Wir befinden uns im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, genauer: in der Zeit der sogenannten Zweiten Restauration um 1821, dem Todesjahr von Napoleon, der seine letzten Jahre seit 1815 auf St. Helena im Exil verbracht hatte. La Grande Révolution hat Frankreich und die Alte Welt in den Grundfesten erschüttert; nun schlägt das Pendel zurück: Unter Louis XVIII und seinem Bruder Charles X erstarken die reaktionären monarchistischen Kräfte; die demokratischen Ansätze sind äusserst fragil, die Ideale der Revolution verpufft. Ein neuer Geldadel etabliert sich, während das einfache Volk ums Überleben kämpft. Die Politik ist geprägt von Korruption, Kriminalität, Eigennutz und Vetternwirtschaft. Die Seine-Stadt wächst rasant. Um die Mitte des Jahrhunderts zählt Paris bereits eine Million Einwohner! Das Neunzehnte ist auch das Jahrhundert der Presse; Zeitschriften und Zeitungen schiessen wie Pilze aus dem Boden; das Feuilleton entsteht und dank neueren, liberalen Pressegesetzen treibt auch die Propagandapresse, schamlos gekoppelt mit Werbung, irre Blüten. Profilierungssucht, Marktanteil und Gewinn entscheiden über Erfolg oder Misserfolg eines Romans, eines Theaterstücks.
Vor dieser Folie spielen Honoré de Balzacs «Illusions perdues», die mit ihrem Realismus ein Dokument jener turbulenten Zeitläufte darstellen. Entstanden ist der dreiteilige Roman zwischen 1837 und 1843 und integriert ist er in «La comédie humaine» – in Anspielung auf Dantes «Göttliche Komödie» –, ein monumentales gesellschaftliches Panorama, das weit über achtzig Romane, Novellen und Kurzgeschichten umfasst und dessen Protagonisten in mehreren Einzelwerken auftauchen.
Opulentes Schauvergnügen
In seinem langen Film orientiert sich der französische Cinéast und Drehbuchautor Xavier Giannoli an Balzacs literarischer Vorlage, geht damit jedoch ziemlich frei und äusserst virtuos um. Er streicht, kondensiert, fokussiert, sodass trotz der fast 150minütigen Spieldauer keinerlei Langweile aufkommt. Im Gegenteil, Giannolis Film entwickelt einen ungeheuren Sog und ein Tempo, das den Zeitgeist der Beschleunigung heraufbeschwört, wie er die Epoche der beginnenden Industrialisierung, des Zeitungswesens und der aufkommenden Werbung prägte. Auch die rasche Folge kurzer Sequenzen entspricht diesem neuen Lebensrhythmus. Für die alerte Kameraführung zeichnet Christophe Beaucarne. Der Film – Giannoli bezeichnet ihn in einem Interview nicht als Romanverfilmung, sondern als «Neu-Orchestration» einer grandiosen Partitur – ist derart reich an prägnanten Szenen und pointierten Dialogen, dass man ihn eigentlich noch ein zweites Mal ansehen möchte und müsste, um all die feinen Zuspitzungen und Anspielungen mitzubekommen. Vor allem erweckt er die Lust, das Buch wieder mal zur Hand zu nehmen, denn Balzacs Genie der präzisen Milieuschilderung und der psychologischen Feinzeichnung – auch sein mitunter ätzender Humor – ist im Film, bei aller erwähnten Freiheit, treffend eingefangen. Der Begriff des Historien- oder Kostümfilms, hier ist er nicht abschätzig gemeint, sondern Gütesiegel. Und opulentes Schauvergnügen dazu!
Hauptfigur dieser «éducation sentimentale», dieses Soziogramms einer ganzen Epoche, ist Lucien. Lucien Chardon. Jung, talentiert, ehrgeizig, hübsch. Er arbeitet als Gehilfe in der ziemlich maroden Druckerei seines Freunds David Séchard (der später sein Schwager werden wird) in Angoulême, der Hauptstadt des westfranzösischen Departements Charente. Doch der junge Mann hat Höheres im Sinn, als zu drucken, was andere verfasst haben. Er selbst ist Poet! Schreibt Gedichte, die alle Welt entzücken werden, wenn auch vorerst nur ein paar sensible Gemüter im Salon von Madame de Bargeton, und vor allem sie, die Salonnière, selbst. Da ist es doch verständlich, dass der einfache bürgerliche Familienname nichts taugt. Zum Glück war Luciens Mutter, durch Heirat mit einem kleinkrämerischen Apotheker dem Schafott entkommen, eine Geborene «de Rubempré»; das hört sich doch schon mal viel besser an.
Auch die Kleinstadt wird Lucien bald zu eng. Mit seiner Mäzenin und Geliebten, Anaïs (im Film: Louise) de Bargeton, die ihren griesgrämigen Gatten satthat, entflieht er der Provinz nach Paris. Dort soll er anlässlich eines Opernbesuchs in den Kreis der Marquise d’Espard, und damit in die «bessere» Gesellschaft, eingeführt werden. Allein der Weg dahin ist gespickt mit Fallstricken: Ein unziemliches Kompliment, ein anzügliches Lächeln, ein deplatziertes Winken, vor allem auch die üble Nachrede ob der nicht-standesgemässen Liaison können den Eintritt in die höheren Sphären jäh vereiteln. Nachdem Lucien, charmant, wohl frisiert, und unbedarft, in sämtliche Fettnäpfchen getreten ist, lässt die Bargeton ihren provinziellen Protégé fallen; sie will ihren Ruf nicht ruinieren. Lucien steht mittellos und einsam da. Muss sich mit Kartoffelklau über Wasser halten.
