Totentanz für vier Violettas
- Bruno Rauch
- vor 23 Stunden
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Stunden

«Mon cadavre préféré», lautet die morbid-makabre Inschrift, die in großen Lettern über den drei breiten Türen an der Rückwand des tristen Raums prangt, über den drei Portalen, die womöglich in noch unwirtlichere Gelasse führen, die man sich gar nicht erst vorstellen mag. Links vorne, unter einer geöffneten Klappe in der Seitenwand, türmt sich ein schmutzig grauer Schuttkegel... Kohle? Schlacken? Asche? Rechts ist ein Podest zu sehen, darauf ein Sarg, den vier Totengräber später auf Schmutzhaufen knallen werden. An der Wand ein großes Konterfei. Dazu Heizungs- oder Lüftungsrohre, blassgelb gekachelte Wände... Diffuses Licht, teils aus Oberlichtern, teils aus funktionalen Industrieleuchten taucht die Szenerie in eine düstere, unfrohe Atmosphäre.

Nein, wir sitzen nicht im falschen (Horror-)Film, sondern im Grand Théâtre Genève (GTG). Genauer: In Verdis «La traviata» in der Inszenierung von Karin Henkel, die hier ihre erste Operninszenierung vorlegt und – sagen wir’s gleich – grandios scheitert; als Schauspielregisseurin habe ich von ihr hinreißende Inszenierungen in Erinnerung.

Alphonsine. Marie. Marguerite. Violetta.
Hier also geht es um das kurze, intensive Leben, gezeichnet vom kometenhaften sozialen Aufstieg und dem frühen Tod durch Tuberkulose der Pariser Kurtisane Alphonsine Plessis, genannt Marie Duplessis (1824–1847). Unter dem Namen Marguerite Gautier war sie das reale Vorbild für die Titelgestalt in der Novelle «La Dame aux camélias» und dem darauf basierenden Theaterstück von Alexandre Dumas dem Jüngeren, einem ihrer zahlreichen Liebhaber. Und als Violetta Valéry ist sie die Traviata, «die vom rechten Weg Abgekommene», in Giuseppe Verdis intimster, innigster Oper; übrigens der einzigen, in der sich der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave einem zeitgenössischen Sujet zuwandten. Sie wurde, dies der Vollständigkeit halber, anlässlich ihrer Uraufführung 1853 im Teatro Fenice sehr zwiespältig aufgenommen, Verdi sprach gar von einem Fiasko, betonte aber, die Zeit werde anders urteilen – und er sollte Recht behalten. Mlle Duplessis starb zwar jung, aber keineswegs einsam und verarmt, wie das in der Oper oft dargestellt wird. Sie verschied in ihren Appartements an der Rue de la Ville de l’Évêque in Paris 8ième; ihr Sterben als Verlassene, Ausgestossene ist eine romantisierende Erfindung Dumas’. Ihr Grab befindet sich auf dem Cimetière de Montmartre.

Marie Duplessis, die Kameliendame (1824–1847) Alexandre Dumas fils (1824–1895)
Gemälde von Édouard Viénot, 1845 (beide iwikimedia commoms)
Dichtung und Musikdrama folgen – zumindest an der Oberfläche – der zeitgeistigen Mode des bürgerlichen Dramas mit der Schilderung der Pariser Halbwelt und der ehrbaren Dirne als Protagonistin, die ihr Glück um der «Moral» willen opfert. Sie verzichtet auf ihre Liebe zu Alfredo, wie es dessen Vater Germont mit patriarchalem Gehabe fordert, weil diese anrüchige Liaison die Heirat seines zweiten Kindes, einer Tochter, kompromittieren könnte.
Alfredo (im literarischen Vorbild Armand genannt) durchläuft in der kurzen emotionalen Beziehung zu Marguerite (Violetta) eine Art Éducation sentimentale, die ihn für die bürgerliche Ehe tauglich macht. Doch beide – Komponist und Schriftsteller – stellen diese gesellschaftliche Norm in Frage – nicht nur durch die offensichtliche Sympathie, die sie ihrer Heldin entgegenbringen, sondern auch durch ihre persönliche Haltung: Dumas war mit Duplessis eng befreundet, Verdi lebte mit Giuseppina Strepponi jahrelang in sogenannt «wilder» Ehe.

