«Pícaro» ist ein Ausdruck aus dem Spanischen und etwa gleichbedeutend mit Spitzbube, Schelm. Gauner – vielleicht könnte man sogar den gerissenen Till Eulenspiegel zum Vergleich herbeiziehen, der mit Witz und Schalk seine Mitmenschen nicht nur veräppelte, sondern sie auch zum Denken anregte, ihre Augen und Ohren schärfte. Auf dem Begriff novela picaresca basiert schliesslich das Genre des Schelmenromans, entstanden im 16. Jahrhundert, das mit Thomas Manns Felix Krull und Günther Grass’ Oskar Matzerath oder Umberto Ecos Baudilino seinen Platz in der Literatur bis in die heutige Zeit behauptet.
Kurz: ein Musikensemble, das sich auf diese Tradition beruft, muss es faustdick hinter den Ohren haben. Zumindest, was die Programmgestaltung betrifft: ungewöhnlich, überraschend, vielseitig.
So besticht denn «Pícaro» mit Konzerten zu erlesenen Themen – beispielsweise mit Musik aus den unruhigen Zeitläuften der Türkenkriege vor Wien. Oder, basierend auf dem Buch «Eine italienische Reise» von Philipp Bloom, rund um die Lehr- und Wanderjahre eines Füssener Lautenbauers. Oder mit den menschlichen Leidenschaften, musikalisch dargestellt im unlängst wieder entdeckten spätbarocken Oratorium «The Passions» von William Hayes. Oder mit dem klingenden Universum der Serenissima und vielen weiteren Schwerpunkten. Mitunter werden der Musik auch literarische oder historische Texte gegenübergestellt.
Dies ist der Fall im jüngsten Projekt der Pícarillos, der musikalischen Schelme also. Unerschrocken und offenbar stimuliert durch die lange Zwangspause öffnen sie «Die Büchse der Pandora», jenes mythologische Behältnis, ursprünglich ein irdener Krug, aus dem alles Übel – Krankheiten, Seuchen, Krieg – entwichen ist, das die Welt seitdem drangsaliert. Jetzt gibt es dem Projekt den Titel.
Der erste Teil eines vierteiligen Zyklus orientiert sich an Alessandro Manzonis epochalem Roman «I promessi sposi» (Die Verlobten oder Die Brauleute), der 1840 – 1842 in der endgültigen Fassung erschien, aber gut zweihundert Jahre früher in der Lombardei spielt, mithin in der von Pest, Hungersnot, Feudalwillkür und marodierende Landsknechten gepeinigten Zeit um 1630.
Philipp Scherer, Bass und Sprecher, liest einschlägige Passagen aus dem Werk, die er mit eigenen Gedanken zur aktuellen Pandemiesituation und Erinnerungen an seine Grossmutter verbindet. In seiner Lesart klingen selbst Romanpassagen, die in heutigen Ohren vielleicht etwas pathetisch und überhöht klingen mögen, ergreifend und echt.
Dazwischen entfaltet sich ein prächtiges musikalisches Programm, das sich ebenfalls aus Werken des frühen 17. Jahrhunderts lombardischer Komponisten speist. An den Pulten sitzen und stehen sechs Musikerinnen und Musiker, deren feinsinniges Zusammenspiel den Abend zu einem berührenden Genuss werden lässt – trotz der alles überschattenden Omnipräsenz des Todes.
Den Anfang macht die «Canzonetta spirituale sopra alla nanna» des Cremonesen Tarquino Merula. Das empfindsame Wiegenlied setzt das den Schlaf zu singende Kind mit dem Jesusknaben gleich bzw. die singende Mutter mit Maria, die mit ihrem Lied das Passionsgeschehen in dunkler Vorahnung vorwegnimmt: Leid, Furcht, aber auch Hoffnung prägen das mehrstrophige Stück. Hier erweist sich die genuine Musikalität des Ensembles, das über dem minimalistischen Gerüst zweier ostinater Basstönen ein filigranes Geflecht von immer wieder überraschenden Harmonien und Verzierungen spannt, was dem geradezu zu modern anmutenden improvisatorischen Stil Merulas ausgezeichnet entspricht. Für Innigkeit und feine Nuancierung in den einzelnen Stationen des Leidens sorgt Stephanie Pfeffers lichter, aber dennoch profllierter Sopran.
Andere Töne schlägt dagegen die Gaillard «La Battaglia» von Samuel Scheidt an, in der eine kriegerische Auseinandersetzung und Schlachtengeräusche zu hören sind, allerdings in sehr kultivierter, tänzerischer Ausprägung. Neben dem spielfreudigen Ensemble mit Lorenzo Abate (Theorbe), Magdalena Reisser-Dür (Cello) und Dmytro Kokoshynskyy (Cembalo) «duellieren» sich da der Zink von Theresa Ortner und die Barockvioline von Julia Schwob. Die beiden hervorragenden Musikerinnen lassen keine groben Geschütze auffahren, viel eher wird mit elegantem Florett ein höchst geistvoller Disput ausgetragen, wie es dem munteren Springtanz der gagliarda entspricht.
Des weiteren erklingen Musiken von Biber, Legrenzi, Rossi und Schütz: Musik die ergreift und gleichermassen tröstet. Den grossartigen Abschluss macht Claudio Monteverdis «Laudate Dominum». Und jetzt erfährt das eher auf Trauer, Leid und Tod gestimmte, aber keinesfalls monochrom schwarze Programm eine hoffnungsvolle Komponente. Und wiederum überzeugt Stephanie Pfeffers klar geführter. glockenheller und farbenreicher Sopran; das jubelnde Alleluja der Schlussphase begleitet uns hinaus in die dunkle Novembernacht...
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