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Da ist der «Wurm» drin

  • Autorenbild: Bruno Rauch
    Bruno Rauch
  • 29. Mai
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 31. Mai

Schon während der schwungvollen Ouvertüre zu Verdis Oper «Luisa Miller» platziert die Regisseurin Kateryna Sokolova im Luzerner Theater einen veritablen Coup de théâtre: Mitten auf der schwarzen Bühne steht ein nach vorne offenes Kabäuschen. Darin ein Schreibpult mit Stuhl. Ein paar Bücher. An die Wände geheftet unzählige Notizzettel. Und ein bleicher Mann, strähniger Rotschopf, Bart, Kniehosen, Weste, weiße Strümpfe – Es ist Friedrich Schiller im Jahr 1784 in seinem engen Schreibkabinett. Rote Haare und Bart sind wohl eher maskenbildnerische Freiheit – Schiller war allenfalls rotblond und meistens glattrasiert.

Was fehlt, ist die legendäre Kiste mit den faulenden Äpfeln als olfaktorisches Stimulans unterm Pult. Klar ist dagegen, dass der junge Poet unter Einsatz von Federkiel und Körper sichtlich mit seinem Text ringt. Auch später wird er gelegentlich durch die Szene geistern, um in stummer Erregung und Faszination der tragischen Verstrickung der Figuren zu folgen, die seine Fantasie erschaffen hat. Das ist hübsch gedacht, bleibt aber letztlich Staffage, da die Figur mit Ausnahme des Beginns eher beobachtend am Rand des Geschehens erscheint. Der junge Schauspielstudent Timon Crienitz identifiziert sich jedoch voll und ganz mit seiner Rolle, und immerhin darf er den Protagonisten jeweils die nötigen Requisiten beschaffen: Verlobungsring, Pistolen, Giftampulle. Liebe – Intrige – Gift, so sind denn auch die drei Akte der Oper überschrieben.


Jetzt, mit den letzten Tuttischlägen der Ouvertüre, bricht die Klause auseinander, wir befinden uns im imaginären Universum, sozusagen im Kopf des Dichters. Und des Komponisten. Bühnenbildner Nikolaus Webern hat hierzu ein reizvolles Szenarium geschaffen: einen Bühnenraum aus zweidimensionalen Pappkulissen im Stil des 18. Jahrhunderts, realistisch-verfremdeten Prospekten, die sich in nahtlosem Wechsel auf dem Schreibpult staffeln, dessen Tischplatte im eigentlichen Wortsinn inzwischen zum Bühnenpodest geworden ist. Wenn sich der Chor – Landleute, Volk, Commedia-dell’arte-Figuren, Hofschranzen, ein Amor und sogar drei blökende Lämmer – darauf drängeln, kann das schon mal zu bombastischem Dichtestress führen, zumal sich die Kostümbildnerin Constanza Meza-Lopehandía bezüglich Formen und Farben in sehr freier Interpretation des «Barockoko» keine Schranken auferlegt hat.

Gleich zu Beginn tauchen wir in Luisas heile Jungmädchenwelt ein, die mit Blumenranken, Schaukel und Festons an ein Poesiealbum erinnert. Später überlagern, durchkreuzen und konterkarieren Versatzteile die einzelnen Szenen wie in einem Pop-up-Buch (im 19. Jahrhundert Aufklappbücher genannt): hier das Schloss des Grafen von Walter, da eine geheimnisvolle Waldlandschaft, dort eine dräuende Gebirgskulisse, seitlich ein historisches Segelschiff... Symbolhaftes und Konkretes mit nostalgischem Touch, aufwändig im Stil alter Theatermalerei gestaltet und in entsprechender Beleuchtung (Ulrich Eh) effektvoll ins Bild gesetzt.

Komponist Giuseppe Verdi Librettist Salvadore Cammarano Dichter Friedrich Schiller

(1813–1901) (1801–1852) (1749–1805) (alle © wc)

 

Eine wichtige Etappe im Schaffen Verdis

Schiller und San Carlo, das geschichtsträchtige Theater von Neapel und der deutsche Dichter, sind zwei Fixpunkte in der künstlerischen Laufbahn von Giuseppe Verdi. Im San Carlo wurden zwar nur zwei seiner – je nach Zählung mit den Überarbeitungen – insgesamt 32 Opern uraufgeführt: «Alzira» (1845) und «Luisa Miller» (1849), die im Zentrum dieses Berichts steht.

