Liederabend im Zürcher Opernhaus. Pausengespräch. «Tolles Konzert, tolles Kleid», konstatiert eine Bekannte, die ich zufällig in der Konzertpause im Foyer treffe. «Und du wirst sehen, nach der Pause trägt sie ein anderes. Das machen alle Diven so.»
Das Kleid, von dem die Rede ist, ist tatsächlich eine bodenlange, weinrote Seidenrobe, raffiniert gerafft, dezent dekolletiert und dezent mit rot schimmerndem Strass geschmückt. Und nein, diese «Diva» hat es nicht so gemacht; sie tritt nach der Pause im selben Kleid auf. Hat ganz offensichtlich weder divenhaftes Gehabe noch einen zusätzlichen Blickfang nötig; die ungeteilte Aufmerksamkeit ist ihr auch so gewiss. Dank ihrer natürlichen Ausstrahlung, dank ihrem makellosen Sopran, dank ihrer berührenden Interpretation.
© Bild: Shirley Suarez
Sie: Das ist die Luzerner Sängerin Regula Mühlemann, die am Zürcher Opernhaus nach ihrem letztjährigen Auftritt mit «Liedern der Heimat» das Publikum bezauberte, und die jetzt das Haus mit einem Recital wiederum (fast) füllt und zu enhusiastischem Schlussapplaus beflügelt.
Mit sympathischen persönlichen Worten richtet sie einen Dank an das zahlreiche Publikum für das Interesse gegenüber dem heutigen Programm mit weniger Bekanntem. Und das, so Mühlemanns Worte, eher auf die leisen, innigen Töne setze, auf Tiefgründiges und Subtiles statt auf das Grelle, Glamouröse einer zunehmend lauten, extravertierten Welt, die längst auch den Kunstbetrieb erfasst habe. Man nimmt ihr diese Bemerkung ab, weil sie ungekünstelt, authentisch aber auch nicht anklagend daherkommt.
Mit derselben Selbstverständlichkeit flicht die Sängerin immer wieder kurze Erläuterungen zum Programm, teilweise aus recht persönlicher Sicht, zwischen die einzelnen Liedgruppen. Mitunter übernimmt die Pianistin Tatiana Korsunskaya das Mikrophon und ergänzt mit Bemerkungen ihrerseits – ein ungezwungenes Wechselspiel zwischen zwei Künstlerinnen, das auf eine große Vertrautheit und bewährte künstlerische Zusammenarbeit schließen lässt.
Einen expliziten Titel trägt der Liederabend nicht. Doch könnte man als umspannendes Motiv über das klug zusammengestellte Programm – zugegeben vielleicht ein bisschen überspannt – eine Überschrift à la Marcel Proust setzen: «À l’ombre des jeunes filles en fleurs» (Im Schatten junger Mädchenblüte) – obwohl für einmal das französische Chanson ausgespart bleibt, dafür, im zweiten Teil, Lieder zweier zumindest hierzulande eher unbekannter angelsächsischer Komponisten erklingen. Wohl eine Reverenz ans englischsprachige Publikum in der Carnegie Hall, New York, und der Wigmore Hall, London, wo die beiden den Liederabend bereits zu Gehör gebracht haben.
© Bild: Shirley Suarez
Thematisch jedenfalls kreist ein großer Teil der vorgestellten Lieder um die Begriffe Blüten-Blumen-Mädchen, was in poetischen und aus heutiger Warte bisweilen ziemlich bemühten Metaphern und Anspielungen immer wieder zum Ausdruck kommt.
