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Der Seelen Ruhstatt...

Osterzeit ist Passionszeit! Die ergreifende Aufführung von Bachs «Matthäus-Passion» durch das Collegium Vocale Gent unter der Leitung seines Gründers Philippe Herreweghe ist jedoch mehr als nur ein religiös konnotiertes Konzert, passend zum kirchlichen hohen Fest.

Guido Reni: Der Evangelist Matthäus (ca. 1630/40)

Schuld, Buss’ und Reu’ sind zentrale Themen in diesem Werk, und sie betreffen alle, auch die Nicht-Gläubigen. Wir vernehmen da von Verrat und Verleumdung, von Hass und blindem Eifer, von Feigheit und Abseitsstehen und schliesslich von Verlust, Schmerz und Trauer – Erfahrungen und Gefühle, die uns alle, ob gläubig, areligiös oder atheistisch, angesichts der aktuellen Weltlage – politisch, klimatisch, sozial –, aber auch im intimsten Kreis umtreiben und beschäftigen. Doch wir hören auch von Erbarmen und Anteilnahme und der daraus keimenden Hoffnung, was immer jeder Einzelne darunter verstehen mag. Diese Botschaft ist heute vielleicht noch aktueller, universaler, als sie es in der Ordo-Welt des Barocks war.

Zu Bachs Zeit, in den 1730er- und 1740er-Jahren, war in Leipzig die Aufführung von Passionsmusiken das bedeutendste Ereignis im Kirchenjahr, ein Höhepunkt nach der längeren kirchenmusikalisch «stummen» Fastenzeit. Die Uraufführung der Matthäus-Passion nach dem Text von Picander (Pseudonym für Christian Friedrich Henrici; von ihm stammt auch der Text zur populären Kaffee-Kantate) am Karfreitag des Jahres 1736 muss für die damaligen Zuhörer zweifellos eine unerhörte Dimension eröffnet haben. Und zwar beileibe nicht nur spirituell, sondern auch ganz konkret: nämlich durch die grandiose Doppelchörigkeit, als welche der Komponist seine «grosse Passion», wie man sie im Hause Bachs nannte, konzipiert hat.

Den zwei Chören entsprechen ebenfalls zwei Orchester, zwei Continuo-Gruppen, zwei Orgeln und für den Vortrag der Choralmelodie die sogenannten Ripieni mit lichten jungen Sopranstimmen. Eine zusätzliche Dimension im eigentlichen Wortsinn ergab sich indes nicht nur durch die durchgängig zweifache Besetzung, sondern ebenso durch die Positionierung der beiden Gruppen auf zwei sich gegenüberliegenden Orgelemporen an den Stirnseiten des langen Schiffs der Thomaskirche: auf der grösseren über der Hauptpforte an der Westfront und auf der kleineren, die wie ein Schwalbennest über der Portalwand hing, welche Langhaus und Chorraum trennte.

J.. S. Bach – Fenster der Thomaskirche zu Leipzig

Diese architektonische Besonderheit macht deutlich, welch überwältigendes Klangerlebnis Bach im Ohr gehabt haben muss. Für die Gemeinde im Kirchenschiff erklang die Musik räumlich von hinten und von vorne, oder, für die Hörer auf den Seitenemporen, von zwei Seiten, jedoch örtlich recht weit voneinander geschieden. Darüber hinaus ergaben sich aus dieser klaren Trennung die unterschiedlichen Funktionen der beiden Chorgruppen: Während der Chor I mit allen handelnden Personen direkt und unmittelbar dem Passionsgeschehen zugeordnet ist, kommt dem Chor II eine abgerücktere, betrachtende, mitunter fragende («Wer?» «Wo ist mein Jesus hin?») oder gar retardierende Rolle zu («Haltet ein!»). Die Zuhörerschaft befand sich buchstäblich zwischen den beiden Polen: Nähe und Distanz, Aktion und Reflektion. Sie war also gleichsam das verbindende Glied. Musikalisch-künstlerisches Erleben wurde zum religiösen Glaubensakt und umgekehrt.


Neben der enigmatischen Zahlen- und Tonartensymbolik, die die Fachleute immer wieder beschäftigt und auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, bringt die beschriebene Dichotomie eine weitere praktische Problematik mit sich. Diese betrifft die Grösse der Chöre. Als der 20jährige Felix Mendelssohn mit seiner legendären Wiederaufführung der drastisch gekürzten Matthäus-Passion im März 1829 eine eigentliche Bach-Renaissance einleitete, bestand der Chor der Berliner Sing-Akademie aus 158 Mitgliedern. Die Tradition der Monumentalchöre setzte sich bis weit ins 20. Jahrhundert fort. Erst mit der Einsicht der 1980er-Jahre, dass Bach mit wesentlich kleineren Ensembles musiziert haben dürfte, verbunden mit der historisch informierten Aufführungspraxis, sind die Besetzungsfragen wieder bedeutsamer geworden – und sie sind mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Die Bandbreite reicht von zwei Vokalquartetten, die auch solistische Aufgaben übernehmen, bis zu zweimal 32 Choristen und mehr; bisweilen wird sogar mit zwei unterschiedlich stark besetzten Chören gesungen, um Nähe und Ferne zu unterstreichen. Auf einem Konzertpodium ist der räumliche Abstand im Sinne der cori spezzati, der weit auseinander agierenden Chöre, kaum nachzuvollziehen. Fragen also und Überlegungen, denen sich jede Aufführung stellen muss.

