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In West Side nichts Neues

Den eingefleischten Arthouse-Kinogänger mutet das Umfeld etwas ungewohnt an. Doch irgendwie passt es zum Film: das Pommes-Chips-Tüten-Geraschel, das Zisch-Plop beim Öffnen von Getränkedosen, der Popcorn-Duft. Denn: Auf dem Programm steht Steven Spielbergs Neuverfilmung des legendären Musicals «West Side Story» von Leonard Bernstein (Musik) Arthur Laurents (Libretto), Stephen Sondheim (Songtexte) und Jerome Robbins (Choreographie) aus dem Jahr 1957.

Ein Remake des mit mehreren Oscars ausgezeichneten Kultfilms aus dem Jahr 1961 – die Bühnenpremiere des Musicals hatte wie gesagt vier Jahre zuvor in New York stattgefunden – ist ein gewagtes Unterfangen; zu nachhaltig haben sich Bilder, Szenen und Musik im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Der Doyen des Blockbusters, vor kurzem fünfundsiebzig geworden und vielseitiger Schöpfer unzähliger und sehr unterschiedlicher Filmklassiker von «Der Weisse Hai» über «E.T.» und «Jurassic Park» bis zu «Schindlers Liste», darf sich solches zutrauen. Zwar soll er den Film offenbar als «grösste Herausforderung meiner Karriere» bezeichnet haben, doch – so viel darf gleich festgehalten werden – das Wagnis ist mit wenigen Abstrichen gelungen und entwickelt noch immer eine erstaunliche Sogwirkung. Und dies, obwohl, oder vielleicht gerade weil Spielberg sich nicht anheischig macht, etwas gänzlich Neues zu schaffen oder dem Stoff eine forcierte Aktualität – beispielsweise die jüngsten «Black Lives Matter»-Thematik oder die aktuelle Migranten-Problematik – aufzupfropfen, wie wir das von Oper und Schauspiel bis zum Überdruss kennen. Und was, ohne es explizit zu benennen, ja im Stück bereits gegenwärtig ist.

Nostalgie und Authentizität

Spielbergs Lesart gibt sich betont nostalgisch. Kostüme, Frisuren, Dekor, Autos, Hausinschriften, alles orientiert sich an den späten 1950er Jahren, was sogar die Tafel an einer der vielen Baustellen bestätigt, welche der Kameraflug im Intro einfängt: Hier, auf den Abbruchhalden der einstigen Slums von San Juan Hill, so ist da zu lesen, entstünde eine neue Wohn- und Kulturarea, das Lincoln Center. Vorläufig jedoch dominieren Schutt, Schmutz, Trümmer, Maschenzäune und Metallgitter, Abraum und Abrissbirnen die Szenerie. Hatten die Locations im alten Film noch eher gewirkt wie eine naturalistische Bühne, so zielen die jetzigen Schauplätze mitten ins Weichbild der pulsierenden Metropole. Hier knallen die testosteronlastigen Gangs der Sharks und der Jets, der puerto-ricanischen Einwanderer und der amerikanischen Weissen, aufeinander und befeuern die unaufhaltsame Gewaltspirale, die keinen Platz für Versöhnung und schon gar nicht für die Lovestory der beiden Jugendlichen aus den verfeindeten Lagern zulässt.


Man mag diesen historisierenden Rückgriff kritisieren. Doch der verstörende Rassismus, der hier zutage tritt, ist auch ohne inszenatorische Tricks assoziativ problemlos in die heutige Zeit zu übertragen; das Publikum darf sehr wohl mitdenken! Zudem bezeugt Spielberg damit auch Respekt vor dem Original und, mehr noch, er vertraut der unverwüstlichen emotionalen Kraft der literarischen Vorlage des shakespeareschen Dramas «Romeo und Julia», dessen Zeitlosigkeit bereits das Musical mit seiner Übertragung ins urbane 20. Jahrhundert absolut stimmig vollzogen hat. Jene immer wieder berührende Tragik ob des unsinnigen Todes junger Menschen als Opfer sozialer Borniertheit und rigiden Klassendünkels. Jene Geschichte, von der man – selbst wenn man den Ausgang kennt – doch immer wieder hofft, sie möge sich doch noch zum Besseren wenden.

Trotz der mitunter fast peniblen Orientierung am 60jährigen Original, gibt es einige subtile, aber effektvolle Veränderungen, die den Altmeister am Regiepult, aber ebenso die Qualitäten von Tony Kushners neugefasstem Drehbuch verraten. So werden immer wieder ganze Passagen in Spanisch in den Dialog eingebaut und unübersetzt belassen. Entsprechend sind auch die Angehörigen der Sharks keine überschminkten Weissen, sondern entweder echte Latinos oder sie haben lateinamerikanische Wurzeln. Neu ist ebenfalls die Rolle der Valentina, gespielt von der 90jährigen (perfekt gelifteten) Rita Moreno mit den wachen Augen.

