«Mouth to Mouth» lautet der Originaltitel des knackigen Romans des kanadischstämmigen Autors Antoine Wilson (*1971), der heute in L. A. lebt. Offenbar stand dieses, sein jüngstes Buch 2022 auf Barak Obamas Leseliste – was immer das besagt. Jetzt liegt der rund 200 Seiten starke Thriller auf Deutsch vor; die Kategorie Thriller trifft tatsächlich zu, obwohl im Buch weder gemordet noch ermittelt wird. Gestorben allerdings schon, und das – fast! – zweimal. Doch ohne knallige 007-Effekte!
Antoine Wilson (© Bild: Noah Stone)
«First Class» lautet der neudeutsche Titel. Und er bezieht sich auf die Rahmenhandlung, die die Folie für die realistische und durchwegs an realen Schauplätzen lokalisierte Erzählung bildet. Konkret: In der First-Class-Lounge des New Yorker JFK-Flughafens.
Aufgrund dieser Erzählweise müsste man Wilsons Text also richtigerweise als Novelle bezeichnen. Jedenfalls verhilft diese altbewährte Erzähltechnik – Goethe, C. F. Meyer, Keller, Storm, E.T.A. Hoffmann, Gotthelf und viele mehr haben sich ihrer bedient – der Geschichte zu Authentizität und Glaubwürdigkeit. Der Strang der zeitlich zurückliegenden Haupterzählung wird immer wieder durch das Einblenden der gegenwärtigen Rahmenhandlung, durch Rückfragen und kurze Kommentare des misstrauischen Zuhörers unterbrochen (der uns die Geschichte dann weitererzählt). Das sorgt für raffiniert gesetzte Cliffhanger zwischen den 65 einzelnen kurzen Kapiteln, was diese wie filmische Einstellungen wirken lässt. Jedenfalls hält es den Leser bis zur letzten Seite bei der Stange: ein well-made play in Buchform! Präzis, flüssig und höchst anschaulich geschrieben und ebenso übersetzt von Eva Regul. Allerdings: Der deutsche Titel ist banal und nichtssagend, umso suggestiver dafür das Cover, das zweimal hinschauen lässt und die Doppelbödigkeit der Story treffend einfängt.
Und so beginnt’s: Zufällig begegnen sich am Gate für den Flug nach Frankfurt zwei ehemalige Studienkollegen, beide Mitte vierzig, beide Absolventen der renommierten UCLA. Doch unterschiedlicher könnten sie nicht sein.
Der eine Protagonist, der namenlose Ich-Erzähler, ist ein etwas zerknautschter, nicht sehr erfolgreicher Schriftsteller, der von seinem deutschen Verleger für eine Lesereise nach Berlin beordert wird – auf eigene Kosten, notabene. Was sich zudem – persönliche Koketterie des erfolgreichen Autors Antoine Wilson – zum Schluss prompt als Flop erweist. Sollte der Autor (der fiktive Erzähler oder der reale Antoine Wilson) allerdings das, was sich innerhalb des Rahmengerüsts abspielt, zu Papier bringen, so hätte das sehr wohl das Zeug zu einem Bestseller, was – da er’s schließlich effektiv tut – die packende Lektüre bestätigt.
Der andere Protagonist mit Namen Jeff Cook ist ein arrivierter Kunsthändler zeitgenössischer Malerei: akkurater Haarschnitt, modische transparente Brillenfassung, teure Lederslippers, knitterfreier blauer Maßanzug, schickes Rollköfferchen – kurz: ein smarter Kulturmanager, ein Mann von Welt, ein Winner-Typ. Damals, als sich die beiden kennenlernten, war der elegante Jeff ein langhaariger, kiffender Student in zerrissenen Jeans und verwaschenen T-Shirts... Heute konsumiert er wohl Edleres...
Jetzt, gut zwanzig Jahre später, warten die beiden auf den Abflug in die Alte Welt, dessen massive Verspätung beide trifft, den First-Class-Passagier ebenso wie den Inhaber des billigsten Last-Minute-Tickets. Schuld daran ist der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, was wiederum einer der zahlreichen, clever platzierten Hinweise ist, die den Wahrheitsgehalt der Story untermauern, indem sie uns erlauben, das Treffen der beiden Herren ins Jahr 2010 zu datieren; ergo spielte die eigentliche Geschichte in den 1990er Jahren – man mag solche «Fussnoten» als unwichtige Details betrachten, tatsächlich aber betonen sie die Stringenz des «Tatsachen»berichts; eine gekonnte Verquickung von Fakten und Fiktion.
