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Ermordet, aber unsterblich

(Beim Wiederlesen von Prosper Mérimées Novelle «Carmen»)


Ethno-Kitsch, nannte unlängst ein Bekannter Georges Bizets Geniestreich «Carmen». Fächer und Kastagnetten, Cigarillos, Mantillas und Muletas, womit Bühnenbildner und Regisseure die Aufführungen dieser Oper über Generationen gleichermaßen dekorieren wie verharmlosen…; knisternde Arena-Atmosphäre und abenteuerliche Zigeunerromantik, genüsslich eingesetzt oder krampfhaft vermieden... Klischees und Anti-Klischees, beides sollte unseren Blick auf das genuine Drama nicht verstellen, das bezüglich bezwingender Gradlinigkeit und schicksalshafter Verstrickung seinesgleichen sucht.


«Je la frappai deux fois» – Clémentine Margaine und Charles Castronovo

Deutsche Oper, Berlin, 2018 – © Alexander Hildebrand


Jedenfalls bietet diese Gegebenheit Anlass für ein paar Gedanken im Vorfeld zur Premiere der besagten Opéra comique in der Regie von Andreas Homoki, einer Koproduktion mit der Opéra Comique, Paris, und basierend auf der Urfassung mit gesprochenen Dialogen. Um es gleich klarzustellen: Die «Komische Oper» – und ganz besonders «Carmen», wo es um Liebe und Tod geht – ist nicht per se «komisch». Der Gattungsbegriff bezeichnet vielmehr das Genre der Vorstadtkomödie (Vaudeville), die sich, ausgehend vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, auf der Bühne, vorab der französischen, großer Beliebtheit erfreute. Ihr Charakteristikum sind – analog zum deutschen Singspiel oder zur englischen Ballad Opera – einzelne Gesangsnummern und dazwischen gesprochene Dialoge statt gesungener Rezitative. Auch bezüglich ihres Personals unterscheidet sie sich von der Tragédie lyrique: Anstelle von Göttern oder Adligen agieren «einfache» Leute, Bürgerliche, Dienstboten oder, wie im vorliegenden Fall, sogar Outlaws: Zigeuner, Schmuggler, Gauner, Prostituierte...


«Tu ne m’aimes donc plus!» – Magdalena Kožená und Jonas Kaufmann

Salzburger Festspiele, 2012 – © Luigi Caputo



Letzteres hat dazu beigetragen, dass «Carmen», die heute zu den populärsten Opern zählt, bei ihrer Uraufführung am 3. März 1875 auf – teilweise moralisch unterfütterte – heftige Ablehnung stieß. Selbst der damalige Theaterdirektor befand: «Einen Tod auf der Bühne der Opéra Comique. So etwas hat es nie zuvor gegeben. Nie!» Tatsächlich empfand das bigotte Pariser Publikums der Belle Époque, das ja auch immer wieder Zielscheibe von Offenbachs Spöttereien war, die Handlung als zu gewagt, als anstößig und amoralisch: ein fahnenflüchtiger Brigadier und eine Frau, die sich jeglicher Vereinnahmung und männlicher Dominanz widersetzt. Auch die Musik erschien vielen als schwierig, weil von schonungsloser, erschreckender Intensität, die jede Figur, jeden Vorgang wie unter dem Brennglas erscheinen lässt. Eine Musik, die das Geschehen nicht bloß illustriert, sondern die «bis in die letzten harmonischen und dynamischen Details ausschließlich für die Handlung und für den darstellerischen Ausdruck komponiert wurde», so Walter Felsenstein, Regisseur und Gründer der Komischen Oper Berlin.


Ihren weltweiten Siegeszug trat «Carmen» jedoch erst mit der Wiener Aufführung im Herbst 1875 an – Triumph und Verhängnis zugleich. Denn: Nicht nur wurden die Dialoge durch auskomponierte Rezitative ersetzt und ein dramaturgisch unsinniges Ballett eingefügt, beides aus der Feder des Bizet-Freunds Ernest Guiraud. Darüber hinaus war der präzise und zugespitzte französische Urtext durch die sentimentale, pseudoromantische deutsche Übersetzung eines gewissen Julius Hopp weichgespült worden. Clarté und Esprit blieben auf der Strecke, ebenso der psychologische Tiefgang, ein Manko, welches das Carmen-Bild über Jahrzehnte verharmlosend prägen sollte.


