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Achtung Engel!

Zurzeit haben sie es enorm streng: Sie nehmen flatternd und flötend Teil an Krippenspielen. Sie zieren Geschenkpapier und Weihnachtskarten, segeln stanniolglänzend durch Bastelecken, nisten in Christbäumen. Und sie kurven torkelnd im olfaktorischen Overkill von Raclettedampf, Glühweindunst und Lebkuchenduft zwischen den Ständen der omnipräsenten Christkindlmärkte... Engel, Engel, überall Engel.

Raffaello Sanzio (1483–1520): Putto (um 1513)

Melozzo da Forlì (1438–1494): Musizierender Engel mit Bratsche (1475-80) Chiesa Santi XII Apostoli, Rom


Obwohl die wenigsten von uns je einen gesehen haben, wissen wir genau, wie sie auszusehen haben: blond, vorzugsweise gelockt, einen Goldreif um die Stirn’, am Rücken zwei lange Flügel, angetan mit einem hellen tunika-artigen Gewand. Mit Ausnahme des kriegerischen Michael, der im Barock oft als römischer Miles erscheint, tragen sie nie Hosen. Und das, obwohl sie ursprünglich als etwas gestrenge androgyne Jünglinge dargestellt wurden; die lieblichen weiblichen Engel wurden erst in der Renaissance «erfunden». Und meistens sind die himmlischen Boten ausgesprochen musikalisch. Jedenfalls ist ein Streifzug durch die einschlägige Bilderwelt der Jahrhunderte überaus aufschlussreich und ergötzlich, umspannt sie doch ein unendliches Spektrum zwischen Kunst und Kitsch. Und ein ebenso großes an Techniken und Stilen, Sujets und «englischen» Funktionen.

Schutzengel, aktueller Druck

François Boucher (1703–1770): Spielende Putten (1725)


Bisweilen ist das himmlische Volk auch nackt, zeigt rosa Babyspeck mit niedlichen Grübchen und Falten. Diese (B)Engelchen nehmen es allerdings nicht so ernst mit der weihnachtlichen Heilsbotschaft, sondern treiben allerlei Schabernack. Als geflügelte Nackedeis spotten sie jeglicher Schwerkraft, streuen Rosen und Myrten, winden Kränze und Girlanden, blasen, tuten, fiedeln, was Psalter, Harfe und Zink hergeben. Im Gefolge von Venus schwärmen sie als Honigdiebe durch die Haine, und als Bogenschützen mit verbundenen Augen richten sie ihre Pfeile auf die Herzen der Irdischen. Sie begleiten Bacchus mit Cymbal und Panflöten. Sie tragen Heilige und solche, die es werden wollen, gen Himmel. Und sie versammeln sich zum himmlischen Konzert über der Krippe, spielen Bach und – nach Karl Barth – Mozart... Kurz: ein himmlischer Kindergarten der immerwährenden Freude. Von der Renaissance über Barock und Rokoko bis hin zum 19. Jahrhundert haben Maler und Bildhauer mythologische und religiöse Szenen gleichermaßen mit solchen Putten und Amoretti garniert. Hübsch anzusehen, aber, ehrlich, allzu viel Verlass ist wohl nicht auf dieses reizende Gefleuch.

Francesco Bianchi Ferrari (1460–1510): Musizierende Putten, (506) Chiesa San Pietro, Modena

Amor mit Pfeilbogen – Deutsche Schule, 18. Jh.


