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Reigen (un-)seliger Geister

Die mythologische Gestalt des Orpheus entspricht dem Idealbild eines Opernhelden par excellence. Denn: Seine genuine Sprache ist Gesang, und das seit er die Opernbühne um 1600 mit Musik von Peri und Caccini und – als ersten Höhepunkt – von Monteverdi betrat. Seine Gestalt, sein Gesang, seine unerschütterliche Liebe und seine Hadesfahrt haben Komponisten durch die Jahrhunderte inspiriert: Telemann, Gluck, Haydn, Offenbach bis hin zu Birtwistle und Glass. Und nicht selten erfolgte sein Auftritt im Kontext einer gattungsgeschichtlichen Reform der Oper.

Bilder: @ Opernhaus Zürich – Monika Rittershaus


Das gilt unter anderem auch für Christoph Willibald Glucks Orphée et Eurydice. Schon das Werk selbst durchlief diverse Stadien: Ursprünglich war Orfeo ein Altkastrat, dann mutierte er zum Soprankastraten. In der Pariser Fassung von 1774, war Orphée, wie er jetzt hiess, Tenor, ein sogenannter Haute-Contre. Im 19. Jahrhundert, in der Bearbeitung von Hector Berlioz, wurde die Partie einer Altistin anvertraut.


Dieser Fassung folgt die Aufführung vom Februar 2021 am Zürcher Opernhaus, einmal mehr ohne Publikum und mit dem aus dem nahe gelegenen Probensaal eingespielten Orchesterklang. Auch wenn so die knisternde Beziehung zwischen Graben und Bühne fehlt, Koordination und technische Leistung sind superb. Allerdings fragt man sich, warum die Musik nicht im leeren Theater spielte. Man hätte durchaus gern mal einen Blick ins Orchester geworfen, zumal das, was sich auf der Bühne abspielte, wenig überzeugte.

Doch bleiben wir bei der Musik. Die Phiharmonia Zürich bezaubert mit schlankem, differenziertem Klangbild, das bei Bedarf – beispielsweise wenn’s «infernal» wird – auch den furiosen Zugriff nicht scheut. Dirigent Stefano Montanari, selbst ein famoser Barockgeiger, schafft ein packendes Umfeld für die drei Solistinnen: Alice Duport-Percierals Liebesgöttin Amor im Look einer Tupperware-Blondine mit silberhellem Sopran. Chiara Skerath als Eurydice, deren gehaltvoller, warm timbriertem Sopran in schierem Kontrast zu ihrem puppenhaften, himmelblauen Tüllkleidchen steht. Und die Mezzosopranistin Nadezhda Karyazina, die mit ihrer stimmlichen Präsenz, ihrem vokalen Farbreichtum, ihrer weitgespannten Tessitur und Intensität selbst im zartesten Piano die von der Regie verordnete darstellerische Untätigkeit vergessen lässt. Zumindest fast.


Das marthalersche Déjà-vu

Damit ist das Stichwort gefallen: Regisseur Christoph Marthaler greift einmal mehr in den Fundus seines sattsam bekannten Bewegungsrepertoires. Und weil die originale Vorlage, neben den (hier zwangsläufig unsichtbaren) Hirten und Larven des Schattenreichs, nur das erwähnte Solistinnentrio vorsieht, stockt die Regie das Personal um sieben weitere Mitglieder der M-Familiy auf: Lemuren der Unterwelt? Bestattungsbeamte? Höllen-Rezeptionisten? Zaungäste aus dem Dies- oder Jenseits? Sie tun, was sie bei Marthaler immer tun: Verrenken sich in spastischen Zuckungen, stürzen zu Boden, quälen sich wieder hoch, um erneut beziehungslos aneinander vorbeizudriften oder sich zu wirren Klumpen zu formen. Ab und zu albern sie vor der Lifttür – hat man das nicht schon öfters gesehen? Aber dafür ganz neu: Sie tragen immer wieder Urnen von hier nach dort und zurück – richtig, es geht auch um Sterben und Tod! Beim zweiten, endgültigen Tod der Geliebten wird eine Urne gar zur explodierenden Tischbombe... Dass der bekannte «Reigen seliger Geister» wörtlich als Wunschkonzerthit für eine Zia angekündigt wird, ist Originalität pure – wow!

Für die Ausstattung zeichnet Anna Viebrock. Kann man dem Bühnenbild – abgesehen vom doch ziemlich platten Bild des Hades-Liftes – in seiner irritierenden Spiegelbildlichkeit noch eine gewisse Faszination abgewinnen, so kommt einem der ewige Retro-Mief doch nur allzu vertraut vor. Dem entspricht auch der Klamottemix von exquisiter Hässlichkeit: zusammengestottert aus den Textilsammlungen vergangener Jahrzehnte. Gewiss sehnt sich niemand nach einem Orpheus mit Tunika und Lyra, aber derart geschmacklos, schlechtsitzend und trist? Wahrlich, da hätte man nicht ungern den Blick mitunter ins Orchester schweifen lassen, doch der «Fluch» des Steamings fokussiert gnadenlos auf die Bühne. Und lenkt gerade dadurch von der eigentlichen Story ab, deren Zeitlosigkeit, trotz zeitgebundem, für unser Empfinden unvermitteltem Lieto fine, och immer berührt.

Opernhaus Zürich – CH.W. Gluck: Orphée et Eurydice (Februar 2021)



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