Es ist somit mehr als legitim, wenn aktuelle Inszenierungen den Fokus auf diese gesellschaftliche Doppelmoral und die patriarchale Toxizität legen, wie es längst gang und gäbe und mittlerweile auch nicht besonders originell ist. Karin Henkel tut es ebenfalls, aber sie sieht sich offenbar dem Zwang ausgesetzt, den Gehalt noch weiter aufzuladen, womit sie das sublime Werk arg in Schieflage bringt. Anders gesagt: Sie malträtiert die feingliedrige und ausbalancierte Struktur des Werks, das diese Gesellschaftskritik eh schon beinhaltet. Doch, so Henkel, es handle sich hier um eine Oper, in der es nur um Tod geht. Und was ist mit der Liebe, dem Lebenswillen, der Lebenslust? Erst diese Spannung, dieser Kontrast verleihen dem Werk Tiefe und Dringlichkeit und Brisanz, was den gewieften Theatermachern von damals klar war. Auch heutige Regisseure wären mit dieser Einsicht nicht schlecht beraten, statt einem Zeit(un)geist zu huldigen, der jegliche Identifikation, jegliche emotionale Betroffenheit als ewiggestrig, sentimental und obsolet verbietet. Damit soll keineswegs einem hyperrealistischen oder gar historisierenden Aufführungsstil das Wort geredet werden!
Verdis Partitur ist stärker
Dass sich die wegsezierte Betroffenheit dann doch wieder einstellt, ist neben Verdis Genialität das Verdienst der musikalischen Leistung auf der Bühne wie im Graben dieser Genfer Produktion. Paolo Carignani am Dirigentenpult und das Orchestre de la Suisse Romande entlocken der kammermusikalischen Partitur ein reiches Spektrum an Farben und Stimmungen. Sinnlicher Streicherklang, ausdrucksstarke Holzbläser und zupackendes Blech bringen die Gefühle zum Vibrieren, lassen aber auch Dramatik und emotionale Ausbrüche körperhaft erfahren. Ich fühle mich an ein Briefzitat Verdis erinnert, das der Maestro der Sopranistin Adelina Patti vor deren Premiere in Paris zukommen ließ und das sehr wohl auch für Carignanis Dirigat gelten kann: «Del resto pregate in mio nome il capo d’orchestra di far suonare piano, pianissimo, pianississimo e tutto andrà bene» (Turin, 1864)

Zurück zum Anfang: Wir befinden uns – man darf wählen – in einer abgefackten Bahnhofshalle, einem stillgelegten Hangar, einer Tiefgarage. Vielleicht auch in einem Krematorium, einer Leichenhalle, einem Obduktionssaal...Die fahrbaren, antiseptischen Seziertische lassen jedenfalls solches vermuten. Doch: Sehen so die Gemächer einer Dame von Welt – oder auch nur von Halbwelt – aus, selbst wenn wir uns noch so gern von Plüsch, Palmwedeln und Lüstern des 19. Jahrhunderts verabschieden? (Bühne: Aleksandar Denić)



Sei’s drum: Hier erlebt die sterbenskranke Violetta einen schmerzhaften Backlash ihres vergangenen Lebens. Dieses ist so bewegt, so bewegend und vielfältig, dass es hierzu offensichtlich vier Inkarnationen braucht.

Da ist besagte Todgeweihte, die, bereits am Tropf hängend, ihren eigenen Verfall, ihren eigenen Tod beobachtet. In der besuchten Zweitvorstellung sang die vortreffliche Jeanine De Bique diese Partie. Sie punktet mit facettenreichem, schlankem Sopran, sauberen Koloraturen, hochemotionalem Messa di voce und einem Piano, das auch im letzten Verklingen nichts an Energie und Intensität verliert. Um ihre erinnerte Rückschau zu verdeutlichen, ist ihr ein ebenfalls singendes Double zugesellt. Martina Russomanno verfügt über eine etwas weichere, innigere Stimmfärbung, was sehr wohl zu ihrem Part als, wenn man so sagen kann, inneres reflektierendes Alter Ego passt; man würde sie gern länger hören. Zwischen den beiden Violettas, jede auf ihre Art eine hochkarätige Sängerin, werden mitunter einzelne Passagen oder Arienabschnitte aufgeteilt. Zu unfreiwilliger Komik führt dies, wenn Vater Germont sich bei seinem Besuch erkundigt: «Madamigella Valéry?» Und beide wie aus einem Mund antworten: «Son’ io!»


