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Der Musik Raum geben

Wie entsteht eine Oper? Was passiert, bevor die ersten Proben beginnen? Stefan Wirth, der Komponist einer neuen Oper über die Entstehung eines der berühmtesten Gemälde des holländischen Malers Jan Vermeer, gewährt einen Einblick in den Schaffensprozess von «Girl with a Pearl Earring». Uraufführung des Werks ist am 3. April 2022 im Opernhaus Zürich.

Jan Vermeer (1632-1675): «Meisje met de parel», 1665/67, Mauritshuis, Den Haag


Stefan, wie kam es zu diesem Opernauftrag?

Das passierte so, wie’s eigentlich nie passiert. Das Opernhaus hat sich entschlossen, jedes Jahr eine Kammeroper eines Schweizer Komponisten, einer Komponistin in Auftrag zu geben. Nach der Uraufführung meines Violinkonzertes mit Renaud Capuçon und dem Kammerorchester Basel fragte mich Claus Spahn, der Chefdramaturg der Zürcher Oper, ob ich Lust hätte, eine Kammeroper zu schreiben. Ich war total überrascht, aber da ich schon lange, eigentlich schon immer, Opernfan bin, sagte ich zu, hatte aber noch keinerlei Vorstellung vom Stoff. Und, unter uns gesagt, auch nicht davon, was es überhaupt bedeutet, eine Oper zu schreiben.

Wer hat den Stoff ausgewählt?

Im Brainstorming bin ich sehr bald auf das Buch «Das Mädchen mit dem Perlenohrring» gestossen. Ich wusste: Das ist der Stoff, zu dem ich meine Musik schreiben kann! Richard Strauss meinte, ein Opernkomponist müsse sogar eine Speisekarte vertonen können. Ich seh’ das andersrum: Ein Opernkomponist muss unbedingt den Stoff finden, der zu seiner Musik, zur Musik, die er schreiben möchte, passt. Ich habe dann in einem Anflug von Mut gleich zu Beginn deklariert, dass ich keine Kammeroper, sondern grosse Oper mit vollem Orchester machen möchte. Das durfte ich dann auch, worüber ich sehr glücklich und dankbar bin!

Szenengespräch: Thomas Hampson, Ted Huffman, Stefan Wirth und Lauren Snouffer


Was macht Tracy Chevaliers Erzählung in deinen Augen – oder besser: Ohren – zum Opernstoff? Die Geschichte ist recht unspektakulär, geradezu handlungsarm: Die Magd Griet tut Dienst im Haus des berühmten Malers und Kunsthändlers Jan Vermeer. Eines Tages darf sie ihm sogar Modell sitzen, am Ohr das Perlengehänge aus der Schmuckschatulle der Gattin des Malers. Was dieser sehr missfällt. Reicht das für eine Oper?

Es muss einen Grund geben, warum gesungen wird, warum Musik erklingt. Mir kommt es entgegen, dass hier die grossen Themen wie Liebe, Begehren, Macht, Eifersucht usw. zwar angesprochen, aber nicht explizit ausgestellt, sondern nur angedeutet sind. Subkutan, unterschwellig. Klingend und singend angedeutet. Dieser Subtext, diese Metaebene schafft den Raum für Musik. Da ist natürlich das Vorbild von Debussys «Pelléas» zu nennen. Für mich ist das die zeitgemässe Form der Oper: Grossen Gefühlen, die man spürt, aber nicht aussprechen kann oder will, theatrale Gestalt durch die Musik verleihen. Ich möchte der Frage nachgehen, wie wir uns gegenseitig wahrnehmen und gegenseitig transformieren. Die Erotik zwischen Vermeer und Griet steht gar nicht so sehr im Vordergrund, es geht vielmehr um eine Seelenverwandtschaft, um zwei Menschen, die merken, dass ihnen das Sehen und Empfinden von Kunst gemeinsam ist. Die Tragik ist vielleicht, dass dieses Verständnis nach der Vollendung des Bildes uneingelöst bleibt. Genau das ist das Thema dieser – natürlich frei erfunden – Begebenheit: Nicht nur der Maler betrachtet sein Modell, auch sie macht sich ein Bild von ihm...


