Es steht nicht mit Sicherheit fest, wer das Libretto zu «Agrippina», der zweiten italienischen Oper von Georg Friedrich Händel, verfasst hat. Doch wer auch immer es war, er muss die Machenschaften der Mächtigen, mit denen sie ihre Macht zu wahren und zu mehren trachteten, sehr, sehr gut gekannt haben. Und er hatte ganz offensichtlich auch tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele!

So ist es durchaus plausibel, dass die Musikwissenschaft einen gewissen Vincenzo Grimani als Librettisten annimmt. Besagter Vincenzo, Spross einer einflussreichen Familie – der Vater ein venezianischer Patrizier, die Mutter eine Gonzaga aus Mantua – war nämlich schon durch seine diversen Aktivitäten – Theater, Kirche, Politik – mit Intrigen, Kabalen und Winkelzügen aller Art bestens vertraut: Er bewegte sich zeitlebens in einem intellektuellen kosmopolitischen Umfeld, hatte Kontakt mit internationalen Potentaten und hochrangigen Klerikern, aber auch mit Künstlern, Impresarii, Schauspielern. Mit seinem Bruder eröffnete und betrieb er, ganz der grimanischen Familientradition entsprechend, 1678 in Venedig das Teatro S. Giovanni Crisostomo, das heutige Teatro Malibran, wo am zweiten Weihnachtstag 1709 Händels Oper «Agrippina» uraufgeführt wurde. Was dem 24jährigen «caro Sassone» mit 27 Vorstellungen in Serie zum Durchbruch verhalf (und gleichzeitig sein Geschick im Rezyklieren eigener und fremder Musik unter Beweis stellte).

Der junge Georg Friedrich Händel (1685–1759) Vincenzo Grimani (1655–1710) – Tintoretto
(© Wikimedia commons)
Für uns Heutige kaum nachvollziehbar ist sodann Grimanis steile Karriere, die er neben seiner Beschäftigung mit dem Theater verfolgte. Als Gottesmann: Abt einer reichen Zisterzienserabtei und, mit gut vierzig, Kardinalswürden. Als Homo politicus: Diplomat des Kaisers HRR Joseph I. beim Heiligen Stuhl und ab 1708 Vizekönig in Neapel. Ein Posten, der den hegemonialen Anspruch Habsburgs gegenüber Frankreich unter Louis XIV und, an dessen Seite, dem päpstlichen Rom unter Clemens XI. bekräftigte. Vermutlich machte Grimani in dieser Zeit die Bekanntschaft des Komponisten anlässlich dessen vierjähriger Italienreise (1706–1710) und verfasste für ihn das Libretto zu «Agrippina» oder schlug es ihm zumindest zur Vertonung vor. Ein Libretto notabene, das in seiner rhetorischen Frechheit und bühnenwirksamen Stringenz die antikuriale Haltung seines Urhebers – wer immer es war – unverhohlen unterstreicht. Und das von den Zeitgenossen unmissverständlich als Kritik und Satire auf die Zustände in der Papststadt, wenn auch in antiker Version, verstanden wurde. Selbst der damalige Aufführungsort in der Lagunenstadt zur Karnevalszeit demonstriert deutlich die Divergenzen zwischen der liberalen, toleranten Stadtrepublik an der Adria und dem repressiven, reaktionären Rom, wo zeitweise sogar die Aufführung von Opern untersagt war.

Energisch, einfallsreich, hartnäckig – mit diesen Attributen wird der Politiker Grimani von der Geschichtsschreibung bedacht. Mit genau diesen Eigenschaften hat der Librettist Grimani auch seine Agrippina ausgestattet, was zweifellos dem historischen Vorbild entsprechen dürfte. Ein weiteres geschichtliches Faktum ist ferner, dass sie die Drahtzieherin im Machtpoker um die kaiserliche Nachfolge war und es 54 n. Chr. kraft ihrer raffinierten Ränkespiele tatsächlich schaffte, ihren Sohn aus erster Ehe, Lucius Domitius Nero, auf den Kaiserthron zu hieven. Was dieser, wie man weiß, fünf Jahre später mit dem Auftrag zu ihrer Ermordung «belohnte». Ebenfalls historisch verbürgt sind, mit Ausnahme des neutralen Dieners Lesbo, alle weiteren Akteure in diesem fintenreichen Politthriller, nicht aber ihr Tun und Lassen. Dies wie auch die zeitliche Abfolge ist weitestgehend Fiktion und entsprang der Fantasie – oder eben der eigenen Anschauung?! – des Autors. Möglich, aber eher unwahrscheinlich also, dass Agrippina ihren Gatten Claudius, den vierten römischen Imperator nach Augustus, mit einem Pilzgericht vergiftet habe, um ihrem Söhnchen den Weg zum imperialen Lorbeer freizumachen. Sicher dagegen, dass diese schon in der Antike kolportierte Hypothese genügte, um Agrippina als ruchloses, durchtriebenes Weib zu diffamieren – und sie gleichzeitig zur großartigen Bühnenfigur zu adeln

