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Unwiederbringlich


Beste Freunde: Rémi (Gustav de Waele, l.) und Léo (Eden Dambrine, r.)


Ein suggestiver Beginn für einen Film! Er beginnt im Dunkeln. In einem leerstehenden Schuppen. Leise und geheimnisvoll. Flüsterstimmen. Zwei Jungen tuscheln konspirativ. Sie werden von irgendwelchen unsichtbaren Feinden – Ritterarmeen, Extraterrestrischen? – bedroht... Aber gemeinsam sind sie stark, die beiden. Gemeinsam – «drei-zwei-eins, go!» – gelingt ihnen die Flucht. Gemeinsam spurten sie los, rennen lachend und prustend durch Wälder, Wiesen, blühende Blumenfelder. Ein Garten Eden im hellen Sommerlicht. Ein Paradies für Kinder wie diese zwei dreizehnjährigen Rangen, den blonden Léo (Eden Dambrine) und den braunhaarigen Rémi (Gustav de Waele). Léo und Rémi sind unzertrennliche Freunde, liebevoll behütet in ihrer Kindheit, sicher aufgehoben in ihrer genuinen Kindlichkeit.

Léos Eltern betreiben eine große Blumenzucht irgendwo in Belgien, ziemlich abgelegen vom nächsten Dorf; einziger Nachbar ist offenbar die Familie von Rémi. Denn die beiden Buben radeln täglich mit dem Fahrrad zur Schule, gemeinsam versteht sich. So, wie sie alles teilen: ihre Geheimnisse, ihre Fantasien und Träume, die Spiele und Pläne, Späße und Blödeleien. Oder den kindlichen Ernst, mit dem Léo Rémi beim Oboe üben zuhört und versichert, er werde ihn später als Agent auf seinen Tourneen durch die Welt begleiten. Jedenfalls wollen die beiden immer zusammenbleiben. Auch zwischen den beiden Familien herrscht offensichtlich eine enge Vertrautheit; mal sitzt Rémi am Tisch bei Léos Familie, mal übernachtet Léo bei Rémi, in präsexueller Körperlichkeit eng aneinander gekuschelt, natürlich und selbstverständlich.

«Close», also eng, innig, vertraut, nah, lautet denn auch der Titel des Films – nach «Girl» sein zweiter –, den der belgische Filmer Lukas Dhont, Jahrgang 1991, gedreht hat. In «Girl» (2018) ging es um ein Transmädchen, das seinen dornenvollen Weg zum Traumziel, Ballerina zu werden, ertanzt und erleidet; eine hochemotionale Geschichte, basierend auf dem Schicksal der belgischen Transfrau und Tänzerin Nora Monsecour.

In seinem neusten Film folgt Dhont, der sich selbst als queer bezeichnet, der Entwicklung der beiden Jungen, deren Freundschaft an einer unverständigen Umgebung zerbricht. Auch ihn habe die Frage nach der sexuellen und der emotionalen Zugehörigkeit in der Pubertät umgetrieben, sagt der Filmemacher in diversen Interviews. Und spricht damit nicht nur ein Thema an, das gegenwärtig hoch im Schwange ist, sondern ein Grundthema, das wohl viele junge Menschen während ihrer Adoleszenz bewegt. Und mitunter durch eine wenig empathische, auf Eindeutigkeit von Gender und Sex fixierte, binär orientierte Gesellschaft ignoriert oder ausgeblendet oder negiert wird.

Angst vor Gefühlen

Dazu Dhont: Er kenne die Angst vor der Intimität mit anderen Jungen aus der eigenen Kindheit. Auch er habe nicht die Kraft gehabt, einfach wegzustecken, was die andern dachten. Beziehungen seien dadurch in Brüche gegangen – so gedenke er mit diesem Film auch jener zerbrochenen Freundschaften. Angeregt wurde Dhont, der das Drehbuch zusammen mit dem Co-Autor von «Girl», Angelo Tijssens, verfasste, durch ein Buch der amerikanischen Psychologin Niobe Way. Darin fasst sie die Ergebnisse einer Studie zusammen, die zeigt, dass Jungen im vorpubertären Alter liebe- und hingebungsvoll, geradezu zärtlich von ihren Freundschaften zu Jungs berichten. Doch mit Einsetzen der Pubertät geben sie sich zunehmend – männlich?! – beherrscht und distanziert. Sie vermeiden jede Gefühligkeit, um nicht als weibisch oder gar schwul zu gelten.