... dieses gegenseitige Wahrnehmen erschliesst sich im Wortsinn «spektakulär» in der Malszene. Da gibt es weder Pinsel, Palette noch Staffelei; die beiden gucken sich nur an; ein wortloses Erkennen, ausgedrückt mit persistierenden, soghaften Orchesterklängen.

Genau, das ist – stellvertretend, aber natürlich zentral – ein Moment, wo Musik eine oberflächliche, um nicht zu sagen banale gestische Handlung überflüssig macht, ja geradezu ausschließt. Ich wollte deshalb an dieser Stelle auf keinen Fall ein Hantieren mit Malerutensilien, was nur Ablenkung provoziert hätte. Die spannendsten Momente in der Oper sind ja jene, in denen die Zeit stillsteht.

Den Opernstoff zu finden ist das eine, ein anderes ist es, daraus ein Libretto zu gestalten. Und man weiß von vielen Komponisten, dass sie diesbezüglich regelmäßigen und mitunter heftigen Austausch mit ihren Librettisten hatten. Wie lief das bei euch?

Ich hatte das Glück, mit Philip Littell zusammenzuarbeiten. Wir haben uns ausgiebig per Skype ausgetauscht, bis wir sicher waren, dass wir aufm gleichen Dampfer sind. Ich wollte einen einfachen, nicht zu elaborierten Text in Alltagssprache, die aber untermint ist, die Unausgesprochenes enthält. Ich wünschte mir, dass sich in den Köpfen der Zuschauer eine eigene Geschichte entwickelt. Philip war während des Prozesses einmal ganze drei Wochen hier, sodass wir den fertig erstellten Text Szene für Szene durchgehen konnten. Natürlich gab es da und dort Diskussionen um Kleinigkeiten, aber er hat es wunderbar geschafft, und es entspricht ja auch dem Originaltext im Buch, den er an vielen Stellen sogar wörtlich übernommen, aber mit seinem eigenen Sprachfluss verschmolzen hat. Daraus ist eine stimmige Mischung aus Lyrik und Alltagsprosa entstanden.


Da stellt sich die Frage: War Tracy Chevalier ebenfalls in diesen Prozess eingebunden?

Man hat sie und natürlich ihre Agentur kontaktiert. Diese hatte den Textbuchautor vorgeschlagen, aber ursprünglich ein profitables Musical im Sinn. Da prallten Welten aufeinander, die Skepsis gegenüber neuer Musik war gross. Und angefeuert durch den erfolgreichen Film, sprach man bereits von Broadway und Westend. Aber ich wehrte mich dezidiert dagegen. Auch Tracy Chevalier war bereit, das Risiko einzugehen. Sie unterstützte uns, indem sie uns ermutigte, uns den Stoff, ihren Stoff, zu eigen zu machen. Indem sie ihr Werk loslassen konnte, unsere Arbeit aber stets mit Interesse begleitete.


Warum ist die Oper in Englisch?

Für mich ist Deutsch in der Musik sehr vorbelastet – oder sagen wir: besetzt. Das skandierte Deutsch hätte mir zu sehr einen Rhythmus vorgegeben. Schubert, Wagner und Grönemeyer sind für mich die Musiker, die die deutsche Sprache auf ganz unterschiedliche, aber ihnen gemäße Weise so großartig eingesetzt haben, dass ich dem nichts hinzufügen könnte. Kommt hinzu, dass ich zweisprachig (D/E) aufgewachsen bin. Das Englische empfinde ich als weicher, flexibler, besser zu handhaben. Es war mir ein Anliegen, dass die Sänger sich nicht anstrengen müssen, damit ihre Worte nicht in den Orchesterwogen untergehen, sondern einem natürlichen Sprachduktus folgen können.


Wie bist du bei der Komposition vorgegangen? Hast du erst mal einen groben Ablauf entworfen? Und dann von Anfang bis Ende? Oder vorab die dramaturgisch wichtigen Szenen? Gab’s zuerst ein Particell, das sich dann zur kompletten Partitur ausweitete? Naiv gefragt: Wie komponiert man eine Oper?