Da nehmen andere Vertreter der himmlischen Kohorten ihre Aufgaben ernster: Als Schutzengel bewahren sie uns Sterbliche vor Ungemach und Schaden. Wie zum Beispiel jene vierzehn engelhaften Kustoden, die von Hänsel und Gretel in Engelbert Humperdincks «Abendsegen» beim Schlafengeh’n herbeigebetet werden. Solche gefiederte Angehörige der Truppe «Schutz und Rettung» bevölkern auch die Ex-Voto-Bildchen in Kirchen und Kapellen: Da zügelt einer ein scheuendes Pferd. Hier rettet ein anderer mit raschem Griff einen Ertrinkenden aus den Fluten. Dort holt einer eine ganze Familie aus dem brennenden Haus oder einer Lawine. Und noch ein anderer flüstert einem Prüfling die richtige Antwort zu. In berührender Frömmigkeit erzählen die Helgen von persönlichen Notsituationen und von wundersamer Rettung. Aberglaube? Glaube? Esoterik? – Mitnichten!

 

Laut Online-Umfrage glauben fast die Hälfte aller Antwortenden an Schutzengel, wobei offenbar die Frauen gegenüber diesem spirituellen Konzept offener sind als die Männer. Über die Hälfte der Befragten betrachten die Engel lediglich als religiöses Symbol, dennoch erklärt jeder Zehnte, er habe schon mal einen Engel gesehen – oder zumindest dessen Anwesenheit oder Wirkung verspürt. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Irgendwie sind die geflügelten Wesen tief in unserem Bewusstsein verwurzelt.

Niki de Saint Phalle (1930–2002): L’Ange protecteur (1997) – 1,2 t/11m, HB Zürich

Selbst in süssen Gefilden, die bislang den Osterhasen vorbehalten waren, tummeln sich die Engel.

Nike, die Siegesgöttin – Skulptur von Karl Friedrich Moest, Freiburg i. Br., (1876) pixabay


Schon aus vorchristlicher Zeit liefern Darstellungen und Schrifttafeln Hinweise auf solche Geisterwesen. Die hellenistische Siegesgöttin Nike und ihr Gefolge treten auf, nein, nicht in Turnschuhen, sondern mit ausgebreiteten Schwingen und in wallenden Gewändern. Im Alten Testament werden Cherubim erstmals in der Genesis genannt; mit flammendem Schwert versperren sie dem sündigen Paar den Zugang zum Garten Eden und zum Baum des Lebens. Ebenfalls zum himmlischen Hofstaat gehören die Seraphim, zuständig für die Verkündigung des Herren Lob. In der assyrischen Kunst werden die Gottessöhne als sechsflüglige Zwitterwesen mit Menschen- und Löwengesichtern und Adler-, Stier- oder Sphinxkörpern dargestellt. Sie sind Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttern und Menschen. Die Beziehung zu den geflügelten Götterboten der klassischen Antike ist offensichtlich; das griechische Wort ángolos bedeutet denn auch Bote. Pikanterweise erlaubten sich diese göttlichen Gesandten neben ihrer göttlichen Mission durchaus auch mal ein Schäferstündchen mit «sterblichen Weibern» (Mose I/6), sie stehen also auch in dieser Beziehung dem olympischen Personal keineswegs nach.

 

Doch trotz Halleluja-Geschmetter und Strahlenglanz haben Engel auch dunkle, unheimliche Seiten: Wo Würge-, Todes- oder Pestengel ihre schwarzen Schwingen entfalten, herrscht Tod und Verderben. Auch vom Kampf mit den Engeln wird berichtet: Ein Engel ringt mit Jakob in der Nacht, ein Engel hält Abrahams Hand zurück, als dieser seinen Erstgeborenen Isaak opfern will. Engel also als Zeichen der Auseinandersetzung mit den eigenen ureigensten Ängsten und Zweifeln? Engel als Ausdruck dunkler dämonischer Mächte?