So huldigt denn gleich das erste Lied diesem Gedanken: Franz Schuberts «Viola» auf ein vielstrophiges Gedicht des Dichterfreunds Franz von Schober. Erzählt wird die tragische Geschichte eines Veilchens – vielleicht eine unscheinbare Schwester von Mozarts «Veilchen» –, das sich vom Geläute des vorwitzigen Schneeglöckleins allzu forsch ans Licht gewagt hat, aber nicht wie jenes dem Tritt einer unachtsamen Schäferin erliegt, sondern der eisigen Kälte. Schon hier offenbart sich die hohe Gesangkultur der Sängerin. Mit fein abgestufter, leichter Tongebung gestaltet sie die kleine Tragödie, macht daraus eine facettenreiche Opernszene, ohne den Operngestus zu strapazieren. Dem beharrlichen Läuten des Schneeglöckleins, das als wiederkehrendes Motiv das Lied durchzieht, verleiht sie von Mal zu Mal eine andere Nuance, bis es letztlich zum Grabgeläut der Viola wird – unterschwellig versehen mit einer schalkhaften Warnung an alle, die sich von einem trügerischen Frühling täuschen lassen...
Es folgt das geheimnisvoll verschattete Lied «Die Gebüsche», nach einem erstmals 1802 publizierten Gedicht aus Friedrich von Schlegels Sammlung «Abendröte». Aus der Naturbetrachtung – dunkle Auen, Sternenzelt, Meeresrauschen und Blättergelispel – schlägt uns Romantik pur entgegen. Spätestens hier ist die einfühlsame Pianistin zu erwähnen, die mit der perlenden Begleitung – fast durchgehende Sechzehntel-Sextolen – eine zauberisch-berückende Atmosphäre schafft. Darüber legt die Sängerin ein schwebendes Legato, ein gestaltetes Piano, wie man es selten hört – ganz im Sinne der Schlusszeile des Gedichts «… für den, der heimlich lauschet.»
Goethes zweifellos nicht ganz unbekannter «Musensohn» beschließt diese erste Abteilung. Aber wie Regula Mühlemann, im beherzten Einklang mit der Pianistin, den Sohlen dieses Götterjünglings Flügel verleiht, ist mitreißend. Wie gesagt, man kennt das Lied. Kein Liedsänger von Rang und Namen – Sängerinnen selbstverständlich «mit»gemeint –, der dieses Stück nicht im Repertoire hätte. Doch wo zuvor Ruhe und Kontemplation waren, ist nun Erregung und Ungeduld angesagt. Regula Mühlemann bringt diesen ungestüm vorwärtsdrängenden Impetus mit leichtem, silbernem Klang und beredter vokaler Agilität zum Ausdruck. Mit Schmunzeln erinnert man sich, wie sie den «stumpfen Burschen» der sich gockelhaft bläht und das «steife Mädchen», das sich possierlich dreht – auch inhaltlich eine umwerfende Gedichtzeile! – beim Tanz unter der Linde plastisch darstellt. Und wenn der Musensohn bzw. die Musentochter am Busen des geliebten Gegenübers endlich wieder zur Ruhe kommt, ahnt man, dass dies nicht von Dauer sein wird. Denn: nur Fliegen ist schöner. Und Singen sowieso!
Ein Strauß vom Strauss
Eine weitere Abteilung ist Liedern von Richard Strauss gewidmet, den «Mädchenblumen», op.22, auf Gedichte von Felix Dahn. Strauss komponierte den aus nur vier Liedern bestehenden Zyklus 1888, also im Alter von knapp 24 Jahren. Die Gattung Lied durchzieht Strauss’ gesamtes Schaffen. So hat er bis zur Jahrhundertwende rund hundert Lieder mit Klavierbegleitung geschrieben, bis zum Schluss seines Lebens wird ein weiteres Hundert dazukommen, dann allerdings verteilt auf fünf Jahrzehnte. Denn: Das elaborierte Wechselspiel zwischen Wort und Ton wird zunehmend auf der Opernbühne stattfinden, was ja die einmalige Zusammenarbeit mit dem Dichter Hugo von Hofmannsthal hinlänglich belegt.
