf hat ...

Peter Bichsel (© creative commons 2.0)
18.03.2024
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Danke für diese wunderschöne Erinnerung an die Zeit, als noch der Milchmann vorbei kam. Sie hat in mir gleich eine andere Erinnerung aus meiner Kinderzeit wach gerufen. Ich war oft bei einer Tante in den Ferien. Dort kam jeweils am Vormittag der Milchmann vorbei mit einem Gefährt, das ein Bernhardiner Hund zog. Wenn der Milchmann schon von weitem pfiff, ging ich nicht wegen der Milchprodukte, die meine Tante bestellt hatte, auf die Strasse, sondern wegen dem Hund, dem ich dann hie und da die Cervelat-Häute geben durfte.
Danke für die wunderschönen ,nostalgischen Erinerungen, die deine Milchmann-Geschichte bei uns geweckt haben!
Herzlichen Dank für diese sprachlich brillante Erzählung!
Ich höre und sehe die Abläufe der Milchlieferung von damals wieder deutlich vor mir, als wär‘s gestern gewesen. In der Stadt war dies bequem, doch in Gruyères, wo wir oft mit den Grosseltern in den Ferien weilten, mussten wir als Kinder die frischen Erzeugnisse der Alpwirtschaft in der Laiterie holen (wozu die unvergesslichen Gerüche kamen) und den Hügel hoch tragen.
Lieber Bruno
Es freut mich sehr, dass der von mir geschätzte Auto, ein so liebevolles Nachwort erhalten hat. Er wurde meiner Meinung nach unterschätzt, weil seine Geschichten in einfacher, humorvoller Sprache so federleicht und doch so tiefsinnig daherkamen.
Danke und herzliche Grüsse Barbara
Guten Morgen Bruno,
Was für ein wunderbares Wiederaufblühen vergangener Zeiten durch deinen heutigen "Bichsel Beitrag"...beinahe kommt's einem vor, diese Erinnerungen seien aus einem früheren Leben...wie auch immer, so schön doch für alle, die solche Erinnerungen noch haben...Danke herzlich und liebe Grüsse, Regula
(ein Name noch aus der "Milchmann Zeit";))