Eher für einen Moment der Irritation und Verunsicherung sorgt gleich zu Beginn der Oper das Preludio zum 3. Akt! Kaum ist es verklungen, intoniert Martina Russomanno (alias Violetta 2) das zweite Couplet des «Addio del passato», gewiss laut Regiekonzept des Erinnerns ein absolut plausibler Eingriff – ob auch dramaturgisch und harmonisch schlüssig, sei dahingestellt. Es bleibt nicht bei dieser einzigen Umstellung und Veränderung: Das eigentliche Vorspiel folgt im Verlauf des 1. Akts. Die Karnevalsmusik im 3. Akt, ein brutaler Kontrast zur Sterbeszene, entfällt. Den Brief des alten Germont an Violetta liest nicht sie selbst, sondern ein Mädchen, und zwar auf Französisch. Dementsprechend fehlt auch Violettas emotionaler Ausbruch, «è tardi!» (zu spät). Dieses Mädchen ist eine weitere Verkörperung der Violetta als Kind, und zur Verdeutlichung des tragischen Schicksals wird es, mit einem Schild um den Hals «à vendre» an einen alten Lüstling verschachert – könnte es gar der alte Germont sein?

Es geht hier nicht darum, beckmesserisch sämtliche Eingriffe, Umstellungen und Striche in der Partitur anzuprangern, erlaubt sei jedoch, deren Tauglichkeit im Hinblick auf ein kohärentes Ganzes zu hinterfragen; die Erklärung, dass die Oper derart bekannt sei, dass sie jegliche Änderungen problemlos ertragen würde, greift jedenfalls zu kurz.
Schließlich gibt es noch eine vierte Violetta: die Tänzerin Sabine Molenaar, deren Körper und Glieder gleich einer willenlosen Puppe gebeutelt, verrenkt, missbraucht werden und die immer wieder als Leiche auf dem Schragen landet. So hat auch le docteur Grenvil (Mark Kurmanbayev) immer wieder zu tun mit Operieren und Sezieren – stammt der eingangs zitierte Spruch gar von ihm? Assistiert wird er von der Haushälterin Annina (Élise Bédènes) mit Schwesternhäubchen und weißer Uniform mit betonten Achselpolstern. Überhaupt scheinen es diese ausladenden Schulterpartien der Ausstatterin Teresa Vergho angetan zu haben.
Die vier Violettas tragen meistens schlichte schwarze oder weiße Kleider. Einmal wird Violetta 1 in eine opulente Robe gezwängt, die wie eine Blume (eine Kamelie) ausschaut, und sie daraus emporragt wie der Stempel einer Blüte – honni soit...


Auch Flora Bervoix (Yuliia Zasimova) steckt in einem kurzen, knallengen Kostüm mit kantigen Schultern genauso wie der Chor in grellem Türkis und Orange von bezaubernder Geschmacklosigkeit. Schlimmer indes ist, dass die Regie mit den Choristen kaum etwas anzufangen weiss. Zumeist stehen sie in Zweierreihe mehr oder eher weniger dekorativ herum. Auf Floras Fest im 2. Akt dürfen sie zur federnden Rhythmik der Musik ein wenig wippen und shaken und im Takt klatschen. Aber natürlich kann sich die Szene nicht aufs eskalierende Kartenspiel zwischen den feinen Herrn beschränken: Da muss ein währschafter Boxkampf zweier Muskelmänner her, die sich akrobatisch schlagen, bis einer flachliegt. Statt mit Karten gezockt wird wohl auf den Sieger gewettet. Eine Chiffre wofür? Geschlechterkampf, Hahnenkampf, Liebeskampf, Todeskampf? – Schwerer wiegt allerdings, dass man durch den durchaus gekonnt dargebotenen Fight vom eigentlichen Geschehen abgelenkt wird, das doch gerade hier seine akute Zuspitzung erfährt.


