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Tutto Puccini

Es gibt – ohne Gewähr für Vollständigkeit – eine Piazza Trittico, eine Gelateria Butterfly, ein Hotel Le Villi (***), ein B&B Bohème, ein Sportcafé Nessun dorma. Dazu eine Via Tosca, eine Via Turandot, Via Gianni Schicchi, Via La rondine, Via Tabarro... Und selbstverständlich ein Viale Giacomo Puccini. – Eccoci a Torre del Lago, Teil des für seinen Strand und seinen Carnevale berühmten toskanischen Badeorts Viareggio an der Küste Versilia Ligure.




Berühmt gemacht hat das 11’000-Seelen-Städtchen, das sich auf den schmalen, einst sumpfigen Landstreifen zwischen Tyrrhenischem Meer und Lago di Massaciuccoli zwängt, Giacomo Puccini (1856–1924). Geboren ist er zwar nicht hier, sondern in Lucca, wenige Kilometer landeinwärts. Dort steht auch ein Denkmal des Komponisten, in eleganter Pose sitzend, den obligaten Glimmstängel in der Hand: ein Bellimbusto wie man in Italien sagt. In Bronze, mit Hut und – trotz sommerlicher Bruthitze – hochgeschlagenem Mantelkragen, Zigarette zwischen den Lippen, steht er auch hier, in Torre del Lago. Der Ort, den er schon seit Kindheitstagen kannte, wurde ab 1891 Wohnsitz, Refugium, Arbeitsstätte und schliesslich auch letzte Ruhestatt. Hier lebte er – che scandalo! – in wilder Ehe mit seiner Geliebten Elvira Bonturi, verheiratet und Mutter zweier Kinder, die er erst zwanzig Jahre später, nach dem Tod ihres Mannes und als die Liebe zwischen ihnen längst durch Giacomos zahlreichen Seitensprünge und Elviras krankhafte Eifersucht zum Albtraum geworden war, doch noch ehelichte. Eine Marmortafel an seiner Villa verkündet in pathetischen Worten, dass der Maestro «in diesen Mauern Traumfiguren hat lebendig werden lassen, auf dass sie dem Universum den Ruhm Italiens verkünden sollten». Weit weniger abgehoben war zweifellos die Kumpanei der einfachen Torrelaghesen, mit denen Puccini, selbst noch als erfolgreicher Künstler, Nächte durchzechte, Karten spielte, Weibergeschichten austauschte und als passionierter Nimrod in der Gegend herumballerte.



Die Vita dieses Machos, Egozentrikers und Künstlers, selbst Stoff für ein Opernlibretto, geht uns durch den Kopf, während wir uns manierlich in die langen Schlangen vor dem Gran Teatro all’aperto G. P. (eine architektonische Scheußlichkeit aus dem Jahr 1966) einreihen und uns wie ein riesiger Tatzelwurm stetig vorwärts und treppauf schieben, um ins fächerförmige Freilichtauditorium zu gelangen, das rund 3200 Menschen Platz bietet. Heuer geht die 69. Auflage des Festivals Puccini über die Seebühne, und den Auftakt macht «La Bohème» in der Neuinszenierung des französischen Schauspielers und Regisseurs Christophe Gayral. Dazu hat sich viel Lokalprominenz eingefunden: Frauen mit riskanten Stilettos, wallenden L’Oréal-Mähnen, bauchfreien Tops; Männer in Sneakers, mit Sonnenbrille über der Stirn und hippem Bun am Hinterkopf, die Hemdenbrust zwei Knöpfe zu tief geöffnet, aber auch mehrere kravattierte Honoratioren und ein paar pompöse Uniformen... Während das gemeine Volk die Plätze einnimmt, bleibt die Schickeria noch für eine Weile palavernd stehen – für die Galerie und das Handy... Keine andere Sprache kennt einen treffenderen Ausdruck für dieses Spektakel, das überall zwischen Milano und Martinafranca mit Inbrunst und Könnerschaft gepflegt wird: pavoneggiarsi, abgeleitet vom Wort pavona (Pfau).