Mit diesem «Giftmord» setzt denn auch die Zürcher Produktion in der klugen Regie der Niederländerin Jetske Mijnssen bereits während des Vorspiels ein. Und zwar als hochästhetische Projektion von Kevin Graber. Auf dem noch geschlossenen Vorhang erleben wir das gepflegte Dinner mit den fatalen Folgen: tödlicher Bissen, hektische Ambulanz, flimmernder Kardiomonitor, fallende Börsenkurse, spekulative Schlagzeilen über das verwaiste Imperium... Dieser und zwei spätere Videoclips – eine imperiale Fotosession für die Boulevardpresse und die soignierte Mise en table fürs Festbankett – sorgen während der orchestralen Intermezzi für Atmosphäre, Spannung und dienen als Überleitung zwischen den Schauplätzen.

«Ingannare» als dramatisches Leitmotiv
Wie sich der Vorhang hebt, sind wir gleich mittendrin im familiären Desaster, wo das Verb «ingannare» (täuschen) und seine diversen Ableitungen siebenundzwanzig (27!) Mal vorkommen wird. Ben Baur hat dazu ein stimmiges Intérieur geschaffen, einheitlich und gleichzeitig variabel, raffiniert und treffend zugleich: Ein getäfelter Salon mit Alkoven und – man hat ja Kultur und das nötige Kleingeld! – «Picasso» und «Matisse» an der Wand. Später wird der Raum zum noblen Entrée, dann zur gestylten Küche und schliesslich zum großbürgerlichen Speisezimmer mit pompösem Lüster über der runden Tafel. Der Clou: Beidseits dieses (ganz ohne Drehbühne!) wandelbaren zentralen Raums öffnen sich zwei schmale Antichambres, wie geschaffen fürs häufige a-parte-Sprechen. Bestens geeignet fürs Komplott-Schmieden hüben und drüben. Ideal fürs Agitieren im Verborgenen. Praktisch für den Hörer an der Wand.


Hier also baut Agrippina ihr Muttersöhnchen Nerone zum künftigen Imperator auf. Doch der große Bub kann nicht einmal seine Krawatte selber binden, schleckt sich bei Essen die Finger ab, fläzt rüpelhaft aufm Stuhl, leert ein Glas in einem Zug und flüchtet sich vor der mütterlichen Übergriffigkeit infantil unter seine Kopfhörer. Mama nervt und gleichzeitig braucht er sie, zumindest vorläufig noch. Doch die Lektion, wie man sich beim Volk durch Spenden beliebt macht, hat er rasch kapiert, und ebenso, dass er das verteilte Geld nach dem inszenierten Filmauftritt vor dem Green Screen – da wird man später darbendes Volk, Waisenhäuser und Slums einmontieren – wieder kleinkrämerisch einsammelt. Christophe Dumaux gibt den nerdigen, verzogenen Schnösel umwerfend. Sein mitunter zu trotzig-rotziger Schärfe neigender Countertenor passt perfekt zur aufgesetzten Coolness eines Spätpubertierenden in weißen Turnschuhen und Baseball-Cap. Schließlich tritt auch Agrippina vor den grünen Schirm, um dem Plebs, also uns, mit (krokodils-)tränenersticker Stimme den Tod ihres Gatten kundzutun.

Bereits diese erste Szene zwischen Mutter und Sohn verrät Jetske Mijnssens Geschick, Geschichten zu erzählen, empathisch, aber auch mit wohltuender Ironie und feinem Humor. Hierzu erfindet die Regisseurin kleine Nebenhandlungen, unerwartete Konstellationen und sprechende Gesten, subtil beobachtet und den Akteuren Individualität und Charakter vermittelnd.
Dazu tragen auch die modernen Kostüme von Hannah Clark bei. Die Damen tragen aparten, zeitlosen Chic; die Herren Designeranzüge und Schlips, so sie nicht gerade in seidenen Pyjamas nächtens durchs Haus schwärmen...

