Scharlatan und Schamane
- Bruno Rauch
- 25. März
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Apr.

Mit der Uraufführung von Beat Furrers Oper «Das große Feuer», einem Auftragswerk des Zürcher Opernhauses, bekräftigt Andreas Homoki in seiner letzten Spielzeit als Intendant einmal mehr das Interesse und Anliegen des Hauses, Zeitgenössisches auf die Bühne zu bringen – was übrigens auch im Leistungsauftrag des kantonalen Subventionsgebers festgehalten ist. Solche Premieren, betont er, brächen mit der eingeschliffenen Routine des Theaterbetriebs. Und sie würden allen Beteiligten im Orchestergraben ebenso wie auf und hinter der Bühne Außerordentliches abverlangen, da sie nicht nur mit neuen Klangwelten und Hörerlebnissen, sondern auch mit ungewohnten Stoffen und – oftmals multimedialen – Theaterformen aufwarteten.


Beat Furrer, gebürtiger Schaffhauser, aber schon lange in Wien lebend und einer der großen Namen in der zeitgenössischen Musikszene, fordert mit seinem jüngsten Theatermusikwerk, dem neunten, allerdings nicht nur die Ausführenden, sondern auch das Publikum. Und zwar keineswegs nur klanglich – davon später –, sondern auch inhaltlich, geht es in diesem komplexen Werk doch um brisante Themen wie die Zerstörung indigener Kulturen und Lebensräume durch Kolonialismus, Missionierung, durch Aneignung, Diskriminierung und Ausbeutung. Und damit um die grundsätzliche Problematik unseres Umgangs mit dem geschundenen Planeten. Eine Öko-Oper also? Furrer ist allerdings nicht der Komponist, dem es um eine zeitgeistige Welle geht, die gerade im Schwange ist – oder fatalerweise bereits wieder am Abebben.

Sein Werk fußt auf einer literarischen Vorlage, dem 1971 erschienenen Roman «Eisejuaz». Geschrieben hat ihn die in Buenos Aires geborene Sara Gallardo, Tochter einer wohlhabenden Familie aus der argentinischen Oberschicht. Ihr relativ schmales schriftstellerisches Werk umfasst neben Kinderbüchern und Zeitungskolumnen fünf Romane, in denen sie mit subtiler Feder und in ungewohnter Optik das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Spannungsverhältnis im Erbe ihres Landes reflektiert. So – und in besonderem Maße – auch im besagten Roman. Erzählt wird das Schicksal des Mataco-Indianers Eisejuaz aus dem Gebiet des Gran Chaco, des Trockenwaldes im Norden Argentiniens, wo die Urbevölkerung der Wichí lebte beziehungsweise teilweise überlebt hat.
Dort hatte die Autorin, der man bisweilen das schillernde Etikett des magischen Realismus verpasst, 1968 tatsächlich den historischen Eisejuaz kennengelernt. Mit ihm, dem Vorarbeiter in einer Missionsstation und Schamane mit seherischen Fähigkeiten, führte sie lange Gespräche, ergänzte diese und fügte sie mit dichterischer Freiheit, jedoch ganz nahe an der Realität, zum kompakten Roman, der als furioser Monolog, als hypnotisierende Suada daherkommt.



So werden wir Zeuge der spirituellen (Lebens-)Reise eines Entwurzelten, der zwischen der modernen Zivilisation und der schamanischen Geisterwelt seiner Herkunft aufgerieben wird. Im Sägewerk, wo er einst schuftete, vernimmt er den Gesang der Hölzer, ist aber gleichzeitig geprägt von der Lehre der christlichen Missionare. Oft träumt er von seiner jungen Frau Lucia, die er gepflegt hat, bis sie einen erbärmlichen Krebstod starb. Jetzt umsorgt er als Akt bedingungsloser (anerzogener?) Nächstenliebe einen widerlichen weißen Rassisten namens Paqui, einen Schurken und Scharlatan, der ihn dauernd beschimpft und schließlich sogar mit Mauricia, der Schwester der verstorbenen Lucia und Eisejuaz’ heimlicher Geliebten, betrügt und sich selbst als Geistheiler ausgibt. Eine Anrufung des Schamanen Ayó (Ruben Drole) vermag die Geister der Zerstörung nicht zu bannen. Gleich dem biblischen Hiob verliert Eisejuaz alles – Frau, Zuhause, Existenz, Orientierung...