Theaterplakat und Schokoladen-Sammelbildchen (um 1910)

 

Bizet konnte allerdings den in der Operngeschichte fast einmaligen Erfolg seines Hauptwerks nicht mehr erleben; er starb drei Monate nach dessen Uraufführung an einer Herzattacke. Zu den zahlreichen Bewunderern von «Carmen» gehörte neben Debussy, Saint-Saëns, Tschaikowski, Brahms auch Friedrich Nietzsche, der sein Wagner-Trauma in den 1888 erschienenen Turiner-Briefen mit einer exaltierten Eloge aufarbeitete, die er später etwas relativierte:

«Ich hörte gestern […] zum zwanzigsten Male Bizets Meisterstück. […] Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie ‹schwitzt› nicht. […] Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch: sie bleibt dabei populär. […] Sie baut, organisiert, wird fertig: […] das Gegenstück zu Wagner, der, was immer sonst, jedenfalls das unhöflichste Genie der Welt war […] – er sagt ein Ding so oft, bis man verzweifelt – bis man's glaubt.»


Lithografie – Luigi Morgani, 1900


Eine gute literarische Vorlage, ein ausgezeichnetes Libretto

Zum Dauererfolg trug auch das Libretto entscheidend bei. Im Team verfasst hatten es die beiden versierten Autoren Henri Meilhac und Ludovic Halévy (letzterer ein Cousin von Bizets Frau). Den beiden verdanken wir ebenfalls viele der von Witz und Eleganz sprühenden Texte zu Offenbachs Opéras bouffes. Mit untrüglichem Theaterinstinkt schaffen die beiden wirkungsvolle Kontrastfiguren, beispielsweise mit der in der literarischen Vorlage nur am Rand erwähnten Figur der blondbezopften (!) Micaëla – gewissermaßen personifizierte Chiffre für Josés baskische Herkunft und das provinzielle Milieu, dem er entstammt. Auch Escamillo, der schwadronierende Torero, gewinnt erst durch das Libretto unmittelbare Lebendigkeit, was dem stummen Lucas im literarischen Vorbild abgeht. Dagegen fallen andere Figuren, etwa Carmens «Rom», ihr einäugiger Ehemann, ganz weg und logischerweise auch dessen Ermordung durch José.

 

Prosper Mérimée (1803–1870) Georges Bizet (1838–1875)


Damit ist das Stichwort gefallen: Die literarische Vorlage, in ihrer Stringenz Giovanni Vergas «Cavalleria rusticana» vergleichbar, stammt von Prosper Mérimée , einem typischen Homme de Lettres du 19ième, Schriftsteller, Übersetzer, Orientalist, Architekturhistoriker und Journalist.

 

Er hat seine Novelle offenbar in einem Guss innerhalb einer Woche niedergeschrieben, der allerdings mehrere Spanienreisen und umfangreiche Recherchen vorangegangen waren. Eine Wieder-Lektüre seiner konzis gebauten Erzählung macht deutlich, dass es dabei nicht um eine folkloristische Genremalerei geht, sondern um einen mit kritischem Skeptizismus und wissenschaftlicher Distanz verfassten Reisebericht – fast möchte man von einem «Kriminal-Rapport» sprechen. Nach der Publikation in der Kulturzeitschrift «Revue des Deux Mondes» (1845 – weil der Autor, wie er einem Freund mitteilt, ein Paar neue Hosen brauchte!) erscheint die Novelle zwei Jahre später in Buchform mit einem zusätzlichen vierten Kapitel, das den Klischees, aber auch deren Mystifizierung Vorschub leistete. Ebenso geht das Bild der marginalisierten, asozialen Sinti als Fortsetzung des aufklärerischen «edlen Wilden» im 19. Jahrhundert und darüber hinaus Hand in Hand mit der Idealisierung des ungebundenen, «lustigen Zigeunerlebens», wie es das bekannte Volkslied suggeriert.


Elīna Garanča, Arena di Verona, 2022 – © Foto ZDF/Ennevi


Im ersten Kapitel stößt der Ich-Erzähler, der sich auf archäologischer Tour durch Südspanien befindet, anlässlich einer Rast auf einen Unbekannten, der sich später als der berühmt-berüchtigte baskische Bandit José Navarro herausstellt.

