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Schwarz-weisse, aber farbige Erinnerungen

Selten erlebt man es, dass das Kinopublikum nach einer Vorführung applaudiert. In einer Vorführung von Kenneth Branaghs Schwarz-Weiss-Drama «Belfast» passierte es. Nach einem Moment des betroffenen Schweigens. Vielleicht waren viele irischstämmige Zuschauer im Saal? Ebenfalls Anteil an dieser Betroffenheit hat sicherlich – auch ohne direkte Parallele – der gegenwärtige Krieg in der Ukraine.

Kenneth Branagh, der für diesen Film als Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion fungiert, 1960 in Belfast geboren, ist also Nordirländer bzw. Brite. Seinen Namen als Regisseur und Darsteller verbindet man mit Shakespeare-Adaptionen, Wallander-Filmen, und in der jüngsten Wiederauflage von Agatha Christie «Death on the Nile» gibt er als Regisseur auch gleich den Meisterdetektiv Hercule Poirot mit gigantischem Schnauzbart.


Während der durch Corona bedingten Zwangspause habe er sich intensiv mit seiner Herkunft und seiner Kindheit beschäftigt, bekennt der umtriebige Branagh. und blendet zurück in die Zeit seiner Kindheit, genauer: in die späten 1960er-Jahre, jene dunkle Periode von Gewalt und Gegengewalt, die als «The Troubles» in die Geschichte einging.

Klar, dass der Film keine Geschichtslektion erteilen will und kann. So werden denn die traumatisierenden Ereignisse zwar immer wieder eingeblendet, zum Beispiel in Form von kurzen Fernsehschnipseln oder Radionews. Eine vertiefte Einbindung in die Historie, der politische Diskurs bleiben ausgespart – wohl um der Optik eines Neunjährigen zu entsprechen, der die bürgerkriegsähnlichen Zustände als einschneidend wahrnimmt, deren Hintergründe ihm aber nicht einsichtig sind.

Dem Zuschauer aber, der nur mehr mit Begriffen wie Sinn Féin und IRA laviert, hätte eine politische Verankerung zur Vernetzung und Einordnung der einzelnen Szenen geholfen – und auch dem Film als Ganzem mehr Brisanz und Kohärenz verliehen. So aber haftet dem Film etwas Episodisches an, vergleichbar mit dem Blättern und Innehalten in einem reichhaltigen Fotoalbum. Bref: Ein kleiner historischer Abriss hätte nicht geschadet – ob dies auch filmgerecht gewesen wäre, ist zugegebenermassen eine andere Frage. Hier aber soll es kurz Platz haben:


Der Irland-Konflikt hat seine Wurzeln bereits im 12. Jahrhundert in der Eroberung des Nordostens der Insel durch die Engländer. Im 16. Jahrhundert erfolgte die Ansiedlung von Schotten und Walisern in der Provinz Ulster mit dem Ziel, die britische Kultur, die – damals junge – Anglikanische Kirche und die Loyalität zur Krone auf der irischen Insel zu etablieren, was zur Entrechtung der katholischen Iren führte. Diese wurden zunehmend in ihrer Religionsausübung gehindert, ihres Landbesitzes enteignet, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Eine erste Rebellion wurde 1798 niedergeschlagen und im Unionsgesetz von 1801 der irische Staat aufgelöst. Wie in ganz Europa formierten sich auch in Irland nationalistische Gruppierungen, die eine Loslösung vom Empire anstrebten. Doch der sogenannten Easter Rise, der Osteraufstand von 1916, wurde innerhalb von fünf Tagen von den britischen Kräften brutal niedergeschlagen. Damit begann ein langer Bürgerkrieg zwischen Unionisten und Republikanern. 1921 wurde die Insel geteilt: in Nordirland (Teile der Provinz Ulster) und den Freistaat Irland im Süden. Letzterer löste sich als eigenständige Republik Irland 1949 aus dem Commonwealth. Das bei England verbliebene Nordirland dagegen erlebte eine Spaltung seiner Bevölkerung in die katholischen Nationalisten mit irischen Wurzeln, deren Ziel die Wiedervereinigung mit der Republik war, und die protestantische Unionisten britischer Herkunft, die für den Verbleib im Vereinigten Königreich kämpften. 1969 eskalierte der schwelende Konflikt erneut und führte zu einer dreissigjährigen Gewaltspirale.