 

Neben der «Scala» und dem «Fenice» ist das Theater am Golf bedeutsam für den jungen Verdi, weil hier Salvadore Cammarano als Bühnenbildner, Regisseur und vor allem als Librettist wirkte, ein gewiefter Theaterpraktiker, der mit der Form und der Funktion des Melodrams, aber auch dem Geschmack des Publikums von Grund auf vertraut war. Sein Gespür für dramatische Zuspitzung und emotionale Intensität, sein Sinn für die dramaturgische Struktur in enger Verbindung mit einer ausgeprägten Sensibilität für die musikalischen Anforderungen machten ihn zu einem fruchtbaren Gesprächspartner auf «Ohrenhöhe» für viele Komponisten. Er verfasste rund fünfzig Operntexte, Inbegriff des italienischen romantischen Dramma per musica, durchdrungen von düsterer Atmosphäre, kulminierend in gewalttätigen Extremsituationen, gelenkt von Wahn und Obsession. Und meistens der psychologischen Seelenschau stärker verpflichtet als der konsistenten Logik! Donizettis «Lucia di Lammermoor» und Verdis «Trovatore» sind zwei beispielhafte Schöpfungen aus seiner Feder. Es verwundert daher nicht, dass Verdi mit dem geschätzten Librettisten schon früh über ein «Lear»-Projekt diskutierte, das ihn zwar zeitlebens beschäftigte, das aber nie realisiert werden sollte – vielleicht, weil Cammarano bereits 1852 mit 51 Jahren starb.

 

Mit «Kabale und Liebe» wendet sich Verdi zum dritten Mal einem Stoff von Friedrich Schiller zu; vorausgegangen waren «Giovanna d’Arco» (Die Jungfrau von Orleans, 1845) und «I masnadieri» (Die Räuber, 1847), über drei Jahrzehnte später sollte noch «Don Carlo» (1884) folgen. Ursprünglich hatte er die Absicht, für das neapolitanische Opernhaus einen patriotisch unterfütterten Knaller im Stil von «Nabucco» (Mailand, 1842) oder «La battaglia di Legnano» (Rom, 1849) auf die Bühne zu bringen, und dazu bereits ein Szenarium entworfen, basierend auf einem Risorgimento-Roman «L’assedio di Firenze» (Die Belagerung von Florenz).

Die Macht der Zensur

Dazu muss man sich die aktuelle historische Situation vergegenwärtigen: 1849 war ein Schlüsselmoment für das junge Italien auf seinem Weg zur nationalen Einigung, dem sogenannten Risorgimento. Im Februar dieses Jahres war, nach der Flucht des Papstes Pio IX, die Römische Republik unter Giuseppe Mazzini proklamiert worden. Sie überlebte allerdings nur knapp fünf Monate, nachdem das Heer der republikanischen Rebellen unter Giuseppe Garibaldi der Übermacht der französischen Truppen weichen mussten, und so die alte Herrschaft, die kirchliche Autorität eingeschlossen, wieder etabliert wurde. Gleichzeitig waren auch die Unabhängigkeitsbewegungen in Norditalien von der Besatzungsmacht Österreich zerschlagen worden. Nicht nur Lombardo-Venetien blieb fest in habsburgischer Hand. Auch in anderen italienischen Staatsgebilden wie der Toskana oder dem Königreich beider Sizilien wurden liberale Verfassungen zugunsten von repressiven Regimes aufgehoben. Unter der besonders rigiden Zensurbehörde in Neapel war an eine Revolutions-Oper natürlich nicht zu denken; Verdi und sein Librettist Cammarano entschlossen sich also für Schillers «bürgerliches Trauerspiel» von 1784 und besannen sich auf dessen ursprünglichen Titel «Luise Millerin». Es ist offensichtlich, dass das Politische, die ausgeprägt sozialkritische Dimension, die Darstellung des Ständekonflikts; dass auch Schillers trotzige Auflehnung gegen die absolutistische Willkür, gegen Mätressenwirtschaft und Nepotismus, gegen Machenschaften, Intrigen und eben Kabalen in der Oper zugunsten der empfindsamen Liebestragödie eher in den Hintergrund treten. Oder sagen wir so: ...nur zwischen den Zeilen zu lesen beziehungsweise zu hören sind, denn der liberal denkende Verdi musste sich gerade bezüglich dieser Aspekte dem deutschen Dichter seelenverwandt gefühlt haben. Die beiden waren übrigens bei der Entstehung von Bühnenstück beziehungsweise Oper fast gleich alt, nämlich Mitte dreißig.

