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Zeit und Publikum wechseln – Carmen bleibt

An die dreitausend Mal ist sie in den 149 Jahren seit ihrer Uraufführung allein über die Bühne der Opéra Comique gegangen, ganz zu schweigen von den ungezählten Aufführungen in den Theatern rund um die Welt. Die Rede ist von Georges Bizets (1838–1875) Meisterwerk «Carmen», das am 3. März 1875 in Paris erstmals in Szene ging. Anfänglich mit sehr mäßiger Resonanz, die sich indes von Aufführung zu Aufführung steigerte und schließlich das Werk weltweit zur meistgespielten Oper des französischen Repertoires machte. Ein Regisseur, eine Regisseurin begibt sich also mit einer x-ten Version dieses Erfolgsstücks auf ein längst bestelltes Feld von Lesarten – Alles, alles hatten wir schon: realistisch, folkloristisch, minimalistisch, puristisch, soziokritisch, feministisch... Fürwahr, kein leichtes Erbe. Oder, positiv ausgedrückt, eine inszenatorische Herausforderung.



Andreas Homoki, der Noch-Intendant der Zürcher Oper, stellt sich diesem Zwiespalt mit einer verschlankten Regiearbeit, die er mit seinem Team – Paul Zoller (Bühnenbild), Gideon Davey (Kostüme) und Franck Evin (Licht) – bereits 2023 für Paris geschaffen hat. Eine, um es gleich vorwegzunehmen, solide Arbeit, ein über Strecken überzeugendes Konzept, das die Oper gewissermaßen durch eine Zeitmaschine schickt. Entstanden ist die Kreation just auf bzw. für jene Bühne, wo schon die Uraufführung stattfand (allerdings nach einem Brand 1889 neu erbaut). Diese geschichtsträchtige Spielstätte an der Place Boieldieu 1, auch als Salle Favart bekannt, war Programm für Regie und Ausstattung.

 

Alors: Lever de rideau! Eben nicht! Der kommt später – und gleich mehrfach! Fürs erste blicken wir in einen offenen, gähnend leeren Raum, eingefasst von düsteren Backsteinwänden, im Hintergrund die Brandmauer mit schlitzartigen, raumhohen Stahltoren, an der Rampe ein muschelförmiger Souffleurkasten: Abbild der Bühne der Opéra Comique. Übrigens alles gefertigt in den hiesigen Ateliers, da die Opéra Comique offenbar keine Werkstätten besitzt.

 

Kontrastierend zu diesem tristen Anblick schallt uns aus dem Orchestergraben Anderes entgegen, Schmissiges, Brillantes, Energiegeladenes. Bereits die ersten Takte der pulsierenden Eingangsmusik lassen aufhorchen, und der erste Eindruck wird sich während des Abends bestätigen.

 


Nicht Spanien – sondern Paris

Unter der Leitung von GMD Gianandrea Noseda bringt die Philharmonia Zürich den unwiderstehlichen Sog von Bizets Partitur zum Blühen und Glänzen, auch die sinnliche Körperlichkeit dieser außerordentlichen Musik, die man hinlänglich zu kennen glaubte, um sie nun ganz neu, ganz frisch zu erleben – zu er-hören: Perfekt abgemischter Streicherklang, der sich von südlicher Helle jäh zu unheilvollem Changieren abdunkeln kann. Delikates Holz: keck-frivol im Spottchor der Kinder, aufreizend in der Schenke des Lillas Pastia, elegisch im Vorspiel zum dritten Akt, ironisch kommentierend im Schmuggler-Akt. Facettenreiches Blech: pointiert in der auftrumpfenden Torero-Musik, zart persistierend im Duett Micaëla/José… Trotz bestechender Detailarbeit bezüglich der solistischen Profilierung einzelner Instrumente oder Instrumentengruppen bleibt der große Bogen gewahrt. Nie wirkt der vorwärtsdrängende Zug übersteuert, vielmehr erlaubt er auch das Auskosten des melodischen und harmonischen Reichtums, pflegt die exquisite Abschattierung der Dynamik, begünstigt das organische Atmen und Agieren mit den Sängern. Dem Orchester, das sich gegenwärtig ebenfalls mit Wagner profiliert, gelingt hier ein ausgesprochen französischer Tonfall: alert, elegant, eloquent und, ja, oft mit subtil-ironischem Unterton – Genau das dürfte Nietzsche mit seinem vielzitierten Statement von der «Musik, die nicht schwitzt», gemeint haben.