Lounge – JFK-Airport, New York (© Bild: Thomas Pallini)
Warten, erzählen, zuhören
Item: Großzügig fordert Jeff den ehemaligen Kommilitonen auf, ihn in die VIP-Lounge zu begleiten, um die Wartezeit gemeinsam bei Gratis-Bier, Snacks und anderen Drinks totzuschlagen, zechend und quatschend – was sich zunehmend als Monologisieren Jeffs erweist. Denn sehr bald stellt sich heraus, dass dieser unbedingt eine große Geschichte loswerden muss, eine Verkettung von Ereignissen, die offenbar sein Leben, seine jetzige Stellung im Kulturzirkus, aber auch generell in der Gesellschaft existentiell beeinflusst haben. Und jetzt beschert ihm die lästige Verspätung ganz unerwartet einen Zuhörer für seine Lebensbeichte, mit dem ihn eigentlich herzlich wenig verbindet und der gerade dadurch zum idealen Rezipienten wird.
Nach dem üblichen Smalltalk, ein paar gegenseitigen Updatings und Reminiszenzen aus der Studienzeit und über verflossene Liebschaften, tauchen der namenlose Zuhörer-Schriftsteller und wir mit ihm in Jeff Cooks Lebensgeschichte ein, die vage an Patricia Highsmiths «talentierten Mr. Ripley» erinnert: Nach einem tüchtigen Liebeskummer – die Geliebte quittierte seinen Heiratsantrag mit vernichtendem Gelächter – findet sich Jeff, damals anfangs zwanzig, allein in einem Haus in Santa Monica, das er für den Bekannten eines Bekannten hütet. Eines Morgens entdeckt er am bis auf ein paar Möwen und Pelikane winterlich leeren Strand einen im seichten Wasser leblos treibenden Menschen: Es ist «ein Mann mittleren Alters in einem Neoprenanzug und mit getönter Schwimmbrille, die Haut bläulich, die Lippen violett.» Ohne groß zu überlegen, wie unter Zwang, zerrt er den Leblosen ans Ufer und beginnt ziemlich ungeschickt, fast widerwillig und angewidert mit Wiederbelebungsversuchen durch Mund-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage, wobei er, ungeübt wie er ist, dem Verunglückten zwar ein paar Rippen bricht, ihn aber doch ins Leben zurückzuholen vermag. Bald übernimmt zum Glück die Küstenwache, alarmiert von einer Joggerin, den «Fall».
Strand von Santa Monica (Bild: © TravelScape / Freepik)
Die Umstände, das rasche professionelle Eingreifen der Baywatcher, vor allem aber Jeffs Gemütsaufwallung nach dem aufrüttelnden Erlebnis verhindern, dass er sich dem Opfer als sein Retter offenbaren kann. Dagegen erfasst ihn, erkältet und traumatisiert und nach einem kathartischen Fieberschub, eine Art Obsession, mehr über die Identität des Geretteten zu erfahren. Ein erster Schritt dazu ist ein Besuch bei den Strandwächtern, wo er den Namen des Mannes erfährt und später, durch eigenes Nachforschen, dass es sich um einen Top Shot in der Kunstszene handelt. Er macht dessen Galerie in Bevely Hills ausfindig: FAFA – Fine Arts Francis Arsenault, oder umgekehrt. Doch widersprüchliche Motivationen – Bescheidenheit, Diskretion, Glaubwürdigkeit, unziemlicher Wunsch nach Anerkennung, Belohnung gar? – halten ihn davon ab, dem Geretteten, der ihn wohl nicht einmal wiedererkennen dürfte, zu eröffnen: «Ich habe Ihr Leben gerettet!» Langsam, fast stalkermäßig, sucht der junge Lebensretter sich nun dem renommierten Kunsthändler anzunähern. Er beginnt sich in dessen Leben einzunisten, getrieben von der Frage: «Wer war dieser Mann, dem ich das Leben gerettet hatte?» Und dem festen Entschluss: «Ich musste an ihn ran!»
So schafft er es, einen Job in der noblen Kunstgalerie zu ergattern, anfänglich als einer dieser schwarz gekleideten Herumsteher und Türhüter, später werden ihm auch wichtigere Aufgaben anvertraut, etwa die Aufarbeitung einer Kundenkartei. Immer wieder ist er nahe dran, seine Karten aufzudecken, und immer wieder scheitert er an irgendwelchen emotionalen Hürden oder banalen äußerlichen Umständen. Und offenbar wurde die beinahe tödlich endende Episode, von der nur noch eine gebrochene Rippe zeugt, im sozialen Umfeld von Arsenault als harmloser Unfall beim Squash deklariert. «Manipulation ist nun mal sein größtes Talent», liest Jeff in einem Kunstbulletin über seinen Chef. Ein Despot nahe dem Ertrinken passt da nicht ins Bild, das Arsenault sich und seiner Umgebung vorgaukelt.