Gustave Doré (1832–1883): Jakobs Kampf mit dem Engel

Frederic Leighton (1830–1896): Der lebensmüde Elijah wird von einem Engel gerettet

(1877/78) Liverpool


Über die Erschaffung der Engel selbst ist in der Bibel nichts zu erfahren. Dafür müssen wir die sogenannten apokryphen, die verborgenen Bücher konsultieren, die nicht zum kirchlich abgesegneten Kanon gehören. Dort ist von einer Vielzahl von Engeln die Rede, die erstaunlich identisch mit den mythologischen Geistern und Dämonen sind, welche die Elemente bevölkern: Luft, Wasser, Erde, Feuer. Da findet sich denn auch die dramatische Geschichte vom Gefallenen Engel: Satanel, der Schönste aller Engel, später mit Luzifer, dem Lichtbringer, gleichgesetzt, soll sich gegen Gott und seine Schöpfung aufgelehnt haben – kennen wir auch aus der griechischen Mythologie. Als Rebell der ersten Stunde wurde er zusammen mit seinen Trabanten in die ewige Finsternis gestürzt. Gleichzeitig mit der himmlischen Gunst verlor er auch die Schlusssilbe -el seines Namens, was «der Glänzende, Strahlende» bedeutet. Im Gegenzug für den verlorenen Glamour bekam er – als zwar optisch effektvollen, aber doch eher fragwürdigen Ersatz – Bocksfuß, Schwanz und Hörner.

Gustave Doré (1832–1883): Höllensturz, Illustration für John Miltons «Paradise Lost», 1865

Vom Himmel hoch...

Im 6. Jahrhundert begann man die oberen Sphären nach irdischem Vorbild in Hierarchien zu gliedern. Die himmlischen Heerscharen sind in neun Chöre eingeteilt, von denen je drei einen Kreis, eine Hierarchiestufe bilden. Zum obersten Kreis gehören die Cherubim und Seraphim, die als göttliche, entmaterialisierte Energien kaum Kontakt mit unserer materiellen Welt haben. Für die Kommunikation von oben nach unten ist der Staff des dritten, erdennächsten Kreises zuständig. Das sind primär die Erzengel, über deren Zahl – sechs oder sieben? – sich die Angelologen, die Engelskundler, streiten. Im Gegensatz zur Legion der gewöhnlichen Engel, die für die Einzelmenschen verantwortlich sind, werden die Erzengel als Nuntien gewichtiger Botschaften eingesetzt, die für Gemeinschaften oder ganze Völker von Bedeutung sind.

Francesco Botticini (1446–1497): Die drei Erzengel (v. l. n. r.) Michael im Harnisch mit Schwert; Raphael mit dem jungen Tobias; Gabriel mit der jungfräulichen Lilie – (um 1479) Uffizien, Florenz


Ikonographie und Volksfrömmigkeit haben sich von jeher auf das Erzengeltrio Raphael, Michael und Gabriel konzentriert, die die Fantasie, den Pinsel, den Stift oder Meißel der bildenden Künstler beflügelt haben. Aber auch die Komponisten aller Zeiten verliehen den Engeln Stimme und Wohlklang: So Joseph Haydn mit dem Trio aus der «Schöpfung» (Gabriel, Raphael und Uriel:«Zu dir, oh Herr») oder Mendelssohn im «Elias» mit dem Engelsterzett «Hebe deine Augen auf».

 

Ein Schutzengel erster Güte ist der zauberkundige Erzengel Raphael aus dem Buche Tobit, einem ebenfalls nicht-kanonischen Buch des Alten Testaments. Er begleitet den jungen Tobias auf der Reise und verhilft ihm gar zu einer Ehefrau, Sara, die er mit allerlei Tricks von ihrer Besessenheit durch Dämonen heilt. Er war es auch, der Noah die Schiffsbaupläne zugespielt haben soll, als sich die Wolken bedrohlich zur Sintflut zusammenzogen. Damit sicherte er das Überleben des Homo sapiens und gilt seither als Schutzpatron der Reisenden, der Pilger und der Kranken.