Der Geschichtsprofessor Felix Dahn dagegen verdankt seinen etwas zweifelhaften Platz in der Literaturgeschichte einem über 1000 Seiten starken Romanepos mit dem Titel «Ein Kampf um Rom» (1876), das zur Zeit der großen Völkerwanderung in der Mitte des 6. Jahrhunderts spielt und sogar verfilmt wurde – mit Orson Welles, notabene. Auch die Gedichte, die der professoralen Feder entströmten, sind literarisch nicht gerade erste Wahl. Doch offenbar hatten sie beim jungen Strauss doch einen Nerv getroffen, ein Vorgang, der ihn durch sein ganzes Liedschaffen nach eigenen Worten immer wieder inspirierte: «...es stößt mir ein Gedicht auf, zu dem sich, oft bevor ich es nur ordentlich durchgelesen habe, ein musikalischer Gedanke findet: ich setze mich hin; in 10 Minuten ist das ganze Lied fertig.» Ob das hier auch der Fall war, wissen wir nicht; uns mag der schwülstige Kitsch befremden oder, im besten Fall, die metaphorische Überspanntheit amüsieren, womit hier ein für das 19. Jahrhundert typisches Frauenbild entworfen wird, umweht vom üppigen Parfum des Fin de siècle.
Doch die beiden Frauen setzen dem Überschwang eine wohltuende Natürlichkeit, sogar ein wenig Unbekümmertheit entgegen, was man durchaus polarisierend empfinden kann. Der Sopran von Regula Mühlemann, der schon früh durch Silberklang und gläserne Klarheit, wenn auch nicht unbedingt durch ein individuelles, charakteristisches Timbre gefallen mochte – man erinnert sich an ihr munteres Ännchen an der Seite von Juliane Banse, Michael Volle u. a. in der optisch überhitzten «Freischütz»-Verfilmung von 2010 – diese Stimme hat mittlerweile doch entschieden an Persönlichkeit und Reife gewonnen, ohne das lichte Timbre einzubüßen.
So geht Mühlemanns Interpretation der floreal-musikalischen Ergüsse eher in Richtung einer spielerischen, jedoch keineswegs oberflächlichen Lesart. Heitere Anmut anstelle von abgründigem Pathos. Oder nochmals anders: Antwort einer modernen heutigen Frau auf den von Männern inszenierten Schwulst vergangener Zeit... (Immerhin gab’s schon damals Röslein, die sich mit Dornen gegen wilde Knaben zur Wehr setzten!)
© Fotos: Bruno Rauch
In «Kornblume» – mild, anspruchslos, still waltend und mit blauen Augen – lässt sie, korrekterweise müsste man sagen: lässt das Duo Mühlemann-Korsunskaya, die Musik ohne grosses Dazutun ruhig dahinfließen. Der Mohn, rund, gesund, sommersprossig braungebrannt, kreuzbrav und kreuzfidel, tanzfreudig und rotblutig – wird mit Nonchalance (desinvoltura wäre der treffendere Begriff) und augenzwinkerndem Witz, der schon eine Zerbinetta erahnen lässt, angegangen. Mit braunen seelenvollen Rehaugen, oft in Tränen, geboren, sich zu ranken, da er aus eigner Kraft nie sich zu heben vermag, wird der Epheu – mit -ph- bitte! – vorgestellt. Das Klavier erschließt hier geheimnisvoll verschattete Klangräume, und man wünschte sich Mühlemanns Tongebung etwas weniger hell, weniger licht und klar für die unterschwellige Trauer um Liebe, Tod und Liebestod. Möglicherweise sollte eine allzu pathetische Deutung vermieden werden, die ihrem Stimmcharakter auch nicht unbedingt entsprechen würde. Als viertes folgt die mysteriöse, elfenhafte Wasserrose: ätherisch, nachtlockig, mit Alabaster-Wangen und seidenen Wimpern... Der Klavierpart lässt stellenweise an das silberne Flirren der Rosenübergabe im «Rosenkavalier» denken, während die Singstimme mit nuancenreicher Farbpalette besticht – eine Sophie war Mühlemann ja bereits, ob da auch eine künftige Marschallin heranreift? Mit dem Ständchen, auch bekannt in der Orchesterfassung von Felix Mottl, aber unvergleichlich duftiger und leichtfüßiger als jene, entlassen uns die Künstlerinnen in die Pause: Zwei quirlige Elfen, wie aus einem «Sommernachtstraum» entwischt...