Der Dichter und seine Figuren


Ebenfalls aus pragmatischen Gründen muss aus Ferdinand bei Schiller ein Rodolfo werden, um eine riskante Anspielung an den für seine repressive Politik berüchtigten König beider Sizilien, Ferdinando II von Bourbon-Sizilien (1830–1859), zu vermeiden. Auch der Schauplatz wird aus einer deutschen (württembergischen) Residenzstadt in eine zwar trügerische, aber unbedenkliche Tiroler Dorf-Idylle transferiert, die eher an Bellinis «Sonnambula» oder Donizettis «Elisir» denken lässt. Auch das Personal der Oper muss sich den eheren Gesetzen der spätneapolitanischen Operntradition unterordnen. Nicht geben durfte es beispielsweise zwei rivalisierende, einigermaßen gleichgewichtige prime donne – hier Bürgermädchen und Herzogin (aber man denke auch an Elisabetta und Eboli oder Aida und Amneris) –, wie es sich Verdi gewünscht hätte. Der Chor hat musikalisch reizvolle Auftritte, bleibt aber weitgehend dekoratives Element zur Eröffnung oder Abrundung eines Bildes.

 

Dennoch werden wir mit «Luisa Miller» Zeuge einer äußerst spannenden und aussagekräftigen Entwicklungsstufe innerhalb von Verdis musikpsychologischer Meisterschaft. Etwa im nicht leicht zu realisierenden a cappella-Quartett, das, zwar noch sehr viel einfacher gebaut, das geniale «Rigoletto»-Quartett» erahnen lässt. Auch die bei Verdi immer wieder anzutreffende Konstellation der Vatergestalten, die – ob Rigoletto, Germont, Filippo oder Amonasro – mit ihrer fatalen Fürsorglichkeit und Sturheit das Geschick ihrer Kinder korrumpieren. Und schließlich Luisa selbst, die mit ihrem Spinto Sopran und den lichten Koloraturen in Begleitung einer Solo-Klarinette sehr wohl als Ausgangspunkt für die späteren eindrücklichen Frauengestalten wie Gilda, Violetta bis hin zu Leonora und sogar Desdemona gelten darf.

Ein immer wiederkehrendes Motiv bei Verdi: Väter, die dem Glück ihrer Kinder im Wege stehen.


Das Luzerner Sinfonieorchester unter Stabführung von Jonathan Bloxham nimmt sich dieser utopischen, luziden und lebendigen Partitur – vielleicht der hellsten und im genuinen Sinn positivsten, die Verdi geschrieben hat – mit Verve und Sorgfalt an. Das alerte Orchester wird dem vorwärtsdrängenden Zug dieser Musik in hohem Maß gerecht, ohne deshalb die feingezeichneten Details und die Transparenz außer Acht zu lassen. Das Dictum von der «schönsten Donizetti-Oper Verdis» scheint Ansporn zur berückenden Klangsinnlichkeit, die sich im emotionalen Überschwang da und dort im oberen Bereich der Dynamik bewegt – was man indes in Kauf nimmt, zumal die Sänger sich souverän ins klangliche Gesamtbild einfügen.

