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Kafka’s American Dream



Das soll Oper sein? Nein, eigentlich nicht! – Roman Haubenstock-Ramatis «Amerika»-Oper nach Kafka, die jetzt am Zürcher Opernhaus eine bejubelte Wiederauferstehung erlebt, ist mit Live-Orchester und elektronischen Surround-Klangeffekten sowie Bild- und Lichtreizen aller Art ein völlig verqueres Multimedia-Spektakel – irritierend, faszinierend, überwältigend.

 

Franz Kafka selbst taxierte den Roman gegenüber seinem Freund, Mentor und Herausgeber Max Brod zwar als «hoffnungsfreudiger und lichter» als alles, was er sonst geschrieben habe. Doch auch hier finden sich die Motive des Unheimlichen, des Ausgeliefert-Seins an eine diffuse Bedrohung durch anonyme hierarchische Strukturen. Damit verbunden sind irrationale Situationen von grotesker, mitunter absurder Komik an der Grenze zur Tragik. Und dass alles in trockener Sprache, in juristisch präzisen, gedrechselten Schachtelsätzen daherkommt, ist doppelt verstörend. Kafkaesk!




1927, postum und entgegen dem Willen Kafkas, der das Manuskript wie auch diejenigen des «Prozess» und des «Schloss» nach seinem Tod verbrannt haben wollte, veröffentlichte Brod den Text mit dem ursprünglichen Titel «Der Verschollene» und nannte ihn «Amerika».

 

Eine seltsame Parallele verbindet diesen Roman mit dem Komponisten Haubenstock-Ramati, mit dessen Leben ebenso wie mit dessen Oper.



Roman Haubenstock-Ramati (1919–1994)  Franz Kafka (1883–1924)


Kafkas unvollendet gebliebener, aus 7 Kapiteln bestehender Roman erzählt die Geschichte des 16-jährigen Karl Rossmann, der von seinen Eltern aufgrund eines «Fehltritts» nach Amerika geschickt wird – «verbannt», müsste man richtigerweise sagen (ein Dienstmädchen, das ihn(!) vergewaltigte, erwartet ein Kind von ihm). Dort widerfährt ihm vielerlei Ungemach: Als erstes verliert er Koffer und Regenschirm. Auf der Suche nach seinen Halbseligkeiten trifft er, tief in den Eingeweiden des Dampfers, auf den Heizer, mit dessen Geschick er sich spontan solidarisiert. Kurz darauf begegnet er seinem Onkel, der ihn aufnimmt, aber bald wieder grundlos verstößt. Er lernt exzentrische Frauen kennen. Erst die übergriffige, brutale Klara. Dann die ständig nörgelnde, hypochondrische Sängerin Brunelda, später die blässliche, unglückliche Therese und die fürsorgliche Oberköchin... Auch ein ewiger Student und zwei zwielichtige Landstreicher, Vorgänger von Becketts Wladimir und Estragon, kreuzen seinen Weg. Er wird Liftboy, wegen einer Lappalie vom autoritären Oberportier aber bald wieder entlassen und heuert schliesslich beim «Grossen Naturtheater von Oklahoma» an, wo «jeder willkommen ist» – ein scheinbares Paradies? Hier bricht der Plot ab, in welchem intransparente Mächte und dunkles Walten den Gang bestimmen – Lost in America, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten...  

 

Kafkaesk mutet auch das Schicksal des polnisch-jüdischen Komponisten Haubenstock-Ramati an. 1919 in Krakau geboren, führte ihn das Leben, geprägt von Flucht, Verhaftung, Deportation, Kriegsdienst über Lemberg, Odessa, Tomsk nach Palästina, dann, nach dem Krieg, nach Tel Aviv und schliesslich nach Wien, wo er 1994 starb. Auch seine «Amerika»-Oper, obwohl ein Meilenstein in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, scheint fast verschollen. Seit ihrer skandalträchtigen Uraufführung 1966 in Berlin kam sie nur noch zweimal auf die Bühne: 1992 in Graz und 2004 in Bielefeld.