Wie m a n das tut, weiß ich nicht. Bei mir war’s so, dass mir Philip Littell Ende 2016 einen ersten kurzen Text schickte – es war die Liebesszene im 2. Akt zwischen Griet und Pieter – «he bit my lip». Ich war sofort begeistert und legte gleich los. Ich schrieb diese Szene explizit für Klavier, im Wissen darum, dass es eh einen Klavierauszug würde geben müssen. Das war die Keimzelle des Ganzen.

Dann folgte ein Song vom Anfang, wo Griet über die Fliese sinniert – eine typische Delfter Ofenkachel in Blau, die Griets Vater gemalt hatte und die sie als einzige Erinnerung an ihr Elternhaus aufbewahrt. Dieses Stück machte ich als Particell auf fünf Notensystemen, wo die signifikanten Stimmen notiert sind. Nach rund zweihundert Takten kippte ich dann in die vollständige Partitur, um die Orchesterfarben, die Instrumentierung und die speziellen Spieltechniken präziser zu erfassen, als dies das reduzierte Particell erlaubt. Eigenartigerweise hatte ich keinen Plan; das Libretto lieferte mir genügend Struktur. Dank Erfahrung weiss ich mittlerweile, was ich hören möchte, und kann das so direkt aufschreiben und mich dem kreativen Prozess anvertrauen. Mein Ausgangspunkt ist dabei weniger die Melodielinie, die ich harmonisch und rhythmisch unterfüttere, sondern ein surreal-assoziatives Klangfeld, das ich dann – zum Teil mühsam – nach seinen einzelnen Tönen aufdröseln muss. Ich wurde sozusagen zu meinem eigenen Hörer.


Nochmals ein Versuch, dem magischen Prozess der Komposition auf die Spur zu kommen, ohne uns ins allzu Abstrakte zu verlieren. Der Plot spielt im Malermilieu, viele Szenen direkt im Atelier. Im Zusammenhang mit Musik spricht man gerne von Farben, Schattierungen, Spektrum, Schichten – alles Begriffe aus der Malerei, insbesondere auch von Vermeers Technik, der fast schon impressionistisch mit übereinandergelegten Farbschichten arbeitete. Könnte man dein Komponieren damit vergleichen?

Durchaus, wenn auch nicht eins zu eins. Ich habe versucht, diese Technik anzuwenden, indem nicht zuerst die Figur entsteht, sondern der Farbauftrag, das heisst, dass eine harmonische Grundierung gelegt wird. Das ist beispielsweise in der erwähnten Malszene besonders gut nachzuvollziehen: Sie beginnt mit diffusen clusterartigen Gebilden, aus denen sich einzelne Klänge herausschälen und immer mehr Töne und Farben dazukommen, bis schliesslich Figuren entstehen. Das ist quasi die untergründige analytische Organisation der Musik. Doch auch wenn es vielleicht nicht in jedem Fall rational so wahrgenommen werden kann, sollte es doch erlebbar sein. Es geht nicht darum, einen kompositorischen Code zu knacken, sondern vielmehr darum, zu spüren, wie sich etwas verändert und allmählich Gestalt annimmt.

Arbeitest du mit gewissen Charakteristika für einzelne Personen? Ich würde nicht direkt von Motiven sprechen, aber vielleicht werden einzelne Instrumente einzelnen Figuren zugeordnet? Ich denke beispielsweise an den witzigen musikalischen Coup de théâtre im 2. Akt.

Du sprichst von der Szene um das «Konzert»-Bild, das van Ruijven in Auftrag gegeben hat. Sein hoher Tenor, die artifiziellen Koloraturen in Verbindung mit dem Klang des Cembalos und der nur leicht verfremdeten traditionellen Harmonik sollen den reichen, schleimigen Mäzen charakterisieren. Ganz früh war mir auch klar, dass die Auftritte Maria Thins’, der klugen und entschlossenen Schwiegermutter Vermeers, stets von sechs kernigen Solo-Bratschen begleitet sein sollten. Die Kontrabassklarinette, Klarinetten und die ganze Flötenfamilie von Bass bis Piccolo, manchmal Hörner schaffen die Grundierung – oft sogar mikrotönig! – für den Maler Vermeer. Was seinem zwar gütigen, aber auch vielschichtigen und irgendwie etwas zwielichtigen Charakter entspricht. Aber es soll nicht durchgängig so sein, das wäre langweilig. Ich möchte die Komplexität der Figuren wahren.