 




Zurück zum Vorspiel: Zur Reprise des Eingangsthemas erscheint ein junger Mann in heutigen Alltagskleidern auf der Bühne. Suchend und etwas desorientiert tappt er im Kreis, entdeckt einen am Boden vergessenen Klavierauszug und vertieft sich darin. Als im Dunkel – aus dem Graben erklingt jetzt das Schicksalsmotiv – zudem drei historisch gewandete (Theater-)Figuren auftauchen – Carmen, Micaëla, Escamillo – gerät seine Identität ins Wanken. Unversehens – oder vielleicht auch einem inneren Zwang folgend? – schlittert er in die Geschichte hinein, die das Librettisten-Duo Henri Meilhac und Ludovic Halévy aus Prosper Mérimées literarischer Vorlage, der Novelle «Carmen» (1845), destilliert haben. Damit nimmt diese Szene vorweg, was Don José in der sogenannten Blumenarie, sekundiert vom wundersamen Klang des Englischhorns, seiner Angebeteten gestehen wird: «… pourquoi faut-il que le destin l’ait mise sur mon chemin?» (Warum musste das Schicksal sie meinen Weg kreuzen lassen?)

 

Anstelle des üblichen Soldatenchors entert nun das großbürgerliche Opernpublikum von damals, 1875, die Bühne – Herren in Cutaway und Zylinder, Damen in Roben mit Cul-de-Paris. Das Licht im Saal geht an, die Sänger zeigen auf uns, die heutigen Zuschauer, und machen uns damit zu jenen Gaffern, Tagedieben und Müßiggängern, die der Eingangschor beschreibt: «...drôles de gens que ces gens-là!» Das Licht im Saal – theatertechnisch: das Durchbrechen der vierten Wand – wird sich noch zweimal wiederholen: Beim Schmugglerchor (Prends garde de faire un faux pas! – Achtung, keinen Fehltritt!) und zum Jubelchor vor der Arena – das Publikum soll also Teil des Geschehens werden – once is fine, twice is okay, three times is once too much...

 

Der 3. Akt spielt im Mauergeviert des Bühnenraums, in dessen Mitte sich das Schmugglergut türmt – Kisten, verschnürte Ballen, gerollte Teppiche; dazu nächtlicher Schneefall, diffuses Licht. Nun evozieren die Kostüme die Kriegsjahre um 1940; die Bourgeoisie – das heisst der ausgezeichnet singende und agierende Chor (Einstudierung: Janko Kostelic) – scheint sich nicht nur der Kontrabande, sondern auch gleich der Résistance verschrieben zu haben.

 



Noch zügiger mutiert das Ensemble für den 4. Akt zu einer aufgekratzten Spaßgesellgesellschaft der 1960er Jahre, wenn es gilt, dem erfolgreichen Torero Escamillo zuzujubeln. Und zwar verfolgt das gemeine Volk das blutige Ritual am Bildschirm eines Vintage-TV-Geräts mit ausgefahrener Antenne auf dem Platz vor der Arena (Public viewing avant la lettre!). Die Schlachtenbummler jubeln, bechern, schmeißen Konfettis und Luftschlangen und sind auch sonst kaum zu bändigen. Entsprechend zelebrieren die Kostüme den biederen Chic der Sixties.

