Scheinwerfer auf! Ein zierliches Persönchen steht im Lichtkegel. Zündet ein Feuerwerk von Koloraturen und Trillern. Und entfesselt einen orkanartigen Zwischenapplaus, dass selbst den Stuck-Karyatiden und -Atlanten, die die Logen und Balkonen des Zürcher Opernhauses tragen, die gipsernen Ohren wackeln, obwohl sie ja doch so allerhand gewohnt sind…
Es ist Zerbinetta, die schillerndste und vielleicht gleichzeitig die authentischste Figur der Oper «Ariadne auf Naxos», des dritten Werks in der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, womit sie sich für die geglückte Uraufführung des «Rosenkavaliers» beim Regisseur Max Reinhardt zu bedanken gedachten.
Eine Idee und ihre lange Entwicklung
Es war ursprünglich Hofmannsthals Idee gewesen, einen Opernstoff mit einem Theaterstück Molières zu verbinden, in der Absicht, das Sprech- und Musiktheater in eins zu fassen, ähnlich, wie es Molière damals mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully realisiert hatte. Ausgewählt hatte man die Ballettkomödie «Le bourgeois gentilhomme», die von einem zu Geld gekommenen Einfaltspinsel handelt, in dessen Haus eine musikalische Farce aufgeführt wird. Diese leichtfüßige Komödie um Liebeshändel sollte nun mit einer Opera seria kombiniert werden: Mit der Tragödie der kretischen Prinzessin Ariadne, die mit ihrem berühmten Faden dem griechischen Helden Theseus half, dem Labyrinth wieder zu entkommen, nachdem er in dessen innerster Kammer das stierköpfige Ungeheuer Minotauros erlegt hatte. Ja, sie hatte für ihn sogar ihre Heimat verlassen und war mit ihm nach Naxos gesegelt, wo er – Helden sind mitnichten die besseren Menschen! – sie schnöde sitzen ließ. Nun war sie da, allein in ihrem Schmerz (und bot mit ihrem Elend, ihrer Trauer unzähligen bildenden Künstlern und auch Komponisten von Monteverdi über Haydn bis Martinů Stoff für ihre Werke).
Die verlassene Ariadne am Strand von Naxos – Gemälde von Angelika Kauffmann (1774)
Bei der Uraufführung (1912) erwies sich diese Kombination jedoch als überlang. Deshalb rückte man von Molières gesellschaftskritischer Farce ab zugunsten eines komödiantischen Vorspiels und des eigentlichen Stücks: besagter Opera seria, die «der reichste Mann von Wien» bei einem jungen Komponisten bestellt hatte, um sie in seinem Palais aufzuführen. So wurde aus dem neureichen, unbedarften Monsieur Jourdain aus Molières Stück ein klotziger Mäzen, der allerdings nicht einmal selbst auftritt, sondern seine haarsträubenden Wünsche über einen Haushofmeister kundtut: Tragödie und Komödie sollen nämlich gleichzeitig aufgeführt werden! Und rechtzeitig zum geplanten Feuerwerk enden!!
Nach der konzeptionellen Umgestaltung und unzähligen Briefen zwischen Berlin oder Garmisch einerseits und dem heute zu Wien gehörigen Rodaun andererseits konnte das Werk am 4. Oktober 1916 in der verknappten Fassung mit großem Erfolg an der Wiener Hofoper in Szene gehen. Das von der ursprünglichen Konzeption verbliebene musikalische Material floss später in Strauss’ Orchester-Suite «Der Bürger als Edelmann» ein.
In ihrer endgültigen Form ist «Ariadne» eines der gelungensten musikalisch-literarischen Bühnenstücke mit einem geistreichen Libretto, das von funkelndem Witz, heiterer Tragik und tiefempfundener Menschlichkeit geradezu überquillt (Neben dem Musikgenuss lohnt sich deshalb eine Lektüre des sprachlichen Juwels!)
Dennoch hat Hofmannsthal das Werk immer als sein Schmerzenskind bezeichnet: In seinem ästhetisch wie operngeschichtlich bedeutsamen Anspruch der Vermischung des Heroischen mit dem Komischen hat er sich gegen den Theaterpraktiker Strauss nicht immer durchsetzen können. Gleichwohl ist das Nebeneinander von Ernst und Humor, von Empathie und Spott gewahrt. Gleichwohl ist die Dialektik des goethischen «Stirb und Werde», des Wandels, des Ver-Wandelns, das Ariadne, aber auch die «leichtherzige» Zerbinetta und der schwärmerische Komponist durchlaufen, zu spüren, unterschwellig zwar, doch nicht minder deutlich.