Dirigat im «Blindflug»

Dem soziokulturellen Theater vor der Vorstellung folgt alsogleich ein weiteres (Schmieren-) Theater: Der Auftritt des Dirigenten Alberto Veronesi. Doch warum trägt der Maestro ein schwarzes Schweißband über der Stirn? Etwas ungewohnt, denke ich, aber verständlich. Als der Maestro das Pult erreicht hat, dreht er sich zum Publikum, zieht sich die Binde über die Augen und deklariert: «Non voglio vedere queste scene!» Was das Publikum mit Zischen und unflätigen Rufen, unter denen buffone und scemo die harmlosesten sind, quittiert. Auch nach der Pause dirigiert Veronesi weiterhin unbeirrt mit verbundenen Augen... Ihn hat offenbar in Rage gebracht, dass die Regie Puccinis wohl populärste Oper, die auf Henri Murgers «Scènes de la vie de bohème» (1851) basiert und im Paris der 1830er Jahre spielt, ins heiße Frühjahr 1968 verlegt. Aus den Bohémiens, den notleidenden, idealistischen und antibourgeoisen jungen, im Grunde harmlosen Künstlern und Intellektuellen, sind demonstrierende politische Heißsporne geworden. Nur, was szenisch und textlich unzweifelhaft feststeht: Das Stück beginnt explizit an Heiligabend. Die Pariser Unruhen der 68er dagegen brachen ebenso unzweifelhaft im Mai aus...




Doch nein, wir wollen nicht kleinlich sein! Gayral folgt damit dem heutzutage beinahe zwanghaften Regie-Credo, ein Stück nur ja nicht in der vorgesehen Epoche spielen zu lassen, sondern im Hier und Jetzt (oder Vorgestern), um uns Zuschauern die Geschichte näher zu bringen. Dagegen ist nichts, aber auch gar nichts einzuwenden! Dennoch, um es gleich vorwegzunehmen: Hier ist der Ansatz nur mäßig überzeugend, denn er bringt eigentlich keine neue Dimension in den Plot. Vor allem aber ist er bei weitem keineswegs so aufregend, wie es der furiose Dirigent mit seiner theatralischen Geste suggeriert. Im Nachhinein erfahren wir, dass das Komitee des Festivals Veronesi für die künftigen Aufführungen suspendiert hat, dieser seinerseits aber an seinem Vertrag festhält – immer mit Augenbinde, versteht sich. Vermutlich allerdings mit zwei Gucklöchern versehen oder halbtransparent, da fürs Operndirigat der Blickkontakt mit der Bühne ab und zu doch durchaus von Vorteil ist, selbst wenn der Bürgermeister von Viareggio im Lokalblättchen die Farce ironisch herunterzuspielen suchte: Maestro Veronesi kenne offensichtlich die Partitur auswendig. Und noch ein hübsches Detail: Veronesi, der bei den letzten Regionalwahlen auf der Wahlliste der Fratelli d’Italia stand, soll vom Staatssekretär für Kultur der Regierung Meloni zu seinem Protest angespornt worden sein. Wer sagt, dass die Oper ein unpolitisches Genre sein? Allerdings weiß man nicht, ob Veronesis Unmut sich an der ziemlich saloppen Darstellung der Mimì oder doch eher an der «kommunistischen Militanz» des Regiekonzepts entzündete...



Bühnenbildner Christophe Ouvrard macht sich die Drehbühne geschickt zunutze. Fürs erste und letzte Bild blicken wir in die versiffte studentische Mansarde, wo die vier Kumpane frierend rumalbern, den gutbürgerlichen Plastikchristbaum ironisch mit Glitzertand bestücken und den Vermieter, der mit seinen fünf Kinderchen auftritt, um die Miete einzufordern, ins Leere laufen lassen. Der Maler Marcel, der laut Libretto an einem Gemälde mit dem Zug durchs Rote Meer pinselt, produziert jetzt Flugblätter und Affichen: Geballte rote Fäuste – immerhin, die Farbe ist gewahrt! – mit markigen Sprüchen wie «Sois jeune et tais-toi», «Stop CRS», «La beauté est dans la rue» oder «L’État c’est moi», geschmückt mit einer Karikatur General de Gaulles, Feindbild der extremen Linken. Und damit wir kapieren, wie ernst das alles gemeint sein könnte, menetekelt es in flammend roten Lettern an der Wand: «La vérité est révolutionnaire». Aber wie gesagt, so heiß ist das alles nicht gemeint.




Im Fortgang der Handlung hält sich der Regisseur dann einigermaßen an die Vorgabe, die man gerade bei Puccini, der seine Figuren wie unter dem Brennglas zeigt und die Szenerie klar vorgibt, schwerlich umgehen kann. Dennoch versucht Gayral auch die weibliche Hauptfigur in sein «revolutionäres» Konzept einzubinden, indem er sie nicht als schüchterne, vom Tod gezeichnete Grisette darstellt. Seine Mimì stapft in kessen Stiefeln und kurzem Kleidchen daher, sie pafft (und kifft?) und greift immer mal wieder zur Flasche. Verständlich, dass sie sich in jener poetischen Szene, da sie und Rodolfo sich im Dunkeln beim Tasten nach dem zu Boden gefallenen Schlüssels sachte näherkommen, nicht lange ziert, die Stiefel abstreift und, ganz im Sinne der sexuellen Revolution, mit Rodolfo flugs ins Bett hüpft – wie praktisch, dass in der Studentenbude ein – zwar potthässliches – Bettsofa steht, das mit zwei Handgriffen zum Lager der Lust mutiert.