 


Dass sich die Zürcher Oper an dieses äußerst anspruchsvolle Werk wagen darf, verdankt sich dem außergewöhnlichen technischen Equipment des Hauses. Dem Komponisten schwebte nämlich ein im Wortsinn um-fassendes Gesamtkunstwerk vor: Oper, Melodram, Schauspiel, Tanz, Pantomime, Projektionen. So verlangt er neben dem Live-Klangkörper im Graben – klassisch besetzt mit Streichern, Holz, Blech und Perkussion – zwei weitere, und für ein orchestrales Intermezzo sogar ein drittes zuvor aufgenommenes Orchester, ferner Sprechchöre und Geräuschkulissen ab Konserve, alles nach ausgeklügeltem Zeitraster zugespielt und über die Surround-Anlage aus 64 im Haus verteilten Lautsprechern erklingend. Die totale Immersion in eine Welt aus Klang, Text und Szene!  Man darf annehmen, dass der Komponist seine helle Freude hätte an dieser mit modernster Technologie realisierten Produktion.


 


Für einmal hat sich die Pandemie positiv ausgewirkt: Indem man die unfreiwillige Pause nutzte für die Vorbereitung und Einstudierung der eigentlich für März 2021 angesetzten Produktion. Zur Niederschrift der komplexen Partitur aus Klangballungen, Glissandi, Zwölfton-Strukturen sowie skandierten Chören und pathetisch übersteigertem Sprechgesang hatte sich Haubenstock-Ramati auch eine eigene Notation erdacht, die bisweilen an Kaligramme und grafische Zeichnungen erinnert und die es erst mal zu entziffern galt; die einzelnen Stimmen dagegen sind im herkömmlichen System notiert.



Dem Dirigenten Gabriel Feltz und dem Klangregisseur Oleg Surgutschow kommt also neben der künstlerischen eine enorm fordernde Koordinationsaufgabe zu, die sie mit Bravour bewältigen. Gleiches gilt für Licht (Elfried Roller) und Videos (Robi Voigt), die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion perfekt verwischen und so das Auge des Zuschauers raffiniert täuschen.

 

Auch der Komponist vermied beim Verfassen seines eigenen Librettos jegliche präzise inhaltliche Aussage. Schon Kafka befleißigt sich nicht einer kohärent fortschreitenden, geschweige denn logischen Abfolge von Ereignissen. Es überwiegt das Episodische und das Fragmentierte, der Zufall und die Willkür. Haubenstock-Ramati fragmentiert und destruiert den Roman weiter dergestalt, dass die ohnehin abstruse Handlung und die Handelnden selbst zum Spielmaterial werden wie die einzelnen Splitter eines Kaleidoskops. Dementsprechend finden sich in den Szenenanweisungen Angaben wie nicht näher identifizierbar, unscharf, abstrakte Bilder, seltsame Objekte oder Pantomime ad libitum...

 

Sebastian Baumgarten, dessen Regiearbeiten nicht immer nur erfreulich sind, ist für diese offene Vorlage zweifellos der Richtige. Er nutzt sie auch gehörig! Zusammen mit der Ausstatterin Christina Schmitt entwirft er eine opulente Bilderwelt, die mit unzähligen Anspielungen und Rätseln die Fantasie und Reflexionsfähigkeit des Publikums anregt und fordert. Und bisweilen überfordert!

 



Dennoch entsteht ein Amerika-Bild, das recht nahe an Kafkas Vorstellung der Neuen Welt sein dürfte (der Dichter war übrigens nie dort!); ein Amerika-Bild, das sich selbst in Frage stellt und gerade dadurch, ohne explizite Hinweise, aktuell ist. Flagrant in diesem Zusammenhang ist gleich bei der Landung in der Neuen Welt die Darstellung der Freiheitsgöttin – Kafka nennt sie tatsächlich so! Und bei Ihm reckt sie anstelle der Fackel der Freiheit ein Schwert in die Höhe, statt der Verfassung im Arm trägt sie eine Waage – eine Justitia, die allerdings im Getriebe der Massen fast verloren geht. Man kann sie bei Nicht-Gebrauch auch ganz leicht wieder abzügeln! Denn ihre an sich kapitale Größe nimmt sich neben dem kapitalistischen Registrierkassen-Wolkenkratzer geradezu mickrig aus.


«Justitia» wird übrigens später auch eine Zigarettenmarke heißen, unverkennbar im Marlboro-Look, womit uns Mickey Mouse mit den charakteristischen Vierfinger-Händen in weißen Handschuhen die grenzenlose Freiheit des American Way of Life vorqualmt.

 


Schrill-schräges Panoptikum

Als grellbunter Bilderbogen, nur ab und zu durch ein bedeutungsschweres stilles Dunkel unterbrochen, folgen sich die Stationen von Karls Odyssee im fremden Land. Einen solchen Unterbruch bilden die orchestralen «Vermutungen über ein dunkles Haus». Diese gelegentlich als eigenständige Komposition im Konzertsaal aufgeführte, suggestive Toncollage wird von flüchtigen Lichtbündeln visualisiert, die über sinistre Hauswände geistern – Hitchcock pur und, trotz der magischen Wirkung, etwas lang.