Dies verdankt sich unter anderem der klugen, im besten Sinne warmherzigen Arbeit, die Andreas Homoki zum Auftakt seiner letzten Spielzeit als Intendant/Regisseur am Haus vorlegt.
Das Thema «Theater» mit seinem schönen Schein, dem schmalen, brüchigen Grat zwischen Illusion, Trug und Wahrheit passt. Selbst der mythologisierende Titel des Stücks, der eigentlich eine hochdramatische Barockoper verheiisst, ist letztlich – Theater. So fügt sich das Stück – die musikalisch-literarische Vorlage wie deren aktuelle Realisation – ein in die endlose Reihe von Theaterstücken, die den indiskreten und umso lustvolleren Blick hinter die Kulissen des Theaterbetriebs erlauben. Und besonders des Musiktheaters, wo Nerven und die Stimmbänder blank liegen... Als flagrantes Beispiel: In der Pause nach dem Vorspiel tritt Homoki vor den roten Vorhang und erntet damit ein Schmunzeln der Insider: Nein, keine Angst, er spiele nicht mit, sagt er in unausgesprochener Anspielung auf seinen Vorgänger im Amt, der jeweils, glanzvoll livriert, gern in die Sprechrolle des Haushofmeisters schlüpfte. Doch diesmal geht’s um die Indisposition von Andrew Owens, dem Sänger des Brighella, der seine Rolle zwar stumm, aber mit vollem Körpereinsatz toll weiterspielt, während ein Kollege (Manuel Günther) am Rand seinen Part singt. So sind sie, die inconvenienze teatrali, so ist Oper!
Die Magie des Theaters
Von einer Karikatur des Opernbetriebs mit seinem alltäglichen Wahnsinn, wie ihn Werke wie Florian Gaßmanns «Opera Seria», Mozarts «Schauspieldirektor» oder eben Donizettis «Viva la mamma» genüsslich auf die Schippe nehmen, ist «Ariadne» indes weit entfernt, auch wenn sie die Umstände von Entstehung, Aufführung und Rezeption des Musiktheaters geistreich und pointensicher zur Darstellung bringt.
So blicken wird denn, noch bevor die Musik erklingt, in den dunklen neutralen Bühnenraum, wo sich eine Schar schwarzgekleideter Männer und Frauen mit Dehnungs- und Lockerungsübungen fürs Kommende vorbereitet. Gestaltet hat diesen profanen «Arbeitsraum» Michael Levine, und er wird nach der Pause noch eine echt geniale Scheinwelt herbeizaubern.
Wie das Vorspiel einsetzt, werden von den Seiten raumhohe Bühnenelemente reingeschoben; eine gigantische Kleiderstange senkt sich von oben herab; jeder fischt sich etwas heraus aus dem bunten Klamottenfundus: T-Shirt, Baseball-Mütze, Morgenmantel, resedafarbenes Déshabillé mit Schwanenpelzbesatz (natürlich für die Diva), Pullover, Jacke... Später kommt noch ein Ständer mit Brautkleidern dazu, nicht alles sehr stilsicher, aber alles bunt, originell und von gekonnter Geschmacklosigkeit. Und um es gleich abzuhaken: Dem Kostüm der Zerbinetta – ein unförmiger blauer Hosenrock und ein Irgendwas-Oberteil – hätte etwas mehr modisches Flair, etwas mehr Chic (von Sexyness wollen wir erst gar nicht reden) gutgetan, ohne aus der Figur gleich eine Zirkusprinzessin oder ein Revuegirl zu machen. Zusammengestellt hat dieses textile Sammelsurium die Kostümbildnerin Hannah Clark.
Wie auch immer: Wir werden Zeugen, wie sich Alltagsmenschen in Opernfiguren, in Sänger, Protagonisten, Komparsen, Bühnenarbeiter verwandeln. Wir erleben, wie sich die Magie des Theaters schrittweise entfaltet. Selbst das Licht, das später zum wichtigen Teil des Bühnenzaubers wird (Franck Evin), erscheint noch technisch nüchtern: In Gestalt des Scheinwerfer-Racks, das auf halbe Höhe heruntergefahren, will sagen: entzaubert wird.