Musikalisch und stilistisch eine andere Tonalität wird im zweiten Teil des Abends mit leicht folkloristisch inspirierten englischsprachigen Songs angeschlagen. Dominick Argentos (1927–2019) gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Komponisten von Opern und Kunstliedern des 20. Jahrhunderts. Etwas Besonderes ist sicherlich sein Zyklus mit vertonten Briefen berühmter Komponisten wie Mozart, Schubert, Chopin u. a. Fürs Konzert wurde der Zyklus der sechs «Elizabethan Songs» ausgewählt, so benannt, weil sie auf Texten von Autoren jenes grossen Zeitalters beruhen, darunter Shakespeare und Ben Jonson. Sie passen insofern gut ins Gesamtprogramm, als sie ebenfalls Natur, Liebe und Vergänglichkeit zum Thema haben. Hier hat die Sängerin erneut Gelegenheit, unterschiedliche Facetten ihres Könnens zu zeigen: Die in sich gekehrte, kontemplative Stimmung in Liedern über Schlaf und Tod. Die sprudelnde Fröhlichkeit des nahenden Frühlings. Die komödiantische Seite im shakespearschen Lied über den Winter, der Mariannes Nase rot werden, die Milch im Topf gefrieren und die Predigt im Gehuste der Gemeinde untergehen lässt. Mit Ernst und Innigkeit gestalteten die beiden Musikerinnen dann die abschließende Hymne an die Göttin Diana.
Als letzte Gruppe erklangen sechs Gesänge des Engländers Frank Bridge (1879–1941), ursprünglich ein Spätromantiker, nach dem 1. Weltkrieg jedoch ein Wegbereiter der Moderne (Berg und Schönberg) auf der Insel. Über ihn erfuhren wir, dass er nur einen einzigen Schüler hatte, dafür einen äußerst begabten und erfolgreichen: Benjamin Britten. Die hier ausgewählten Gesänge stammen mit einer Ausnahme aus den Jahren vor dem Krieg und sind von lyrischer, anmutiger, sanfter Stimmung geprägt, die dem jugendlichen Charme der Sängerin und der achtsamen Partnerin am Flügel bestens entsprechen. Lediglich «Mantle of Blue», im letzten Kriegsjahr entstanden, schlägt melancholischere Töne an, indem es das ikonografische Bild der Schutzmantelmadonna evoziert. Die intime, fast meditative, introspektive Stimmung unterstreicht nochmals, was Regula Mühlemann zu Beginn über das Programm gesagt hatte: Stille, Einkehr. Den Abschluss des Programms aber setzt das fulminante «Love Went A Riding» – Bridges «Walkürenritt», der vom Ritt der Liebe über die Lande erzählt. Auch hier setzte Mühlemann stärker auf federnde Eleganz, gepaart mit funkelnder Höhe, als auf die theatrale Emphase, was das Publikum dennoch von den Stühlen riss.
© Bild: Verena Blattmann
Als Dank gab’s ein hübsches Couplet von Arthur Sullivan (aus «Patience»?). Und dann, weil das Publikum nicht genug hatte, als Rausschmeißer doch noch etwas Französisches: Juliettes koloraturengespickte Arie «Ah, je veux vivre dans ce rêve» aus Gounods «Roméo et Juliette» – Schwung, Liebestaumel, Traum. Aber auch der geht einmal zu Ende, und man verlässt den Saal beglückt. Und mit einem Wurm im Ohr.
Schaufenster der Stadelhofer Apotheke – © Bild: Bruno Rauch
16. 10. 2024
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Da kann ich nur zustimmen, lieber Bruno! Das war ein wunderbarer, beglückender und beflügelnder Liederabend mit den beiden Künstlerinnen- und danke einmal mehr für diesen ausführlichen und bereichernden Bericht!♡