 

Die Mezzosopranistin Célestine Galli-Marié (1840–1905), die Carmen der Uraufführung von 1875 (Gemälde von Henri-Lucien Doucet,1884)

Erst im zweiten Kapitel erscheint die Protagonistin, die der Erzählung den Titel gab und seither gleichzeitig als Synonym für Hispanidad und, so es ihn gibt, für weiblichen Donjuanismus steht. Ihr begegnet der Erzähler erstmals In Córdoba, nach Einbruch der Dämmerung, am Quai des Guadalquivir. Und so klingt die Beschreibung, die der Autor seinem Erzähler in den Mund legt bzw. in die Feder diktiert; nicht zu überhören der für unsere Ohren leicht rassistische Tonfall des europäischen Wissenschaftlers und Forschers, in dem sich ethnologisches Interesse und Faszination des Exotischen mischen:

«...Ihre Haut, übrigens völlig gleichmäßig getönt, war nahezu kupferfarben. Ihre Augen waren schräg, doch wunderbar geschnitten, ihre etwas starken Lippen waren schön gezeichnet, und dazwischen blitzten Zähne, weißer als geschälte Mandeln. Ihr vielleicht ein wenig zu starkes Haar war schwarz, lang und glänzend, mit dem bläulichen Schimmer von Rabenschwingen. […] Insbesondere ihre Augen hatten einen wollüstigen, aber wilden und zugleich scheuen Ausdruck, wie ich ihn seither nie mehr im Blicke eines Menschen gesehen habe. Zigeuneraugen – Wolfsaugen, sagt ein spanisches Sprichwort, das von guter Beobachtung zeugt. Wenn Sie keine Zeit haben, in den Tiergarten zu gehen, um den Blick eines Wolfs zu studieren, beobachten Sie eine Katze, wenn sie einem Sperling auflauert.» 


In Vorwegnahme der Haupthandlung läßt sich der Erzähler in Carmens Absteige lotsen, wo sie ihm die Karten legen soll und ihn gleichzeitig um seine goldene Repetier-Uhr erleichtert. Als José, Carmens gegenwärtiger Liebhaber, dazwischentritt, offenbart sich ihr ungestümes Naturell: «... Ihre Augen, die blutrot wurden, nahmen einen schrecklichen Ausdruck an; ihre Züge verzerrten sich, sie stampfte mit dem Fuße.»

 

Gaëlle Arquez, Opéra Comique, Paris, 2023 – Regie: Andreas Homoki (© Stefan Brion)


Frédéric Antoun, Opéra Comique, Paris, 2023 – Regie: Andreas Homoki (© Stefan Brion)


Ein weiteres Mal wird Carmen vorgestellt, diesmal aus der Sicht von Don José selbst. Dessen retrospektive Erzählung in der Erzählung bildet den dritten Teil, der, chronologisch auf die Reihe gebracht, den eigentlichen Opernstoff liefert.

 

Bereits zum Tode verurteilt, besucht unser Chronist Don José in seiner Zelle, wo dieser ihm am Vortag seiner Hinrichtung durch den Strang – als Hidalgo erwartet ihn das «Privileg» der Erdrosselung – seine erste Begegnung mit Carmen schildert. Mit jener Frau, die das Leben des Wache schiebenden naiven Unteroffiziers radikal verändern sollte – jene Begebenheit in Sevilla also, die Meilhac/Halévy meisterlich zum Opernlibretto gefügt haben. José berichtet:

«Sie hatte einen sehr kurzen roten Rock an, der Strümpfe aus weißer Seide mit mehr als einem Loch erkennen ließ, und niedliche Schuhe von rotem Maroquinleder, mit feuerroten Bändern gebunden. Die Mantilla hatte sie zurückgeschlagen, um ihre Schultern und ein großes Akazienbouquet zu zeigen, das sie im Ausschnitt ihres Hemdes trug. Überdies hatte sie eine weitere Akazienblüte im Mundwinkel. So schritt sie einher und wiegte sich dabei in den Hüften wie ein Fohlen aus dem Gestüt von Córdoba. Bei uns daheim hätte man sich vor einem Weibsbild in solchem Aufzug bekreuzigt. […] Aber wie die Weiber und die Katzen, die nicht kommen, wenn man sie ruft, und kommen, wenn man sie nicht ruft, blieb sie vor mir stehen und redete mich an.»

(Dasselbe Motiv, das sich beim «oiseau rebelle» wieder findet!) 