Sie gab die unvergessliche Anita im Streifen von 1961 und soll scheint’s – mehr als nur Cameo-Star – im Remake für die Authentizität aus puerto-ricanischer Sicht gesorgt haben. Als Witwe des ursprünglichen Drugstore-Betreibers Doc, eine extra für sie geschaffene Figur, ist sie die Arbeitgeberin von Tony und erklärt ihm und den Jets bisweilen liebevoll, aber nachdrücklich, wo’s langgeht – allerdings, man weiss es nur zu gut, scheitert die Stimme der Vernunft an der Unbeugsamkeit der jungen Machos hüben und drüben. Dennoch entspinnt sich zwischen ihr und dem jungen Ex-Kriminellen Tony über die Generationengrenze hinweg ein berührendes Spannungsverhältnis.

Dass gerade dieser Tony (Ansel Elgort) in solchen zwischenmenschlichen Begegnungen ziemlich farblos bleibt, ist bedauerlich. Man kann sich kaum vorstellen, dass dieser Junge mit dem hübschen Bubengesicht als – wenn auch unwillentlicher – Mörder im Knast gesessen, dass er als Boss die Bande der Jets angeführt hat. Seine dunklen Seiten, auch seine Bemühung, sich von seiner tristen Vergangenheit zu lösen, bleibt schiere Behauptung. Ebenso wenig kann man sich vorstellen, dass sich die strahlende Rachel Zegler in der Rolle der Maria in diesen sympathischen, aber letztlich harmlosen Typen à coup de foudre verliebt haben soll. Denn diese Maria ist eine wunderbare junge Frau, die erahnen lässt, dass sie gewillt ist, ihren eigenen Weg zu gehen, auch gegen den Widerstand und die patriarchale Attitüde ihres Bruders. Gerade das erotische Spannungsfeld zwischen ihr und Tony bleibt, abgesehen vom Ohrwurm Tonight, tonight, wenig glaubhaft. Mit einem stärkeren Partner wäre Zegler wohl zu noch gesteigerter Intensität fähig gewesen, wie sie das in einem kurzen Moment und natürlich unter anderen Vorzeichen gegenüber ihrem dominanten Bruder Bernardo, dem köstlich gockelhaften David Alvarez, beweist.


Musikalisch gibt es minimale Veränderungen gegenüber der Originalpartitur. Die Reihenfolge der Songs wurde mitunter leicht umgestellt, klanglich aber kaum verändert (wenn die Erinnerung nicht täuscht), sodass der Wiedererkennungseffekt garantiert ist.

Brillante Bilderflut

Ähnliches lässt sich vom optischen Eindruck sagen. Kameramann Janusz Kamiński leistet ganze Arbeit. Raffiniert setzt er die Kontraste zwischen Szenen von praller Farbigkeit, die an die glamourösen Hollywood-Zeiten erinnern, und Sequenzen von bedrohlicher Düsternis in Sepia-Tönen aus früher cineastischer Ära. Dazwischen schiebt er ab und zu kurze, aber prägnante Blacks als Übergänge – gewissermassen Generalpausen in der Partitur der beeindruckenden Bildsprache.


Vorab sind da die fulminanten Tanz- und Gruppenszenen, in der Totalen oder fokussiert auf einzelne Akteure. Die Dynamik der Kameraführung entspricht kongenial der Energie und dem Tempo der Choreografie, die nicht nur von atemberaubender Präzision ist, sondern auch Witz, Eleganz und pure Lebenslust versprüht. Ein Kabinettstückchen an perfekt getimter Choreo ist die Szene in der Glamourwelt des Kaufhauses, wo die Latinas mit Staubwedeln und Eimern bei der nächtlichen Putzaktion zugange sind (I feel pretty). Voller Verve und gewürzt mit einem Schuss «fingerschnipsender» Ironie sind sodann die coolen Aufmärsche der beiden Gangs. Und brachiale Wucht steuert die Kampfszenen. Einer der Höhepunkte ist und bleibt mit ihrem faszinierenden Wechselrhythmus jedoch die sarkastische amerikanische «Nationalhymne» (I like to be in America), angeführt von der quirligen Ariana DeBose als Anita und ihrem Lover Bernardo. Auch die übrigen Rollen sind gut besetzt, so dass das Zusammenspiel aller Elemente – Story, Musik, Spiel und Bild – ein rasantes, mitreissendes, sentimentales und, ja, bei aller Brillanz mitunter auch etwas kitschiges Spektakel ergeben.


Jedenfalls taumelt man nach zweieinhalb Stunden ziemlich benommen ins Foyer. Da warten bereits zwei (puerto-ricanische? jedenfalls spanisch sprechende) Reinigungsfrauen mit ihren Staubsaugern, um den Saal vom Popcorn-Hagelschlag zu säubern...

Bilder © 20th Century Studios



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