 



Keine Drehbühne – sondern Vorhänge à discretion

Doch wir greifen vor, denn erst jetzt wird der öde Raum recht eigentlich zur Szenerie, indem sich nämlich ein rotgoldener Brokatvorhang mit Draperien, Troddeln und Fransen herabsenkt und Theateratmosphäre suggeriert. Er wird sich im Lauf des Abends (sehr!) häufig schließen und öffnen, um Szenen zu gliedern und Ortswechsel anzudeuten. Später, für die Schenke, kommt ein weiterer grauer Vorhang dazu, und schließlich, für die Fiesta und die Corrida am Schluss, noch ein dritter, nachtblauer mit Paillettenbesatz. Das lässt ans Cabaret im französischen Stil denken; auch die Lichtführung, welche die Protagonisten bisweilen in gleißende Scheinwerferkegel taucht, erinnert vage an Varieté oder gar Zirkus.

 

Den naiven José aber erwartet weiteres Ungemach: Statt die traditionelle Wachablösung zu parodieren (die hier gar nicht stattfindet), nimmt eine Horde frecher Rangen den Jüngling singend und triezend aufs Korn, indem sie ihm nicht nur den Klavierauszug als einzigen Leitfaden im Gefühlssturm entreißt, sondern ihn auch bis auf die Unterwäsche auszieht. So manövrieren die Kinder den Hilflosen endgültig in die Rolle des unglücklichen Brigadiers, der wohl oder übel in die Militärklamotten und Stiefel steigen muss, die ihm der Chor maliziös bereithält.

 


Keine überhitzte Erotik – sondern verführerisches Piano

Damit ist sein Schicksal besiegelt, das nun in Gestalt Carmens auftritt. Für ihr Rollendebüt leiht Marina Viotti der verführerischen Roma aufregende Gestalt und Stimme. In ihrer Habanera und später in der Séguedille verzichtet sie auf erotisches Gurren, sondern lässt ihren gerundeten Mezzosopran frei fließen, setzt bedeutungsvolle, aber nie übertriebene Akzente und vertraut auf die Verführungskraft eines delikaten Pianos, auf die Macht einer raffinierten Unterkühlung. Provokante Lässigkeit und aufreizende Nonchalance charakterisieren diese Frau, die sich ihrer Wirkung bewusst ist. Umwerfend, wie sie mit ihrem Trällern nicht nur José, sondern auch seinem Vorgesetzten, dem gockelhaften Zuniga (Stanislav Vorobyov) den Kopf verdreht. Eine andere, unheimliche Facette ihres schillernden Wesens offenbart sich im fatalen Kartenterzett, wo sich ihre jetzt betont dunkel verschattete Stimme ideal mit den unterschiedlich hell timbrierten Stimmen von Mercédès (Niamh O'Sullivan) und Frasquita (Uliana Alexyuk) paart. Und noch einmal anders, nämlich als verliebtes Mädchen, erscheint sie im Schmugglerquintett, das nicht nur eine der witzigsten Kompositionen der Oper darstellt, sondern das die drei Gefährtinnen im Verbund mit dem vorlauten Remendado (Spencer Lang) und dem großspurigen Dancaïre (Jean-Luc Ballestra) zum Kabinettstück machen, zumal es von der Regie ganz im Geist der Opéra comique inszeniert wird: eine liebevoll zugespitzte Vignette im großen Gemälde. Überhaupt gruppiert die Regie die Protagonisten immer wieder zu reizvollen Tableaus, die das Geschehen gleichsam anhalten und reflektieren lassen – so etwa das köstliche Bild der paffenden, leichtgeschürzten Zigarrenarbeiterinnen.