Andrea del Verrocchio (1435–1488): Raphael mit dem jungen Tobias (um 1470) National Gallery, London


Gestrenger ist dagegen Michael. Sein hebräischer Name bedeutet «Wer ist wie Gott». Verständlich, dass er alle wesentlichen biblischen Heldentaten sozusagen mit links erledigt. Er ist der Generalissimo der himmlischen Soldateska im Kampf gegen die dunklen Mächte und war als solcher beim Sturz Luzifers an vorderster Front dabei, wie wir in der Offenbarung 12, 7-9, nachlesen können. Darum wird er häufig in gleißender Rüstung und mit gezücktem Schwert dargestellt. In der Linken dagegen hält er die fatale Waage: Michael bekleidet nämlich auch das Amt des unbestechlichen Seelenwägers, der die Seelen der Verstorbenen nach ihren Taten in die Hölle, ins Fegefeuer oder in den Himmel weist, wo sie bis zum Jüngsten Tag schmoren, streben oder jubilieren müssen, um dann am Jüngsten Tag nochmals vor den Richtstuhl Christi zu treten. Michael gilt als Schutzpatron der Soldaten und der Ordnungskräfte.  

Rogier van der Weyden (~1400–1464) Giuseppe Cesari )1568–1640)

Michael, Seelenwäger (um 1450), Beaune Michael, Streiter Gottes (um 1610), Wien

Fra Angelico (1395–1455) : Verkündigung (Fresko um 1441) Chiostro San Marco, Florenz


Nicht zu strafen und zu richten, sondern mit froher Botschaft kommt Gabriel zu den Menschen. In der Alttestamentarischen Prophetie des Daniel (9, 21/25) ist er der «im Flug herbeieilende Mann», welcher die dereinstige Ankunft des Gesalbten verheißt, jenes Messias, auf den das orthodoxe Judentum in skeptischer Einschätzung Jesu noch immer wartet. Überhaupt bedient sich die göttliche Vorsehung immer mal wieder der Engel, wenn es darum geht, die Nachkommenschaft des auserwählten Volks zu sichern. Der himmlische Bote mit gynäkologischen Kenntnissen erweist sich dabei als äußerst kundig in Liebesaffären, selbst im Dreiecksverhältnis, wie schon in der Geschichte von Stammvater Abraham nachzulesen ist. Als bewandert in Fragen des Kindersegens trägt Gabriel oft weibliche Züge und soll sogar bei der Geburt Mohammeds Hebammendienste geleistet haben. Namentlich erwähnt ist er auch in der Weihnachtsgeschichte – und entsprechend oft in der Malerei verewigt. Gabriel verkündet Maria und ihrer Verwandten Elisabeth bzw. deren Mann Zacharias die Geburt eines Sohnes. An sich noch nichts Außergewöhnliches, nur: Im einen Fall handelt es sich um die Schwangerschaft einer sehr betagten Frau, im andern gar wird ein irdischer Erzeuger schlichtweg ausgebootet... Und ebenso wird ein Engel eingeschaltet, als es gilt, die Heilige Familie vor den finstern Plänen des Herodes zu bewahren. Als Künder eines bevorstehenden «freudigen Ereignisses» steht Gabriel wohl den Liebesgöttern Amor/Cupido und der Schar von Eroten und Genien heidnischen Ursprungs nahe, wie sie sich bereits in pompejanischen Malereien finden.

Giotto di Bondone: Flucht nach Ägypten, begleitet von einem Engel (1304–08) Cappella degli Scrovegni, Padua


Immer wieder werden Engel zur Darstellung oder Verkündung von Außergewöhnlichem bemüht. In ihrem Wesen verbinden sich Profanes und Religiöses, Glaube und Mystik, Folklore und Kitsch. Ungeachtet aller theologischen Diskussionen: Engel bleibt Engel. Und sollten Sie in dieser Zeit tatsächlich einen solchen antreffen, verzichten Sie auf ein Selfie mit dem raren Gast, um es aller Welt beweisen – gönnen Sie sich einfach einen Augenblick der Stille inmitten des Trubels...

Anonym: Musizierende Engel (um 1360) Florenz

20. 12. 2023

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