Alfredo, tadellos und mit echt lyrischem, selbst in den tenoralen Spitzentönen unangestrengtem Timbre von Julien Behr dargeboten, bleibt regiemässig unterbelichtet, zumal es kaum Kontakt zwischen ihm und seiner Angebeteten – welcher nun? – geben darf. Ja, doch, wir verstehen die Aussage. Schade ist es trotzdem.

Krass wird’s, als sich Alfredo den Sermon seines Vaters anhören muss – jenen Wunschkonzerthit, den Verdi bewusst in eine eingängig simple Melodie gekleidet hat, die sich in ihrer Biederkeit selbst entlarvt. Um jeglichen Widerspruch des Sohns im Keim zu ersticken, hat Giorgio Germont – der elegante Bariton von Tassis Christoyannis verleiht dem Greis Würde, Wärme und Unerbittlichkeit zugleich – mafiamäßig gleich vier Ganoven mitgebracht, die den ungebärdigen Sohn auf einem Stuhl festzurren und ihm den Mund mit Tesaband zukleben. Was der röhrende Hirsch dabei verloren hat, bleibt unklar.
Es wird noch krasser: Um seiner Suada weiteres Gewicht zu verleihen, hat Papa Germont auch gleich die Tochter, um deren gefährdete Heirat es geht, mitgebracht, die er nun mit einer Schüssel Blut übergiesst... wir ahnen die sexuelle Konnotation hinter dieser üblen Geste, die an eine Szene aus dem Horrorstreifen «Carrie» von Dan Brown erinnert. Dass sich Violetta für ihre wundersame Arie «Dite alla giovine» dem Alten auf den Schoß setzt, ist eine weitere schwer zu goutiernde Vorgabe der Regie.

Das zu Herzen gehende Duett «Parigi, o cara» ist ein weiterer musikalischer Höhepunkt, bedauerlich oder gar ärgerlich nur, dass sich der Chor, an vorderster Front Baron Douphol (David Ireland), als Gaffer auf die schäbigen Plastikstühle setzt, um sich an dieser innigen Szene zu weiden. – Irgendwann wird noch der «Brindisi» gesummt und dann erklingen ein paar Takte aus dem Preludio, das bereits am Anfang des Abends stand. Plötzlich bricht die Musik ab, es wird dunkel: Vielleicht der gelungenste Einfall dieses mit vielen rätselhaften, unschlüssigen und einigen wenigen überzeugenden Bildern überfrachteten Abends.

Fazit: Verdi selbst sah es offenbar ungern, wenn man in seinerzeitigen Inszenierungen das Geschehen ins vorige, also ins 18. Jahrhundert, verlegte, um eine «unschickliche» Aktualität zu umgehen; er wollte, dass die Geschichte in der damaligen Gegenwart und Gesellschaft (!) spielen sollte. Läge Frau Henkel mit ihrer «modernen» Lesart letzten Endes also richtig? Mag sein… aber...
Zumindest waren die dem Vernehmen nach lautstarken Buhrufe der Premiere bei der zweiten Vorstellung verstummt. Das Regieteam war nicht anwesend, somit galt der Applaus den Sängern und dem Orchester. Vollkommen zu Recht!


Zu den Bildern: In der besuchten Zweitvorstellung sang die dunkelhäutige Jeanine de Bique die Violetta, der bartlose Julien Behr den Alfredo – Szenenbilder: © GTG – Carole Parodi
17.06.2025
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Eine differenzierte, kluge Analyse! Die Lektüre ist wohl um einiges erfreulicher als der Opernbesuch!
U. M.
Upps – zum Glück war ich nicht dabei. Danke trotzdem oder erst recht für Dein Durchhalten am Abend und Dein spannendes und kenntnisreichs „Sezieren“!
M.