In dieser unruhigen Zeit spielt der Film. Der Einstieg jedoch präsentiert sich wie ein touristischer Werbetrailer für Belfast aus der Vogelschau: Man taucht ein ins pulsierende Weichbild der Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten – Kathedrale, Kastell, Hafen, alles attraktiv und in Farbe. Doch dann ein harter Schnitt, ein Sprung über die Friedensmauern mit ihren bunten Graffitis, die sogenannten Peace walls, die die Wohnviertel der Unionisten von denen der Republikaner trennen. Sie stehen noch heute als Fanal, dass dieser Konflikt noch längst nicht abgeschlossen ist und gerade durch den Brexit eine neue – religionsunabhängigere – Dimension erfährt.


Von Farbe zu Schwarz-Weiss

Jetzt wechselt der Film abrupt von Farbe zu Schwarz-Weiss (Kamera: Haris Zambarloukos). Dennoch strotzen die Bilder von Unbekümmertheit und Lebenslust. Kinder spielen, besuchen die Schule; Erwachsene gehen ihren Besorgungen nach, betreiben Ihre Geschäfte oder Butiken. Wir lernen Buddy (Jude Hill) kennen, der in der Obhut seiner Eltern zusammen mit seinem älteren Bruder Will (Lewis McAskie) in einer protestantischen Familie aufwächst. Die grassierende Arbeitslosigkeit zwingt den Vater (Jamie Dornan), in England zu arbeiten; er ist nur an den Wochenenden bei seiner Familie. Die Erziehung liegt also weitgehend bei der Mutter (Caitriona Balfe). Doch da sind auch noch die Grosseltern «next door» (Judi Dench und Ciaràn Hinds), die sich liebevoll um die beiden Jungen kümmern und ihnen die Welt erklären – Grosseltern, wie man sie sich nur wünschen kann. Eine kleine, im positiven Sinn «heile» Welt, die Branagh hier vorführt: ein Familienidyll und ein soziales Umfeld, vielleicht in der Erinnerung etwas verklärt, aber getragen von Herzenswärme, Zärtlichkeit und, ja, auch Humor.

Dazu gehört beispielsweise jener Gottesdienstbesuch, wo der Pastor seiner Gemeinde die beiden Lebenswege in flammender Rhetorik schildert, der eine, der zur Erlösung, der andere aber in die ewige Verdammnis führt. Nur, links oder rechts, welcher führt wohin? – Daran kann sich Buddy beim besten Willen nicht mehr erinnern, als er das Gleichnis zu Hause zeichnerisch verarbeiten will – eine echte Kalamität für den neugierigen Buben! Oder die amüsante Szene, wo er nach der von Cousine Vanessa geplanten Diebestour im benachbarten Krämerladen nur eine magere Beute vorzeigen kann, ein anderes Mal aber unversehens in eine der vielen Plünderungen gerät und schliesslich unfreiwillig und zum Entsetzen der Mutter mit einer Packung Waschpulver nach Hause kommt. Eine andere leichtfüssigere Episode zeigt die Eltern an einer Veranstaltung, wo der Vater seiner Frau mit dem Evergreen «Do not foresake me» den Hof macht – ein augenzwinkernder Verweis auf Hollywoods Traumfabrik. Tatsächlich, so bezeugt es der Autor selbst, war sein Familienleben geprägt von gemeinsamen Besuchen im Theater oder im Kino. Mit Filmen wie «High noon» oder Bühnenstücken wie «A Christmas Carol» und vielen anderen liess man sich verzaubern, entfloh man für ein paar Stunden dem Alltag. Als farbig gezeigte Sequenzen bedeuten diese regelmässigen Ausflüge in eine andere Welt Nahrung für Geist und Seele. Und sie beflügelten die Fantasie des kleinen Buddy-Kenneth, der dereinst ein vielseitiger Theaterschaffender werden sollte. Authentisch hört sich ebenfalls der Soundtrack des Singer-Songwriters Van Morisson an, auch er ein waschechter Belfaster.