Homoki lässt das köstliche Vorspiel genüsslich abspulen, setzt da und dort delikate Pointen ins temporeiche Geschehen. Der eitle Tenor, der den unseligen Perückenmacher ohrfeigt und ihm die unpassende Perücke nachschmeißt. Die eingebildete Diva, die dauernd nach dem Herrn des Hauses verlangt. Oder der junge Offizier, hier jedoch ein schlaksiger Feuerwehrmann (Tomislav Jukic), der es nicht schafft, sein Bouquet der angebeteten Sängerin zu überreichen.
Als schwarze Eminenz und Stimme seines Herrn gibt altgediente Bassist Kurt Rydl einen Haushofmeister von souveräner Arroganz. Er befiehlt, verkündet, schnippt mit den Fingern und ist gewohnt, dass man ihm ohne Widerrede gehorcht: ein schauspielerisches Kabinettstück.
Köstlich auch die vier Sidekicks der Zerbinetta, närrische Chargen aus der Commedia dell’arte, die mit ihrem Allotria ein wenig an die Handwerker aus dem «Sommernachtstraum» erinnern: Yannick Debus (Harlekin), Daniel Norman (Scarramuccio), Hubert Kowalczyk (Truffaldin) und der erwähnte Andrew Owens (Brighella) machen aus dem Trabantenquartett eine singende und schauspielernde Phalanx, die immer, wenn’s allzu klamaukig zu werden droht, die Kurve gerade noch schafft. Vier Rabauken, die doch nicht so abgebrüht sind, dass sie der liebeskranken Ariadne nicht ein gewisses Mitgefühl entgegenbringen.
Mitten im Strudel – eine von der Regie mit besonderer Empathie bedachte Figur – ist der Komponist, der noch allerletzte Retuschen und Ergänzungen zu seinem Werk anbringen möchte. Ihn trifft das fatale Verdikt wie ein Donnerschlag in die empfindsame Seele, was die Pauke unmissverständlich unterstreicht. Lauren Fagan überzeugt in der Hosenrolle des Zartbesaiteten: optisch androgyn in Anzug und mit markanter Intello-Brille, stimmlich mit feinen Lyrismen und juveniler Leidenschaft. Auch zur Aufführung der Oper geistert er/sie wider alle Gepflogenheiten durch die Szene, lauscht verzückt der eigenen Musik, versucht, die dreisten Interventionen der Komödianten einigermaßen in Schach zu halten und ist dem aufwallenden Gefühl gegenüber der koketten Zerbinetta rettungslos aufgeliefert. Da haben auch der Musiklehrer als alter Theaterfuchs (Martin Gantner) und der schnöselige Tanzmeister (Nathan Haller) leichtes Spiel, den verunsicherten Jüngling zum Einlenken zu bewegen, auf dass die Oper «Ariadne» endlich in Szene gehen kann.
Somit kann auch der Teppich ausgerollt werden, der als raffiniert beleuchtetes Rechteck im schwarzen Nichts die «wüste Insel» Naxos darstellt und später gar vom Boden abhebt, sich dreht und buchstäblich den Boden unter den Füssen wanken lässt. Ein pompöses Ehebett wird hereingekarrt, zwei Nachttische, zwei Lampen. Hier, im zerwühlten Pfühl, kann Ariadne sich ihrer Seelenpein ergeben.