Genau das passiert im Film, als die beiden in eine obere Schulstufe wechseln. Da werden sie den unangenehmen Fragen einiger Mitschülerinnen ausgesetzt, die ironischerweise nicht einmal absichtsvoll boshaft oder denunzierend gemeint sind, sondern einfach nur neugierig: «Seid ihr ein Paar...? Seid ihr vielleicht...?» Erst versuchen die beiden, das Ganze runterzuspielen – «Wir kennen uns halt schon lange ... sind quasi wie Brüder ... on n’est pas comme ça...» Hier, wie an vielen weiteren Stellen, zeigt sich die subtile, ungemein diskrete, aber offenbar auf großem Vertrauen beruhende Regiearbeit Dhonts: Kein plakatives Mobbing, ein paar Blicke, ein paar Sätze genügen. Und schlagartig ist die Situation klar. Plötzlich ändert sich alles.

Während solche Bemerkungen Rémi in seiner Zuneigung nicht zu erschüttern vermögen, lösen sie bei Léo Ängste und Abwehr aus. Er beginnt, sich von seinem Freund zu distanzieren, wartet an der Wegkreuzung nicht mehr auf ihn, setzt sich nicht mehr neben ihn auf die Schulbank. Rémis Fragen und Bitten nach Erklärungen blockt er ab. Auf dem Schulhof eskaliert die Situation, die beiden gehen aufeinander los. Léo schließt sich einem anderen Mitschüler an, der ihn in einen Eishockey-Club mitnimmt. Hier drohen keine Zärtlichkeiten, lauert keine Weichheit. Hier ist echte Männlichkeit gefragt, knallhartes Rabaukentum, stählerne Kerls. Vielleicht ein wenig plakativ, die Wahl dieses ausgesprochen toughen Sports, aber auch sehr bezeichnend. Und es hat etwas Rührendes, wenn sich der zierliche Léo den wuchtigen Helm mit dem Gesichtsgitter über den Blondschopf stülpt und sich, auch gefühlsmäßig, den schwarzen Panzer anlegt.

Dann gibt’s eine Klassenfahrt ans Meer, Rémis Platz im Car bleibt leer. Als die Bande zurückkehrt, muss Léo erfahren, dass Rémi tot ist. Er hat sich das Leben genommen. Auch hier wieder: Keine Details, nichts darüber, wie und wo das Unfassliche geschah. Es genügt, und es ist schrecklich genug, dass es geschah. Bei Léo setzt nun ein verzweifelter Prozess des Verdrängens ein. Im Hockey-Training knallt er, als wolle er sich selbst bestrafen, immer wieder mit voller Wucht in die Banden, obwohl ihn der Trainer wiederholt zum Abbremsen ermahnt.


Zuhause weicht Léo den Fragen seiner Eltern, vorab seiner Mutter (Léa Drucker) aus – «Doch, doch alles okay!» Die Trauer über den Verlust wird nicht ausgesprochen, aber geradezu physisch fühlbar – etwa, wenn er mit seiner Mutter ein klassisches Konzert besucht, um dem verlorenen Freund nahe zu sein.


Er schleicht oft ums Haus von Rémis Familie, wagt sich, nachdem ihn Rémis Hund schwanzwedeln begrüßt hat, endlich hinein und bittet, Rémis Zimmer besuchen zu dürfen. Doch ein Erinnerungsstück will er nicht mitnehmen, obwohl ihn Rémis Mutter (Émilie Dequenne) dazu auffordert.


Später sucht er sie unangemeldet an ihrem Arbeitsplatz – sie arbeitet als Hebamme in einem Spital – auf. Auf der Rückfahrt in ihrem Auto bricht es endlich aus ihm heraus; sein Schmerz, seine Schuldgefühle. Rémis Mutter ist fassungslos. Schweigen, Tränen, Umarmung. –Vergebung...?

«Close» überzeugt durch die prägnante, unaufgeregte filmische Umsetzung eines delikaten Themas. Eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Aber ebenso eine künstlerisch meisterhaft umgesetzte Studie über gesellschaftliche Normen und Konventionen, die nicht mit Gendersternchen und Doppelpunkten zu überwinden sind. Frei von Pathos und Rührseligkeit, bezaubert der Film mit Bildern voller Poesie und, ja, bisweilen von einer unerwarteten Leichtigkeit, die angesichts der Schwere des Sujets überrascht – und berührt. Es sind Bilder und Szenen, die eine große Behutsamkeit, Sensibilität und Zärtlichkeit ausstrahlen. Stimmige Bilder, die sich einprägen, wie etwa die bunten Blumenfelder. Die heiteren Szenen am Familientisch beim Spaghetti-«Schlürfen». Oder sogar die temporeichen, an sich ruppigen Szenen auf dem Hockeyfeld, die mit fast tänzerischer Anmut gefilmt wurden. Dank dieser geradezu «leichtfüßigen» Kameraführung (Frank van den Eeden) und natürlich dem erstaunlichen Spieltalent der jungen Darsteller gewinnt der Film eine Authentizität und Natürlichkeit, die anrühren und betroffen machen.


Die Tränen fließen nicht nur auf der Leinwand, auch im Publikum wischt man sich die Augen...

Bilder: © Kris Dewitte und Filmstills




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