Für die erwähnte Eingangsszene beispielweise trägt Anna Bonitatibus in der Titelrolle einen damenhaft-biederen Hosenanzug in Hellblau, den sie später gegen theatralisches (leider verfrühtes) Witwenschwarz tauscht; zum Schluss segelt sie mit flatterndem Umhang wie ein unglücksbringender Vogel über die Bühne. Als machtbesessene Matrone zieht die Sängerin alle Register, darstellerisch wie vokal. Furiose Koloraturen, heuchlerische Schmeicheltöne, listig-lauerndes Mezzavoce, wohldosierte Härte – alles steht ihr zu Gebot, um sich die Umwelt gefügig zu machen. Souverän instrumentalisiert sie die beiden Speichellecker mit schwarzrandigen Buchhalterbrillen, Narciso und Pallante, indem sie beiden Liebe und Macht vorgaukelt. Dieser, José Coca Loza, ein hitziger Südländer, reißt sich sofort die Kleider vom Leib und stellt seine Männlichkeit mit orgelndem Bass (und tiefem Des!) unter Beweis; jener, Alois Mühlbacher, schüchtern und verklemmt, geht die Sache manierlicher und mit lichtem Countertenor an – beide aber kommen sie natürlich nicht zum Ziel. Dramatischer Höhepunkt des Abends ist Agrippinas kompositorisch wie emotional atemberaubende Szene «Pensieri, voi mi tormentate». Jetzt, da sie um das Auffliegen ihres Doppelspiels fürchtet, weitet sich das vokale Spektrum nochmals um nahezu tonlose Bangnis und verzweifelte Entschlossenheit, um sich alsbald, nach einem eingeschobenen Rezitativ, wieder in selbstquälerischer Ohnmacht zu zerfleischen.

An dieser Stelle muss auch gleich das Orchester «La Scintilla» erwähnt werden, das unter der umsichtigen und hörbar sorgfältig vorbereiteten Leitung des britischen Barock-Spezialisten Harry Bicket musiziert, der selbst an einem der beiden Cembali sitzt. Wunderbar wie er einzelne Bläser aus dem satten, aber nie opaken Streicherklang heraustreten lässt, um sie mit dem Gesang mitunter in atemberaubender Rasanz duettieren zu lassen. Und gerade in der genannten außergewöhnlichen Arie der Agrippina scheut er sich nicht, auch ruppige, von Schmerz zerrissene Töne anzuschlagen. Ein weiteres Lob gilt sodann dem einfühlsamen Continuo sowie dem Erzlautenisten, welche aparte Farbnuancen in den Gesamtklang setzen.

Sex und Macht als Antrieb
Doch wir greifen vor. Noch scheint alles wunschgemäß zu klappen. Der Champagner wird entkorkt, der künftige Kaiser Nero bejubelt. Da platzt Adlatus Lesbo – Yannick Debus, integer und geschmeidig – mit der Nachricht vom Überleben Claudios herein. (Im Libretto wird berichtet, dass dieser aus einer Schiffshavarie gerettet worden sei – doch um Tatsachen und Wahrheit geht es in diesem Gespinst von Lügen und Fake News wahrlich zuletzt!) Sogleich wird der Kaiser im Rollstuhl hereingekarrt. Nahuel Di Pierro, jetzt noch etwas lädiert, später aber zu neuen amourösen Exploits bereit, verleiht dem alternden Lebemann mit leicht brüchigem Charme ebenso wie dem Patriarchen mit bröckelnder Machtfülle dank samtenem Bass stimmlich, aber ebenso darstellerisch unwiderstehliches Profil. (Und als gewieftes «Bühnentier» macht der Argentinier aus dem unvorhergesehenen Zwischenfall mit einem widerspenstigen Selbstbinder spontan ein kleines Kabinettstück!)

In des Kaisers Gefolge sind auch sein Günstling und angeblicher Lebensretter Ottone sowie Poppea, vorläufig als seine besorgte Krankenschwester. Beide werden im Lauf des Abends prächtig aufdrehen.