Carmens Tanz für José und Carmens Ermordung

Illustrationen des Jugendstilkünstlers Alastair (eigentlich Hans-Henning von Voigt, 1887–1969)

zu einer deutschen Ausgabe von Mérimées Novelle, Rascher & Co. Verlag, Zürich 1920


Eine verhängnisvolle Blüte

Provokativ schnippt sie dem verdutzten Korporal, der sich nicht auf ihre Neckereien einlassen will, die Akazienblüte, die sie im Mund trägt, an die Stirn, genau zwischen die Augen – folgenschwer wie Amors Pfeil. Unbemerkt hebt er sie auf, steckt sie sich ins Wams und besiegelt damit seinen Untergang. Diesen schicksalshaften wie theaterwirksamen Vorfall lassen sich weder die Librettisten noch der Komponist entgehen: Die berühmte Habanera, deren Text wie einige andere Stellen von Bizet selbst stammt. Die Musik dazu soll er ein rundes Dutzend Mal umgeschrieben haben, bis sie ihn und die Sängerin zufrieden stellte. Er benutzte dabei das Lied «El arreglito» (Die «wilde» Ehe) von Sebastián de Yradier, einem längst vergessenen baskischen Komponisten, der mit «La Paloma» einen weiteren Hit geschaffen hat, der ihm heute reichen Tantièmensegen bescheren würde. Bizet bedient damit nicht nur die französische Hispanophilie (Stichwort: Lalo, Debussy, Ravel), er verwandelt das harmlose Tanzlied auch in ein hinreißendes Portrait von Carmens Sensualität: verführerisch, ungebunden, unwiderstehlich – aber auch ihre Tragik erahnen lassend...

 

Die Blüte – «la fleur de la sorcière» – wird später in der Oper – genau wie in der Novelle – nochmals auftauchen: in der sogenannten Blumenarie, an deren Ende José Carmen erstmals seine Liebe gesteht, nachdem er ihretwegen eine Haftstrafe verbüßt hat, weil er sie hatte entwischen lassen, statt sie nach einer blutigen Auseinandersetzung in der Tabakfabrik von Sevilla abzuführen. Bei der besagten Blume, die «welk in Kerkerluft, noch den süßen Duft» bewahrt, handelt es sich um die eher unscheinbare, aber tatsächlich auch noch in getrocknetem Zustand stark duftende Blüte der Acacia Farnesiana, wegen ihrer Herkunft auch Antillenkassie genannt. Dieser dornige Strauch, den Mimosengewächsen zugeordnet, mit gefiederten Blättern und flauschigen, blassgelben Blütenpompons, wurde in der Provence seiner wohlriechenden Blüten wegen kultiviert und in der Parfümherstellung genutzt. (vgl. Beitrag: Amimositäten)

 

Es ist ein bezeichnendes Detail, dass der naturwissenschaftlich interessierte Mérimée seiner Heldin und der erotischen Verstrickung, die sie damit auslöst, ausgerechnet dieses florale Attribut zuweist. Aus Briefen wissen wir, dass ihm anlässlich seiner Spanien-Reisen – im Gegensatz zu Bizet, der nie dort war! – aufgefallen ist, dass die Marseillais bei allen Gelegenheiten eine Kassie zwischen den Lippen stecken hatten. Aus weiteren Quellen – Gustave Flaubert und Frédéric Mistral – erfahren wir, dass auch die dortigen Straßenmädchen eine solche im Mund trugen, als Erkennungssignal – Marguerite Gautiers Kamelie ist somit ein im Hinblick auf die eleganten Pariser Salons stilisiertes Merkmal der mediterranen, plebejischeren Chiffre für ein und dieselbe Sache. Mérimée transponiert diese Sitte mit dichterischer Freiheit nach Andalusien, den Schauplatz der Novelle, und stellt damit Carmen wenn nicht gerade als Prostituierte dar, so doch als Frau, die sich für Liebesdienste schon mal bezahlen lässt.

 

Jedenfalls passen der betörende  Duft, die wehrhaften Stacheln und die exotische Herkunft der Pflanze perfekt auf Carmen! Dennoch ist es auch nicht abwegig, dass manche Regisseure die originale Akazienblüte durch eine Rose ersetzen, selbstredend in bedeutungsvollem Blutrot, was auch optisch mehr hergibt. Allerdings: Wie lange behält eine vertrocknete Rose ihren Duft? Aber Realismus kann ja wohl nicht das oberste Kriterium sein. Am wenigsten auf der Opernbühne!

 


Auch in Bizets Oper hat Carmens erster Auftritt etwas Filmisches,

indem sich der Fokus in cineastischer Weise immer stärker auf die Protagonistin verengt.