Influencer des 19. Jahrhunderts
Da lernt er Étienne Lousteau kennen, dessen journalistisches Berufsethos lautet, «d’enrichir les actionnaires du journal». Dieser zynische Zeitungsredaktor führt den naiven Adepten alsbald in die Machenschaften ein, die in der Welt der Medien herrschen: die Konkurrenzspielchen, die bewusst platzierten Lügen, die Verleumdungen – Fake News avant la lettre. So nimmt denn im Buch wie im Film die Schilderung der allmächtigen Presse einen überaus gewichtigen Teil ein, was beiden eine irritierende Aktualität verleiht, auch wenn heute die Social Media an die Stelle der gedruckten Medien getreten sind. Die Mechanismen ähneln sich erschreckend, obgleich damals eine noch unheilvollere Allianz zwischen Literatur und Journalismus bestand.
Zur Dynamik und Stringenz des Films tragen die sorgfältig und meisterhaft eingesetzten Mittel – wie auch die stimmig ausgewählte Musik – Entscheidendes bei. Bei aller szenographischen und cinéastischen Bravour wird der Gehalt jedoch nicht durch die Opulenz der Bilder erdrückt, sondern geradezu erst erschaffen. Beleuchtung, Kulisse, Kostüme, Personenführung fügen sich zu einem packenden Porträt einer Zeit, die, obwohl zweihundert Jahre zurückliegend, der unseren irritierend gleicht: Mit scharfem und doch unpolemischem Blick wird das ökonomische System, werden die subtilen, aber auch die knallharten Mechanismen vorgeführt, deren sich Politik, Presse, Kunst und Gesellschaft rücksichtslos bedienen, um das zu erreichen, was man will: Erfolg, Geld und – Gefühle. Man treibt die (Zeitungs-)Enten vor sich her. Man dirigiert die Gilde der Claqueurs. Man lässt einen domestizierten Affen den Primeur des Tages auswählen...
Lucien hat diese Lektion nur zu schnell begriffen; der schwärmerische Junge macht sich die schnelle, gehässige und, wenn’s dem Zweck frommt, die vernichtende Schreibe rasch zu eigen. Er debütiert mit der flammenden Rezension einer Theateraufführung und lernt dabei die mässig begabte, aber warmherzige Schauspielerin Coralie kennen, die er zu seiner Geliebten macht. Und schon bald wird ihm der Ritterschlag «au nom de la mauvaise foi, de la fausse rumeur et de l’annonce publicitaire» (im Namen der Unredlichkeit, des falschen Gerüchts und der Werbung) zum Boulevardjournalisten zuteil, begleitet von einer Champagner-Dusche. Zwangsläufig gerät er immer tiefer in die Intrigen und Eifersüchteleien und Spekulationen der Branche. Um das mütterliche Adelsprädikat auf legalem Weg wieder zu erlangen, wechselt er bedenkenlos die Seite vom liberalen Journalismus zur royalistischen Parteipresse. Er macht Schulden, überwirft sich mit seinen Weggenossen, schreibt einen Verriss über den Roman seines Freundes Raoul... Coralie stirbt, Luciens Stern sinkt... Er war letztlich nur eine Schachfigur auf dem Spielbrett der Mächtigen. Die Stimme eines Chronisten aus dem Off, die immer wieder den Gang der Handlung zurechtrückt und bündelt – ein ausgezeichneter Kunstgriff! – kommentiert auch diesen Niedergang emotionslos.
In diesem Panoptikum der Eitelkeiten und der Missgunst, in dieser Spirale von Aufstieg und Fall («Splendeurs et misères des courtisanes» ist denn auch der Titel des anschliessenden Romans) agieren eine Vielzahl von grossartigen Schauspielerinnen und Schauspielern. Allen voran der hinreissende Benjamin Voisin in der Rolle des Lucien: Er überzeugt ebenso als gefühlvoller Jung-Poet wie als schnöseliger Ehrgeizling und schliesslich als berechnender Feuilletonist. Absolut rollenkongruent sind Luciens beide Geliebten: Cécile de France als von innerem Feuer verzehrte und in Contenance erstarrte Louise de Bargeton sowie Salomé Dewaels als reizende, etwas schlichte Aktrice Coralie. Die dritte Dame im Spiel gibt Jeanne Balibar als standesbewusste Marquise d’Espard. Als mit allen Wassern gewaschener, aalglatter Étienne Lousteau profiliert sich Vincent Lacoste: ein perfekter Vertreter der skrupellosen, käuflichen Journaille – nur zu begreiflich, dass der Neuling dem maliziösen Schwadroneur anfänglich nur allzu willig folgt. Mit etwas zwielichtiger Eleganz stattet Xavier Dolan Raoul Nathan aus, einen undurchschaubaren Verfechter von Kunst und Berufsethos. Ein Kabinettstück liefert sodann Gérard Dépardieu als durchtriebener Verleger Dauriat, laut, ordinär und äusserst erfolgreich; schliesslich hat er sich die Gesetze des Markts bereits als ehemaliger Obsthändler zu eigen gemacht. Zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen...
Fazit: Eine brillante, hochaktuelle Satire, eine Liebesgeschichte, ein Sittenbild. Und ein ebenso unterhaltendes wie anregendes Spektakel für alle Sinne!
© Filmstills Roger Arpajou – Curiosa Films
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