Jakub Józef Orliński als eitler Geck Ottone ist vor allem um den tadellosen Sitz seiner Frisur besorgt. Doch auch stimmlich sitzt alles: Die erotisch aufgeladene Kantilene ebenso wie die hochpräzise Koloratur, der forsche Aplomb ebenso wie der anrührende Herzenston. Der polnische Countertenor, der auch als Breakdancer und Model auftritt, besticht durch körperliche Präsenz und Agilität. Etwa in der narzisstischen Charmeoffensive vor Mikrofonen und umgeben von einer Schar Doppelgängern in James-Bond-Pose aus Pappe, wo er sich filmreif und mit einem Schuss Selbstironie als künftiger Monarch präsentiert (was fürs erste allerdings kläglich misslingt).








Oder noch brillanter in einer Szene, deren Situationskomik und temporeicher Witz – wiederum dank der pointierten, sinnstiftenden Personenführung! – das köstliche Versteckspiel im ersten «Figaro»-Akt vorwegnimmt. Nämlich: Zu nächtlicher Stunde treibt der Hunger – oder wohl eher andere Gelüste – die Protagonisten nacheinander in die Küche. Hier werden die liebeshungrigen Männer von Poppea, die ihre «pflegefachfrauliche» Attitüde längst abgelegt hat, maliziös orchestriert, indem sie sie reihum in Kästen und Auszügen der Küchenzeile und Kochinsel versteckt. Lea Desandre gibt die Aufsteigerin mit eiskaltem Charme, gepaart mit sinnlicher Verführungskunst und umwerfender Grazie. Kein Wunder, dass die Männer ob ihrem geschmeidigen, farbenprächtigen Mezzosopran in Verbindung mit der Souplesse und Anmut ihrer physischen Präsenz reihenweise den Verstand verlieren. Und schliesslich auch das Leben...

Denn Jetske Mijnssens Regie setzt dem zynischen Machtgerangel noch einen drauf: Poppea hat die Lektion ihrer Lehrmeisterin nur zu gut begriffen und macht sich diskret an den fürs Finale bereitstehenden Champagnergläsern zu schaffen... Brindisi! Evviva! – doch Poppeas Glas bleibt unberührt stehen, Agrippina gießt das ihre mit Grandezza auf den Boden, wo sich die Männer im Todeskrampf winden. Am Schluss stehen sich zwei mächtige Frauen gegenüber – patt!
Man darf davon ausgehen, dass sich die Machtspirale weiterdrehen wird. Dass sich die krasse Mixtur aus Lüge, Hinterlist, Bosheit und Machttrieb unschwer auch auf unsere Gegenwart übertragen lässt, spricht für die Modernität und Zeitlosigkeit des Stoffs. Und für dessen aktuelle Umsetzung im Zürcher Opernhaus, ohne dass allzu explizite Anspielungen herbeigezwungen würden. Wir haben es dennoch verstanden....

Zwei beste «Freindinnen»: Poppea (Lea Desandre) und Agrippina (Anna Bonitatibus)
unten: Agrippina (l.) und Sabina Poppea (© Wikimedia Commons, Palazzo Massimo, Rom)

Szenenbilder: © OHZ – Monika Rittershaus
04.03.2025
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Mit Freude und auch grosser Neugier lese ich deine tollen Beiträge. Die Inhalte sind eine gute und sehr einladende Vorbereitung für mich, aber auch sonst ist es eine Freude deiner Schreibkunst zu folgen! Danke dafür!
E. B.
Die Aufführung und dein Text - einfach grossartig !!!
HK
Schon allein diesen Text zu lesen, ist eine Lust. Wir haben die Aufführung auch gesehen und sind begeistert!
M. & W. E.
Wieder eine grandiose Zusammenfassung unseres neuesten Opern-Ereignisses, mit sehr aussagekräftigen Bildern – allerbesten Dank! Die "Kritik" regt wahrlich dazu an, sich das Stück noch ein weiteres Mal anzusehen.
H. H.
Ich war gestern in der Oper. Im Gegensatz zu meinen Freunden (sie finden Händel langweilig) habe ich die Aufführung genossen. Dass ich mich mit den Countertenören schwertue, ist Tatsache. Das ist aber mein Problem. Ich fand die Musik, das Orchester (mit Spitzenkönnern), die Sänger (mit Ausnahme besagter persönlicher Rezeptionseinschränkung), insbesondere Lea Desandre, das raffiniert organisierte und wandelbare Bühnenbild (du beschreibst es), grossartig. Ein gelungener Abend, der zum Geniessen, Schmunzeln einlud. Hinterher nun auch noch deinen Kommentar zu lesen und dabei, wie immer, noch viel über Geschichte, Inhalt und Interpretation zu lernen, komplettiert meinen Rückblick. Danke!
P. Z.