Pola Negri und Harry Liedtke im Stummfilm von Ernst Lubitsch, 1918


Ein auffallender Aspekt in der zitierten Passage ist sodann das animalische Wesen Carmens. Sie wird mit einem Wolf, einem Fohlen, einer Katze, einem Raben, andernorts sogar mit einem Chamäleon verglichen: Mit Tieren also, die sich nur schwer oder überhaupt nicht domestizieren lassen und, einmal (vermeintlich) gezähmt, immer wieder ihre angeborene Wildheit hervorbrechen lassen. Unheimliche Tiere, deren undurchschaubare Eigenschaften Verlässlichkeit und Sesshaftigkeit auszuschließen scheinen und deren fremde, überwältigende Schönheit dem Mann gefährlich werden kann.

 

«Je vais danser en votre honneur» – Opéra Comique, Paris, 2023 (© Stefan Brion)


Als Zigeunerin bestätigt Carmen alle diese Eigenschaften. Sie stiehlt, sie lügt, sie ist abergläubisch, kurz: sie bewegt sich außerhalb jeglicher Norm. Sie spricht viele Sprachen, ist nirgends und überall zu Hause, wechselt Liebhaber, Rollen und Kostüme, wie es ihr beliebt. Ihre autonome Haltung bildet den denkbar stärksten Gegensatz zu Josés normativem Selbstverständnis: Er ist nicht nur Soldat und damit in eine klare hierarchische Ordnung eingebunden, er ist auch Bergler, «Baske und alter Christ» (das heisst: Nachfahre der von der muselmanischen Dominanz gegen Norden gedrängten Christen) mit einem «auf Pergament aufgezeichneten Stammbaum». Um seiner Soldatenehre willen akzeptiert er sogar Verhaftung, Knast, Degradierung.

 

Für sie dagegen ist jede Form von Bindung absolut inakzeptabel; ihr höchstes Gut ist die Freiheit. Ihrem Fatalismus widerspricht sein Bedürfnis, das Geschick ordnend in die Hand zu nehmen. Die Dialektik dieses Verhältnisses findet unter anderem ihren musikalischen Niederschlag in jener Szene, in der Carmen für José tanzt und singt, während gleichzeitig das Signal zum Appell erklingt, was Carmen höhnisch nachäfft: «Taratata...!» Dass sie eine Zigeunerin ist, nährt die über Generationen hartnäckig kolportierten Charakteristika der Roma, die sich zum Teil bis heute halten.


«Au secour! Messieurs les soldats!»

Opéra Comique, Paris, 2023 (© Stefan Brion)


«Eh! Compère, que fais-tu là? – Épinglier de mon âme!»

Illustration von Eugène Decisy nach Gaston Vullier

zur Erstausgabe der Novelle in Buchform,1847 (BNP)


Dieser Dualismus – Idealisierung und Dämonisierung – macht Mérimées Carmen zur femme fatale. Sie reiht sich damit in die illustre Genealogie, die von den alttestamentarischen Eva und Dalila über Torquato Tassos Magierin Armida und Abbé Prévosts Manon bis zu Frank Wedekinds Lulu oder Heinrich Manns Lola reicht, um nur einige wenige prominente Vertreterinnen der dämonischen Verführerinnen innerhalb einer reichen literarischen Tradition zu nennen. Selbst Melusine und ihre vielgestaltigen Schwestern wären hier zu erwähnen. Und es erstaunt nicht, dass fast alle von ihnen ihre Verführungskünste auch auf den Bühnen des Musiktheaters ausüben, vereinen sie doch per se zwei Eigenschaften, die für die Oper geradezu unerlässlich sind: Einerseits den sirenenhaften Gesang, der dort beginnt, wo man ihnen das Sprechen verbietet; Carmens scheinbar absichtsloses Trällern ist ein unmissverständliches, wunderbares Beispiel dafür. Und sogar Ihr Name bedeutet Lied, Gesang, Musik. Und andererseits – natürlich erst kurz bevor der Vorhang fällt – einen operngerechten Tod.

 

Das führt unweigerlich zur Frage, wie der Mann in dieser Konstellation agiert, da er sich durch die femme révoltée als emanzipierte Gegenspielerin in seiner Dominanz gefährdet sieht. Gleichzeitig wird damit ihr Anders-Sein gegenüber dem Mann betont, der diesem schillernden Faszinosum hilflos gegenübersteht, ausgeliefert zwischen Begehren, Bewunderung und Bangigkeit. Und in seiner Ohnmacht zum Mörder wird. Die Gleichzeitigkeit von Carmens Ermordung vor den Mauern der Arena und dem von der Menge bejubelten Triumph des Stierkämpfers ist eine der genialsten Eingebungen der Librettisten.