Die dominierenden Väter

Neben dem präzisen Chor kommt – Verdi-Thematik! – den zwei Vätern entscheidendes Gewicht zu, die beide das Glück ihrer Kinder vereiteln. Der eine, um seine Tochter vor einem möglichen Skandal zu bewahren; der andere, weil er aus Standesdünkel für seinen Sohn die Ehe mit einer Adligen anstrebt: Einerseits André Baleiro als Miller, der seinem generös strömenden, noblen Bariton bei Bedarf auch kämpferische, cholerische Klangfarben beimischen kann. Andererseits Michael Hauenstein als Graf von Walter, Rodolfos Vaters, der mit dunkler timbriertem Bassbariton glänzt, was ausgezeichnet zum opportunistischen Charakter des Emporkömmlings passt, der Hinterlist mit Präpotenz zu vereinen weiß.

Als sein intrigant-devoter Schlossverwalter mit dem sprechenden Namen Wurm agiert Christian Tschelebiew, der sich für seinen ersten Auftritt – ein vielsagendes Bild – aus Schillers Schreibtischschublade windet. Sowohl darstellerisch als auch stimmlich bringt der agile Bassist beste Voraussetzungen für Wurms perfide Winkelzüge mit. Und obwohl sie nur zwei Auftritte hat und Verdi ihren Charakter später gewiss schillernder und vielschichtiger gezeichnet hätte, gibt Cláudia Ribas, Mezzosopran, die stilvolle, leicht unterkühlte, aber umso dezidiertere Nebenbuhlerin Herzogin Federica von Ostheim, deren glanzvoll-steife Robe und gepuderte Turmfrisur zweifellos viel zum Profil der Figur beiträgt.

Eyrún Unnarsdóttir ist eine beeindruckende Luisa, die mit brillanten Koloraturen in ihren hoffnungsfrohen und noch unbeschwerten Auftritten ebenso überzeugt wie mit den trauerumflorten, aber nie larmoyanten Kantilenen und Schmerzensausbrüchen am Ende: Da ist eine junge Frau, die sich in einer patriarchal dominierten Umgebung ihre Würde und Selbstachtung bewahrt, auch wenn sie dafür mit dem Tod bezahlt. Ihr Kostüm unterstreicht diese Haltung: Erst zieren blaue Vogelsilhouetten auf weißem Grund ihren Faltenrock, später sind sie entschwunden, an ihrer Stelle leuchtet nur noch reines Blau.

Azer Zada gibt einen etwas behäbigen Rodolfo, auch er bärtig, was optisch nicht so recht zum heißblütigen und gleichzeitig unbedachten Jungspund passen will. Stimmlich dagegen zeichnet er mit angenehm timbriertem, ausladendem Tenor und klug dosierter sentimentaler Emphase das ergreifende Bild eines jungen Mannes, der die Balance zwischen hingebender Zuneigung und ich-bezogenem Besitzanspruch erst noch finden muss. Dementsprechend packend gelingt die geniale Arie, das eigentliche Juwel der Oper «Quando le sere al placido», wo er mit Schmelz und Gefühlstiefe seinen Zwiespalt kundtun darf – getragen von juvenilem Weltschmerz und emotionaler Spannung zwischen Liebe und Enttäuschung.

Zu überwältigender Intensität schließlich steigert sich die Finalszene mit den entrückten Koloraturen Luisas, ihrem innigen Gebet, der irregeleiten Wut Rodolfos und der erschütternden Erkenntnis seines fatalen Irrtums, was auch der impulsive Mord am windigen Widersacher Wurm nicht wieder gutmachen kann; das gemeinsam getrunkene Gift tut seine Wirkung...


Das sind Momente, die uns entsprechend benommen zurücklassen. Und dankbar, dass das Luzerner Theater wieder einmal einen etwas unbekannteren Schatz aus dem Œuvre des großen Musikdramatikers auf die Bühne gebracht hat.

Szenenfotos: © Luzerner Theater – Ingo Hoehn


27.05.2025

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1 Comment


Guest
May 31

Unglaublich, was dieses kleine Theater immer wieder fertigbringt. Man hat nach der Lektüre deines Textes gleich den Wunsch, sich sofort ein Ticket zu kaufen für diese Luisa Miller.

R. G.

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