 



Chancenlose Gegenspielerin des weiblichen «Dämons», so Don José, ist Micaëla, interpretiert von Natalia Tanasii. Trotz ihres braven Zopfs, trotz ihres grauen Rocks mit adrettem weißem Krägelchen – später, beim Aufsuchen der Partisanen und Verfemten im Gebirge, trägt sie, durchaus passend, noch eine Schürze mit Rotem Kreuz – ist sie kein unbedarftes Kind vom Land. Mit ihrem klaren, leuchtenden Silbersopran signalisiert sie Entschlossenheit und Mut. Die Übergriffe der Männer, vorab des anzüglichen Moralès (Aksel Daveyan) kontert sie mit einem gutplatzierten Kick in dessen heikelste Stelle. Und der «scheue» Kuss, den sie José zusammen mit dem Brief von der Mutter, deren Stimme aus dem Off erklingt, überbringen soll, fällt sehr heftig aus, und das gleich zweimal... Sie kämpft um ihren José, besonders sinnhaft dargestellt, als dieser von den beiden Rivalinnen wie von zwei Gestirnen – Abenteuer und Unheil verkündend die eine, Beständigkeit und Schutz verheißend die andere – umkreist wird. Der ewige Konflikt lässt den Mann schon mal den Kopf verlieren... Und erst recht das Herz...





Derart feingearbeitete Details sind eine der Qualitäten von Homokis Personenführung. So kann getrost auf spanisches Kolorit verzichtet werden. Kein Fächer, keine Mantilla, einzig Escamillo, der Matador, gibt sich spanisch mit seiner typischen Tracht, den rosa Kniestrümpfen und der schwarzen Montera. Łukasz Goliński erfüllt das Klischee des machohaften Arena-Star mit ausladendem, stentorhaftem Bassbariton, was ausgezeichnet zur Rolle passt, die wohl bereits von den klugen Librettisten ein klein wenig parodistisch angelegt wurde.






Kein Stimmenprotz – sondern Rollenidentifikation

Ein umso differenzierteres und bewegendes Psychogramm Don Josés entwirft Saimir Pirgu. Seine intensive Bühnenpräsenz geht einher mit einer stimmlichen Souveränität, die ungestüme Leidenschaft und intime Verletzlichkeit zu vereinen versteht. Der wissende Sänger überzeugt in leidenschaftlichen Forte-Ausbrüchen gleichermaßen wie in anrührenden Piano-Phrasen. Er setzt seinen scheinbar unangestrengten Tenor nicht als Selbstzweck ein, sondern stellt ihn stets in den Dienst der Handlung, der emotionalen Situation, welche die Zerrissenheit des zunehmend haltlos werdenden Mannes widerspiegelt – bezeichnend, wenn Carmen ihn aus seinem Militärjacket schält, ihm Hemd und Hosenträger abstreift. Schritt für Schritt werden wir Zeuge seines Niedergangs, die sich unterschwellig bereits im anrührenden ersten Duett mit Micaëla erahnen lässt... Die sich in der genialen Szene im Widerstreit zwischen Carmens Verlockungen und dem Ruf der militärischen Pflichterfüllung manifestiert… Die Musik und Geste eins werden lässt, beispielsweise, wenn er in der Blumenarie nach der Emphase des hohen b‘ die Stimme ins zarteste Piano zurücknimmt und den Kopf auf Carmens Schoß bettet... Die kulminiert in der tödlichen letzten Begegnung der beiden Protagonisten… Und die endet mit dem erschütternden «vous pouvez m’arrêter»...

 

Don Josés persönliche Tragik spiegelt sich im schockierenden Femizid. Das bedeutet keine Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle. Vielmehr: Wenn ein geniales Werk und eine Regie ohne plakative Belehrung es schaffen, Betroffenheit über ein bis heute aktuelles gesellschaftliches Phänomen auszulösen, so hat es sich schon mal gelohnt. Der aktuellen unprätentiösen Inszenierung gelingt das. Und der kurze, aber enthusiastische Applaus für alle Beteiligten scheint dies zu honorieren.


P. S. Hier erfahren Sie mehr über Carmen und ihre Geschichte.



 Szenenbilder: @ OHZ – Monika Rittershaus

07.04.2024

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