 

«Cette bague … tiens!» – Clémentine Margaine und Charles Castronovo

Deutsche Oper, Berlin, 2018 – © Alexander Hildebrand


Den Mord an Carmen lediglich als Akt der Eifersucht zu sehen, greift indes zu kurz. Mit seiner Tat rangiert sich José vielmehr unter die verunsicherten männlichen Chauvinisten, die der Sprengkraft der weiblichen Selbstbestimmung – nicht zuletzt auch im Bereich der Sexualität – mit einem Gewaltakt zu begegnen suchen, weil diese sein überkommenes Rollenbild ins Wanken bringt.

 

Seinem Bedürfnis nach Stabilität, nach Dauerhaftigkeit und Absicherung kann er nur gerecht werden, wenn er das Objekt seines Begehrens tötet. Erst Carmens toter Körper garantiert ihm paradoxerweise diese Sicherheit. Erst jetzt gehört sie ihm ganz. Indem er den Dolch gegen die ungetreue und ihn abweisende Geliebte hebt, zerschlägt er gewissermaßen jenen Spiegel, der ihm durch Carmens Promiskuität sein idealisiertes männliches Ego verzerrt und ziemlich ramponiert zeigt. Gestützt wird die subjektive Selbstwahrnehmung durch die objektive Situation des Fahnenflüchtigen, Degradierten, Geächteten.

 

Der Mord dient somit der Wiederherstellung seiner rationalistisch kleinbürgerlichen Welt; die letzten Wünsche, die José an den Berichterstatter richtet, zielen klar auf eine Wiederherstellung dieser Ordnung: Er bittet, für seine Seele und diejenige von Carmen eine Messe lesen zu lassen, gleichsam eine christlich sanktionierte Verbindung über den Tod zwischen ihm, dem Mörder, und ihr, dem Opfer. Als sentimentaler Versuch einer Wiedereingliederung in die vorübergehend missachteten Strukturen ist wohl auch das an die Mutter zurückgeschickte Medaillon zu werten, und ebenso die Tatsache, dass er Carmens Leiche im Wald begräbt, gar ein Kreuz auf das Grab setzt und sich anschließend der Justiz überantwortet.


Elīna Garanča und Roberto Alagna, Metropolitan Opera, New York, 2010 – © Ken Howard


«La petite mort» – der kleine Tod. So lautet die französische Umschreibung für den Orgasmus. Im Tod Carmens überwindet José somit den eigenen Tod, den er in seinem Begehren immer wieder durchlebt und durchlitten hat. Im Gegensatz zu ihr, die den Tod immer als reale Größe angenommen hatte – viele Textstellen und vor allem die berühmte Kartenszene lassen keinen Zweifel darüber –, hat er versucht, ihn auszublenden, zu leugnen, zu überwinden.


Saimir Pirgu und Veronica Simeoni, Bangkok, 2018 


Jetzt, im finalen Showdown, ist er bereit, ihn zu akzeptieren und nähert sich so dem inneren Wesen der geliebten Frau – endlich. In diesem endgültigen Akt fallen Eros und Thanatos zusammen. Und ebenso erfüllt sich darin das griechische Epigramm des antiken Dichters Palladas, das Mérimée als zwiespältiges, enigmatisches Motto über seine Erzählung stellt: «Jede Frau ist bitter wie Galle, aber sie hat zwei gute Augenblicke; einen im Bett und einen bei ihrem Tod.» Mit lakonischer Schärfe wird hier die Tragik der fatalen Begegnung zwischen Frau und Mann, zwischen der selbstbestimmten Zigeunerin Carmen und dem unreifen Sergeanten José umschrieben. Ein archaischer Konflikt, der auch heute noch verstört, irritiert und aufwühlt … mit – oder doch lieber ohne Ethno-Kitsch.


Elīna Garanča und Roberto Alagna, Metropolitan Opera, New York, 2010 – © Ken Howard

21. 03. 2024


Die Premiere von «Carmen» am Zürcher Opernhaus fand am 7. 4. 2024 statt. Hier finden Sie den entsprechenden Bericht.

Weitere Beiträge finden Sie hier.

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