Hast du dich beim Komponieren auch von einzelnen Instrumentalisten beraten lassen, ob und wie man diese oder jene Klangvorstellung auf dem Instrument umsetzen kann? Und setzt du auch spezielle Instrumente ein?

Dank der Erfahrung kenne ich die Möglichkeiten einzelner Instrumente recht gut, aber klar, wo nicht, suche ich in jedem Fall den Rat der Musiker. Alles andere wäre überheblich. – Unsere Zeit ist ja die Zeit des raffinierten Schlagwerks, das sich jeder zeitgenössische Komponist zunutze macht, ich eingeschlossen.

Als besonderes Instrument neben einem reichen Schlagwerk sind zwei afrikanische Kalimbas zu erwähnen, auch Daumenklavier genannt, deren einzelne Stahllamellen mit den beiden Daumen angerissen werden, was zusammen mit Harfe und präpariertem Klavier einen irisierenden Klang erzeugt. Dann gibt es Brummkreisel, die man als Spielzeug kennt – es kommen ja im Stück auch Kinder vor. Schliesslich gibt es echte Glocken aller Größen; sie assoziieren entfernt die niederländische Carillon-Tradition. Natürlich ohne veristischen Anspruch!


Im Stück gibt es einige Marktszenen, wo ausgiebig getratscht wird. Wären doch wunderbare Gelegenheiten für einen Chorauftritt?

Absolut, aber ich hab’ einfach keinen Chor gehört, ergo keinen komponiert. Passt für mich nicht zur emotionalen Intimität des Stücks.


Dennoch gibt es da schon auch «klassische» Opernformate wie Arien, Ariosi – ein eigentliches Duett gibt es jedoch nicht.

Dieses innige Zusammensingen ist ein grosses Thema. Ich kann es nur im Hinblick auf das Stück beantworten. Es geht hier um Menschen, die nicht zusammenkommen. Deshalb singen sie häufig ein wenig aneinander vorbei. Ich wollte am Schluss, als Griet den Fleischer Pieter heiratet und mit ihm wohl ein ganz akzeptables Eheleben führt, sie dennoch weiterhin als eigenständige Frau zeigen. Eine Frau, die sich durchsetzt, die fatalen Ohrringe verkauft, die ihr Vermeer nach seinem Tod vermacht hat, und so sich selbst gewissermaßen freikauft von der Abhängigkeit des Gatten, der eben kein strahlender Tenor ist, sondern ein verlässlicher Bariton..

Sprechen wir noch kurz über die Regie. Der Stoff würde, wie damals der Film*, ein opulentes Spektakel im Stile der niederländischen Malerei nahelegen. Doch ihr verzichtet auf historisches Kolorit. Das Geschehen auf der Bühne präsentiert sich ziemlich abstrakt und stilisiert, was das Bühnenbild selbst, aber auch das Agieren betrifft. Warum diese Nüchternheit?

Du lieferst mir das perfekte Stichwort. In Sachen Bildhaftigkeit ist die Oper dem Film um Längen unterlegen. Im Film kannst du das Setting bis auf die letzte Farbtube, den feinsten Brokatstoff nachbauen. Auf der Bühne wirkt das immer etwas hölzern. Da hat der Film die Oper überholt. Deshalb soll sie sich auf die ihr eigenen Stärken besinnen, nämlich die Darstellung der irrealen Räume. Ich glaube, diese hochkomplexen seelischen Vorgänge hätte ein riesiger Bühnenaufwand eher geschmälert, sogar negiert, als dass sie dadurch unterstützt worden wären. Hier schließt sich der Bogen: Ich möchte der Musik Raum geben, das auszudrücken, was nicht an der sichtbaren Oberfläche liegt

*2003, Peter Webber, Regie; Scarlett Johansson, Griet; Colin Firth, Vermeer

Bilder: © OHZ – Toni Suter | Bruno Rauch



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