Symbolbild «Galerie»
In der Folge entspinnt sich ein spannendes Vexierspiel um Manipulation, Despotismus, Verdächtigungen, Ehebruch, Machtmissbrauch, Traumata, Selbsttäuschung... Arsenaults Charakter gewinnt zunehmend an düsteren, zwielichtigen Farben. In der Schwebe bleibt ebenfalls, ob er ahnt, dass er sein Leben diesem jungen Mann verdankt, der sich inzwischen einen «braven» Haarschnitt und das entsprechende Outfit hat verpassen lassen. Doch scheint der Ältere Gefallen an dem Jüngeren zu finden und lässt ihn immer stärker an seiner schillernden Welt von Kunst und Kommerz, von Künstlern und Adabeis teilhaben. Eine glamouröse Welt, in welcher Arsenault, wie Jeff, bald angewidert, bald fasziniert, feststellt, eine bedeutende, aber keineswegs über alle Zweifel erhabene Position innehat.
Später beginnt Jeff ein Verhältnis mit der Kunststudentin Chloe. Sie weiß, wer er ist und dass er in der Galerie angestellt ist; er dagegen hat zu Beginn keine Ahnung, dass sie die Tochter seines Chefs ist. Doch durch sie bekommt er Zugang und Einblick ins zwar prestigereiche, aber dysfunktionale Familienleben der Arsenaults und damit ein klareres Bild von Francis selbst. «Das Problem war nur, dass Chloe jedes Mal einen anderen Francis beschrieb [...] «ein kontrollwütiges, dominantes, die Persönlichkeit seiner Mitmenschen unterdrückendes Monster [...] ein liebevoller, hilfsbereiter, freigebiger und gütiger König.» Schliesslich wird Jeff gar zu einem Familien-Skiurlaub nach Val d’Isère eingeladen, wo Francis dem blutigen Anfänger auf Skiern nochmals zeigt, wer der Champion ist, und... aber das sei hier nicht verraten.
Wilson ist ein virtuoser Erzähler. Durch die perfekt arrangierte Parallelerzählung der beiden Handlungsstränge gelingt es ihm, mehrere Spannungsfelder aufzubauen: Einerseits folgt man mit gespannter Aufmerksamkeit der Binnenstory, die Jeff Cook seinem Gegenüber wortreich und plastisch vorträgt, und erwartet jeden Moment den Éclat, wo er Arsenault seine damalige «Heldentat» offenbaren würde. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was ihn antreibt, seine Lebensgeschichte so detailliert vor einem fast Unbekannten auszubreiten. Zielt er letztlich darauf, dass sein Zuhörer – ein Schriftsteller, wie wir wissen – seine, Jeff Cooks, Erzählung im Nachhinein zu einem Schlüsselroman verarbeiten würde, um ihr so doch noch die ehrenvolle breitgefächerte Resonanz im Kollektivgedächtnis zu verschaffen? Eitle Selbstdarstellung? Pure Berechnung? Oder musste er sich ganz einfach eine durch Jahre mitgeschleppte Last von der Seele reden – ein psychohygienischer Prozess? Und damit auch eine Art von «Absolution»?
Wilson spielt gekonnt auf dieser Klaviatur, indem er alle diese Aspekte antippt, ihre Beantwortung aber letztlich dem Leser überlässt. Während der namenlose Ich-Erzähler/Zuhörer/Autor immer mehr verblasst, gewinnt der andere Ich-Erzähler, der erfolgreiche, elegante, aber aalglatte Jeff Cook zusehends an Kontur, die verblüffend dem etwas dubiosen Charakter Arsenaults zu gleichen beginnt. Damit einhergeht der literarische Kniff, wobei die subjektive Ich-Perspektive gelegentlich durch die objektivere Sicht aus der 3. Person, Singular («er») ersetzt wird.
Am Ende seiner «Beichte», kurz bevor sich die beiden am Gate trennen, sagt Jeff zu seinem geduldigen Zuhörer: «Jetzt ist sie [die Geschichte] in der Welt. Sie gehört dir. Du kannst damit machen, was du willst.» Zum Glück hat dieser, alias Antoine Wilson, die Geschichte aufgeschrieben und uns damit ein spannendes Lesevergnügen beschert.
Antoine Wilson: First Class
Kein & Aber AG , Zürich – Berlin 2023
ISBN: 978-3-0369-5002-0
08.08.2023
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Wenn der Text von Antoine Wilson die gleich Qualität hat wie die Rezension von Bruno Rauch, sollte man das Buch unbedingt kaufen. Ich werde es tun und hoffe auf ein paar genussreiche, spannende Stunden. Vielen Dank, lieber Bruno
Peter Angehrn