Das Collegium Vocale Gent, 1970 von Philippe Herreweghe aus studentischen Kreisen gegründet, hätte 2020 zu einer europaweiten Jubiläumstournee aufbrechen sollen. Das Vorhaben ist aus bekannten Gründen gescheitert. Jetzt wird das Unterfangen doch noch realisiert; eine der Stationen war die Tonhalle Zürich, die an diesem Karsamstag bis auf den letzten Platz ausverkauft war.


Herreweghe, der 74jährige Doyen der historischen Praxis, hat die Matthäus-Passion wohl schon mehr als hundert Male aufgeführt. Weder Dogmatiker noch Hardcore-Purist, geht er bezüglich Besetzung einen sehr überzeugenden Mittelweg. Er platziert die beiden Instrumental- und Vokalchöre und die beiden Orgelpositive achsensymmetrisch links und rechts auf dem Podium, hinten in der Mitte als Ripieni vier und vier junge Frauenstimmen (anstelle der oft üblichen Knabensoprane). Die Vokalchöre umfassen pro Register je drei Stimmen; der Alt mit einer Ausnahme mit Countertenören besetzt, was sich exquisit von den (weiblichen ) Sopranstimmen abhebt. Sämtliche Arien und dramatischen Einwürfe, etwa des Pilatus, des Petrus und der weiteren Akteure, sind den Chorsolisten anvertraut, die sich hierzu aus der Gruppe lösen, um danach – schon optisch eine bedeutsame Geste von Demut und Miteinander – wieder ins Kollektiv zurückzutreten.

Die beiden Protagonisten Jesus und Evangelist dagegen werden exklusiv von zwei Solisten gesungen. Mit flexiblem, ungemein ausdrucksstarkem und höhensicherem Tenor in der Tradition eines Haute-contre schildert Reinoud van Mechelen als Evangelist das Leiden und Sterben Christi mit jugendlicher Frische und packender Dringlichkeit. Seine dramatische Gestaltung und die exemplarische Wortverständlichkeit lassen einem die Geschichte miterleben, als hätte man sie noch nie gehört. Konstantin Krimmel ist kein salbungsvoller, abgeklärter Jesus; sein warm strömender Bass zeigt den Gottessohn als Menschen, dem auch menschliche Regungen – Furcht, Zweifel oder auch nur schon die Enttäuschung über die schlafenden Jünger – nicht fremd sind.


Für berückende Momente sorgen ebenfalls die Chorsoli, allen voran Tim Mead mit seinem balsamgleichen, unforcierten Altus, der sich wie ein kostbarer Silberfaden in den orchestralen Farbenreichtum einfügt – etwa in der bittersüssen Arie «Erbarme dich» oder, zusammen mit den Oboi da caccia, im Rezitativ «Golgatha, ach Golgatha». Mit Wärme, Innigkeit und Empathie besticht der Sopran von Dorothee Mields, ein zauberhafter Lichtstrahl im düsteren Geschehen. Kraftvoll und doch subtil profiliert sich Johannes Kammler, der für den erkrankten Peter Kooij eingesprungen ist, nicht nur als Petrus, sondern ebenso mit der Bass-Arie «Komm, süsses Kreuz», begleitet vom virtuosen Gambenpart, meisterlich gestaltet von Romina Lischka. Auch die hier nicht namentlich erwähnen Sängerinnen und Sänger der grösseren und kleineren Partien überzeugen ausnahmslos durch subtil gestaltete Darbietungen! Mit berührender Intensität formen die Chöre als Ganze die kontemplativen Choräle, frei von jeglicher Betulichkeit und wohltuend unpathetisch, bringen aber auch für die Turbae die erforderliche Kraft und gesteigerte Emotionalität mit.

Auch das, oder besser: die Orchester, zweimal 17 Instrumentalisten, lassen keine Wünsche offen. Erstaunlich, wie ein doch relativ beschränkter Apparat, bestehend aus Traversflöten, Barockoboen, Oboi da caccia, Viola da gamba, Orgeln und Streichern, eine derart reich nuancierte Klangpalette zu erzeugen imstande ist. Dabei scheint der Dirigent gar nicht allzu stark zu agieren, ab und zu verlässt er sein Podest, um mit den Spielenden und Singenden in näheren Kontakt zu treten, doch seine Gesten bleiben minimal, dezent und dadurch umso suggestiver. Phänomenal, wie die Klangbalance aufgefächert wird; atemberaubend, mit welcher Delikatesse Akzente und Schärfungen gesetzt werden; beeindruckend, mit welch koordinierter Freiheit die Rezitative und der Dialog zwischen Sängern und konzertierenden Soloinstrumenten dargeboten werden. Kurz: Ein uneitles, engagiertes Musizieren auf hohem Niveau, ein Spannungsbogen, der die Aufmerksamkeit und den langen Atem über drei Stunden mühelos bewahrt – bis hin zum ruhigen Fluss des Schlusschors, der ungeahnte Sphären aus Trauer und Trost eröffnet: «Wir setzen uns mit Tränen nieder». Und in die Stille mündet...


Doch dann, wie das Auftauchen aus einer meditativen Hingabe, ein tosender Applaus. Und für alle Mitwirkenden eine weisse Rose!




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