Attestiert in ihrer schieren Not wird die Verlassene von drei holden Nymphen. Yewan Han, Siena Licht Miller und Rebeca Olvera fügen sich zu einem balsamischen Terzett, das einen jegliches Leid vergessen macht – oder erst recht zu Tränen rührt? Sie tragen bräutliche Roben, waren wohl die Brautjungfern der Ariadne. Auch diese trägt noch immer Hochzeitrobe und Schleier, die Stöckelschuhe liegen achtlos neben dem Bett, das Foto des treulosen Geliebten steht auf dem Nachttisch. Die schmählich Betrogene sehnt sich nach dem Tod, ist bereit, diesen mit entsprechenden Pharmaka herbeizuzwingen: Die mythologisch überspannte Szene mutiert zu einer «banalen» lebensnahen Situation, die durchaus nicht banal ist für den, «dem sie just passieret…»
Daniela Köhler zeichnet die unglückliche Heroine mit Noblesse und vibratoreichem Sopran, was vielleicht ihrer Seelenpein angemessen ist; Herzenston und vokaler Schmelz geraten bei diesem Rollendebut etwas in den Hintergrund. Noch ist die Unglückliche nicht empfänglich für die lebensklugen Ratschläge der Zerbinetta: «Wer ist die Frau, die es nicht durchlitten hätte?» Doch dann gelingt ihr der stimmliche und emotionale Wandel angesichts des «neuen Gottes» in Gestalt des Bacchus, soeben den Fängen der zauberischen Magierin Circe entronnen, den ihr das Schicksal ans Trauerlager führt. John Matthew Myers hat die undankbar kleine und szenisch doch anspruchsvolle Rolle kurzfristig übernommen und meistert sie mit beachtlichem Anstand. Sein Auftritt aus einem senkrecht gespiegelten, aber echt dreidimensionalen Abbild des realen Schlafgemachs ist ein bühnenbildnerisches Bravourstück und ein echter Hingucker. Mehr als das: eine psychologische Chiffre für die Verunsicherung in Liebesdingen: Können wir je sicher sein, was wahr, was echt ist? Oder salopper formuliert: Vom einen Liebesnest ins andere. Finde die Unterschiede!
Schliesslich ist da eben jene Zerbinetta, eine Schwester der mozartischen Despina. Die Chinesin Ziyi Dai meistert den vokalen Hochseilakt, gespickt mit halsbrecherischen Koloraturen und kristallinen Spitzentönen, mit Grandezza und Sinn für Spielwitz. Doch trotz aller zirzensischen Extravertiertheit und charmanter Frivolität lässt sie auch tiefere Empfindungen erahnen: «Dass ein Herz so gar sich selber nicht versteht.» Kein Wunder also, dass sie nicht nur ihren vier Kollegen den Kopf verdreht, sondern auch dem «grünen» Komponisten heiß macht. Und der versammelten männlichen Belegschaft dazu, wie die hübsche Szene andeutet, wo alle zwar keine Hörner, aber einen weißen Zylinder von der Mamsell aufgesetzt kriegen...
Markus Poschner am Pult der Philharmonia Zürich führt mit sicherer Hand durch die kammermusikalisch fein ziselierte Partitur. Das Orchester, vielleicht etwas stärker besetzt als von Strauss vorgesehen, agiert wach und flexibel. Vieles, ja fast alles ist da: Zart hingetupfte Parlando-Passagen und aufschäumende Klangwogen. Dramatische Zuspitzung und energetischer Fluss. Die Feinarbeit mit dem Silberstift und die große, mitunter allerdings oft etwas zu heftig dröhnende Geste. Die für Strauss typische Raffinesse, die Klangmagie wird sich, darf man hoffen, im Laufe der weiteren Vorstellungen noch vermehrt einstellen. Jedenfalls vergehen die zwei Stunden Spieldauer wie im Flug.
Das vertikale Bett samt Zubehör entschwindet in den Schnürboden, der Teppich am Boden wird eingerollt, das Mobiliar abgezügelt. Das neue Paar Ariadne-Bacchus enteilt – einem neuen Glück, einer neuen Enttäuschung entgegen…?
Zurück bleibt der Komponist, allein und etwas verloren. Da erscheint – die Idee könnte von Hofmannsthal stammen – Zerbinetta und nimmt den armen Jungen an der Hand und führt ihn weg.
Haushofmeister Rydl heisst die Scheinwerfer ausknipsen. Das Feuerwerk kann beginnen – in Form eines rauschenden Beifalls.
Szenenbilder: © OHZ – Monika Rittershaus
22. 09. 2024
Weitere Beiräge finden Sie hier.
Du bist ein Meister!. Wie Du Deine Leser durch ein Werk führst – von dessen Entstehungsgeschichte über die Inszenierung, das Bühnenbild bis zur Würdigung einzelner Musiker/Künstler – , und so ganz nebenbei durch die verschiedensten Kunst- und Wissensgebiete spazierst, das ist einfach genial. Deine Blogs sind im besten Sinn bildend und unterhaltend. Gratuliere! Und danke!
K. W.
Vielen Dank für diese wahrhaft meisterliche Würdigung!
Man erlebt aus Deinen Schilderungen die raffinierte Oper als wäre man leibhaftig dabei
H.
Nicht nur die Oper, auch diese Berichterstattung ist ein "Juwel"– sprachlich wie inhaltltlich! Vielen Dank!
S. S.