So ist denn vorerst die Welt – zumindest an der Oberfläche und aus der Sicht des unbeschwerten Jungen – noch völlig in Ordnung. Als Ritter mit hölzernem Schwert und dem Deckel einer Mülltonne als Schild tobt er mit seinen Gespielen durch die engen Gassen seines Wohnquartiers. In der Schule freut er sich unbändig, dass er aufgrund von gutem Abschneiden in einer Prüfung um eine paar Bankreihen vorrücken darf und so neben seine strebsame katholische (!) Mitschülerin zu sitzen kommt, in die er verknallt ist.

Mit den Augen eines Neunjährigen

Doch dieses kindliche Paradies wird jäh erschüttert, als am 15.August 1969 der randalierende Mob der Unionisten durchs Quartier prescht, um die Katholiken einzuschüchtern. Scheiben werden zertrümmert, Autos und Häuser in Brand gesteckt, Pflastersteine und Molotowcocktails fliegen... Menschen, die bis anhin als Nachbarn friedlich miteinander lebten, werden unversehens und ungewollt zu Gegnern. Die Mutter kann ihre beiden Söhne gerade noch nach Hause holen und unterm Küchentisch in Sicherheit bringen. Als Protestanten hätten sie eigentlich wenig zu befürchten. Als der Vater aber von einem Unionistenführer aufgefordert wird, sich ihnen anzuschliessen oder einen Tribut zu zahlen, wird es echt brenzlig. Da der Familie auch noch eine etwas undurchsichtige Steuerschuld droht, beginnt der Vater vom Auswandern zu träumen. Vancouver, Sidney – da wäre man weit weg von Fiskus und Gewalt. Doch die Mutter möchte bleiben, und für Buddy ist ein Wegzug schlicht ausgeschlossen. Dennoch entschliesst sich die Familie nach England zu übersiedeln. Der Grossvater ist inzwischen gestorben, die Grossmutter bleibt. «Go now. Don’t look back», flüstert sie den Abreisenden zu. Die lassen, ungeachtet der von Attentaten und Gewaltexzessen erschütterten Stadt, ein Stück Geborgenheit zurück...

«Für die, die blieben. Für die, die gingen. Und für diejenigen, die verloren wurden», setzt Branagh als Widmung in den Abspann seines Opus. So verlässt man denn den Kinosaal mit einem leisen Lächeln, gleichsam ein Stück bitter-süsse Schokolade. Dem Film gelingt eine Mischung von Wehmut und Leichtigkeit, von Tragik und Heiterkeit. Das mag man angesichts der Gräuel als etwas oberflächlich und sentimental empfinden, doch andererseits ist gerade das fehlende Pathos eine Stärke des Films, der einen liebenswerten und – wie es in der Erinnerung nun mal angelegt ist – mitunter durchaus lückenhaften Einblick in den kleinen Kosmos von familiären und nachbarschaftlichen Banden erlaubt. Einen gewichtigen, wenn nicht den Haupanteil daran hat der hochkarätige schauspielerische Einsatz aller Beteiligten. Schlicht umwerfend ist die darstellerische Leistung von Jude Hill in der zentralen Rolle des Buddy, mal gewitzt, mal nachdenklich, mal altklug, mal naiv – wie es Kinder eben sind. Und wenn man die Bilder der beiden Jungen, Jude und Kenneth, vergleicht, so staunt man über deren Ähnlichkeit. Der autobiografische Ansatz des Films – Branagh spricht von «autofiktonal» – erhält so gleich eine doppelte Authentizität. Und dass es sein persönlichster Film ist, eine «Herzensangelegenheit», wie er sagt, ist leicht nachzuvollziehen.

Kenneth Branagh (l.) und Jude Hill – Filmstills: © Universal Pictures International



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