Auch im nächsten Bild, das im belebten Quartier Latin beim Café Momus spielt – Bistrotischchen, gestreifte Markisen, blinkende Weihnachtsdeko, Kellner in Gilets und langen Schürzen –, wird showmäßig politisiert. Als Persiflage demonstriert die bürgerliche Phalanx – Mütter, Kinder, Heilsarmee – mit Protestzügen und Spruchbändern für Tradition, Vaterland und Gott. Dazu Ballonverkäufer, Akrobaten, Straßenhändler... Da kann Rodolfo seiner neuen Flamme die «Cuffietta», das Häubchen, kaufen – in Form einer St.Niklaus-Mütze! Alles adrett und im Pariser Flair bunt und hübsch ausstaffiert vom Team Tiziano Musetti/Edoardo Russo, lustvoll gesungen und anschaulich agiert vom Chor und Kinderchor des Festivals.





Auch im vorletzten Bild an der Barrière d’Enfer betont das Regieteam das Pariserische: Zu sehen sind keine Marktfahrer, keine Zollschranke im grauen Februarmorgen, auch keine schäbige Vorortskneipe, sondern ein Cabaret à la Pigalle, wo Marcel und Musetta logieren – er als Störmaler, sie als Diseuse. Abgesehen von den genannten politischen Einsprengseln, die nur die Oberfläche tangieren, bleibt alles recht brav und konventionell.


Beim Schlussapplaus scheint die kontrovers aufgenommene Inszenierung die erhitzten Gemüter einigermaßen zu vereinen, der Beifall fürs Musikalische übertönt den Protest für Regisseur und Dirigent. Unter dem «blinden», aber soliden, zuverlässigen Dirigat können die Sänger – eine junge, talentierte Truppe – ihre Stärken gut entfalten; die paar technischen Übertragungsschwierigkeiten gleich zu Beginn sind bald einmal behoben. Das Orchester sorgt immer wieder für intensive Momente.


Claudia Pavone mit facettenreichem, in allen Registern leicht ansprechendem Sopran akzentuiert, dem Regiekonzept gemäß, weniger die Fragilität, sondern den Lebenshunger der Mimì. Selbst in der Sterbeszene gibt sie sich erstaunlich vital. Die Intimität dieses sonst so herzzerreißenden Moments wird unterlaufen durch die Masse der Protestler, die zum Finale, kaum hat die Ärmste ihre letzten Töne ausgehaucht, erneut die Bühne entern und – man gibt sich zeitgemäß – auch noch fürs Klima demonstrieren; die Bohémiens finden sich im unsentimentalen Polit-Alltag wieder. Die Taschentücher im Publikum bleiben trocken.


Den Rodolfo gibt Oreste Cosimo mit warmem, hellem Timbre, eher die lyrische Seite des Charakters betonend, aber doch, wo nötig, mit tenoralem Aplomb, viril und strahlend, aber kein routinierter Liebhaber, sondern im besten Wortsinn ein überschwänglicher Jungspund voller Ideale bezüglich Politik und Leben. Und Liebe!


Alessandro Luongo zeichnet einen souveränen Marcello mit nonchalanter Bonhommie: liebenswürdig, leidenschaftlich und witzig. Das stimmige Freundesquartett komplettieren Antonio Di Matteo (B) als sarkastischer Colline und Sergio Bologna (Bar) als geistreicher Schaunard, beide mit Spielwitz und guter vokaler Präsenz. Eine ausgezeichnete Mischung zwischen Koketterie, Frivolität und emotionaler Wärme trifft Federica Guida mit silberhellem Sopran und glamourösem Auftritt. Auch an der Besetzung der kleineren Rollen gibt’s nichts auszusetzen.


Alles in allem: eine durchaus valable Produktion, was die lächerliche Aktion des Dirigenten doch ziemlich unangebracht erscheinen lässt. Oder sind wir bezüglich szenischer und ideologischer Eingriffe gegenüber dem Original bereits zu sehr abgebrüht?


Bilder: © Lorenzo Montanelli | Festival Puccini | Bruno Rauch

28.07.2023

Das Festival Puccini dauert noch bis zum 26. August 2023

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