Überaus gelungen ist die Ankunft in N.Y., wo die Passagiere über einen Wall von Containern an Land steigen: Stress und Hektik, sodass der naive Jüngling Karl – Paul Curievici mit eloquentem Tenor und großartiger Bühnenpräsenz – bereits ein erstes Mal schier unter die Räder gerät. Eine weitere Station ist das Haus auf dem Lande, das nur aus geometrischen Zeichen – Türe, Fenster, Tisch, Stuhl als LED-Konturen – besteht und wo ein gelynchter Mensch von der Decke baumelt: Ein Schwarzer? – vielleicht ein grausiger Hinweis auf die diversen Materialien, Texte und Bilder, die Kafka für seinen Roman sammelte. Jedenfalls eine makabre Szenerie, wo die unheimliche Klara dem armen Karl aufs übelste mitspielt, bis ihm die Knochen knacken – Mojca Erdmann als blonde Cruella mit laserartigem Sopran (und später als einsame Büromamsell Therese auch zarterer Töne fähig) macht das grausam gut.





Exponierte Gesangspassagen fordert der Komponist auch von der zweiten wichtigen Frauenfigur, der kapriziösen Sängerin Brunelda: Allison Cook, einmal in Glitzerrobe als Hollywood-Star vor dem Mikrophon, einmal in der Badewanne als keifende Zicke, wo sie von ihrem Butler Delamarche (Georg Festl) ersäuft wird. Spielfreudig und mit markantem Bariton verkörpert Ruben Drole die verschiedenen Macho-Kerle wie Onkel Jakob, Oberkellner oder Theaterdirektor. Auch die weiteren größeren und kleineren Rollen sind untadelig besetzt. Daneben setzen zwölf Tänzerinnen und Tänzer mit ihren zum Teil akrobatischen, zum Teil slapstickartigen oder vom Street- oder Breakdance inspirierten Einlagen pantomimische und witzige Akzente – als alerte Liftboys im Hotel Occidental oder als malochende Arbeiterschaft. Eindrücklich schließlich eine Szene, wo Strommasten aufgestellt werden – schöne neue Welt! – und die Menschen wie Isolatoren auf den Trägern kleben, während die Stromstöße ihre Körper zum Vibrieren bringen. Wie Karl erfassen wir die «Größe Amerikas» – unendliche, öde Weiten, eine einsame Fahrpiste und eine sirrende Stromleitung (Choreografie: Takao Baba).






Ironisch in ihrer Vielfalt und (Un-)Kultur mutet sodann die letzte Szene an, die uns die Rekrutierung und die Propaganda-Tour des Grossen Theaters zeigt. Da bevölkern unzählige skurrile Figuren aus Märchen und Comics die Bühne und gruppieren sich gar zu einer unheiligen Weihnachts-Parodie: Maria und Josef, die von Tür zu Tür wanken, abgewiesen werden und schliesslich, begleitet vom legendären Kometen, das Jesulein in einem Stall in die Krippe betten, wo auch die drei Könige nicht lange auf sich warten lassen – eine Anspielung, die man nicht versteht, auch nicht verstehen muss, obwohl sie bei jedem irgendwelche Assoziationen auslöst. So auch bei Karl Rossmann, der sich angesichts des Miraculums kurzerhand und vielsagend den Papp-Kopf des Krippen-Esels überstülpt...

 




Es folgt der Epilog, der die Anfangszeilen des Prologs wieder aufnimmt: «Nicht verzweifeln, auch nicht darüber, dass du nicht verzweifelst.»* Ob das unserem Anti-Helden gelingen wird? Brauchen konnte er’s angesichts der Abstiegsspirale, die ihn mit unausweichlicher Konsequenz von Kurve zu Kurve dem Abgrund näherbringt. Wie es das amerikanische Verkehrsschild auf Programmbuch und Plakat andeutet... Auch wir nehmen uns die zynisch-heitere Maxime zu Herzen – weniger ob der Ratlosigkeit über das Gesehene und Gehörte in den vergangenen zwei Stunden, sondern eher im Bewusstsein, dass die Gegenwart Kafkas Botschaft erneut bedrohliche Brisanz verleiht..

*Franz Kafkas Tagebuchnotiz vom 21. Juli 1913




Szenenfotos: © OHZ – Herwig Prammer




05.03.2024

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