Sara Gallardo (1931–1988) Beat Furrer (*1954) Thomas Stangl (*1966)
© CC – David Furrer © CC – Elena Ternovaja
Den Bericht über diese bewegte Vita überlässt Gallardo ausschließlich dem indigenen Protagonisten, der im Laufe seiner «Zivilisierung» und Christianisierung durch anglikanische, franziskanische und norwegisch-freikirchliche Missionare den Namen Lisandro Vega angenommen hatte. Und sie erfindet für ihren Ich-Erzähler, der ja ursprünglich des Spanischen nicht mächtig war, eine stark fragmentierte Kunstsprache, durchsetzt von befremdlichen Wendungen, grammatikalischen Schnitzern, dialektalen Regionalismen und – wohl als Relikt der Missionierung – eigenartig gestelzten, religiös anmutenden Passagen. Dazu kommt eine der gesprochenen Sprache inhärente Sprunghaftigkeit, die oftmals dem rationalen Denken zuwiderläuft. Und schließlich sind da die unzähligen disparaten Episoden, Stationen und Begegnungen, die das literarische Ich wie dessen reales Vorbild und erst recht den Leser gleichermaßen an seine Grenzen bringen. Der krude Mix des Ausdrucks und die Vielschichtigkeit des Inhalts dürfte die Übertragung ins Deutsche nicht leicht gemacht haben. Entsprechend gestaltet sich auch die Lektüre: irritierend und faszinierend zugleich. *
Diese idiomatische Eigenheit, verbunden mit der episodischen Erzählweise, musste wohl auch für den Librettisten Thomas Stangl eine spezielle Herausforderung darstellen. Dramaturgisch fasste er das Geschehen in zwei Akte und 41 ineinander übergehende Szenen. Die sprachliche Vielfalt versuchte er, mit spanischsprachigen Passagen einzufangen. Dem irrealen, übersinnlichen Aspekt schließlich trug er Rechnung, indem er einzelne Figuren verdoppelte oder gar verdreifachte, was indes nicht unbedingt zur Klarheit beiträgt. Die chronologische Zeitachse ist mehrfach aufgebrochen. Auch der an Wiederholungen, sprachlichen Ellipsen, Metaphern und Redundanzen reiche Text macht es uns (verkopften?) Zuschauern nicht immer leicht, dem Gang der Handlung zu folgen.


Wortklänge – Klangworte
Kommt hinzu, dass Furrers Tonsprache das Wort, die Sprache mehr fragmentiert, zerdehnt, zersetzt und unterläuft als interpretiert und klärt. Es wird geflüstert, geraunt, gezischt, mitunter geschrien oder auch einfach nur skandiert oder gesprochen. Ansätze zu Melos werden abrupt abgebrochen, akustische Metaphern für eine Welt, in der die Sinne und Stimmen verkümmern oder ganz verstummt sind. Mitunter wird es auch richtig laut. Die Musik schafft weite Räume vom klumpigen Bassklang bis zum schwirrenden Hochton an der Grenze des Hörbaren als Kontrast zu schabenden, atmenden Geräuschen der Streicher und Bläser und subtil rhythmisierter Perkussion, was angestrengtes und anstrengendes, ja, mitunter auch ermüdendes Hinhören erheischt. Ob die auf diese Weise eingesetzte menschliche Stimme gemäß Furrers Vorstellung und (im Programmheft nachzulesen), den Hörer weit über das diskursive Verstehen fesselt und beseelt, ob sie seine Wahrnehmungsfähigkeit sensibilisiert, muss jeder für sich beantworten.

Dessen ungeachtet bleibt die ungeteilte Hochachtung vor der enormen Leistung aller Beteiligten, vorab der beiden Hauptakteure, die ein unheimliches Gespann zweier gegensätzlicher Männer bilden, die offensichtlich voneinander nicht lassen können – weder im Leben noch im Tod: Hier der Bariton Leigh Melrose als Eisejuaz, eine Art geistiger Bruder des Wozzeck, getrieben, gehetzt, zerrissen. Dort der Bassbariton Andrew Moore als Paqui; fieses Lachen und mafiöse Sonnenbrille im Gesicht, übles Geschwätz und larmoyantes Selbstmitleid auf den Lippen. Beide stimmlich wie darstellerisch von beeindruckender Intensität.

Eingeschlossen ins Lob ist auch die reichbesetzte Philharmonia Zürich, ergänzt mit Zuzügern für Schlagwerk, Saxofon, Klavier und Akkordeon, die sich mit nicht nachlassender Konzentration der komplexen Partitur annahm. Es muss ein besonderes Ereignis sein, ein nie gehörtes Werk unter der Leitung des Komponisten aufzuführen. Ein Musiker schnauft tief, eine andere rollt mit den Augen, als ich ihnen diese Ansicht unterbreite...
Wesentlichen Anteil am klanglichen Geschehen hat auch der Chor, sodass man recht eigentlich – offenbar ein Novum in Furrers Opernschaffen – von einer Chor-Oper sprechen kann. Eingesetzt wird dieser oft für die Reflexionen des Protagonisten, für dessen Innen- und Außenschau, für den Gesang der Hölzer, die Geräusche der Natur, die Stimmen der animistisch belebten Umwelt… Für diese äußerst diffizile und differenzierte Klangwelt verpflichtete man eigens das Ensemble «Cantando Admont», das sich einerseits auf die nicht-temperierte Stimmung der Musik von Mittelalter bis Frühbarock und andererseits auf Partituren unserer Zeit spezialisiert hat. Diese Vokalisten – sechs Frauen, sechs Männer – schaffen mit obertonreichem, reinem Klang von sich überlagernden Schichten in zum Teil mikrotonaler Versetzung ein klingendes, oft geradezu immaterielles Universum, dessen Reibungen und Harmonien einen suggestive Sog erzeugen. Sie gehören für mich zu den musikalisch spannenden Momenten des Abends. Neben den eigentlichen vier Solisten schälen sich aus diesem Kollektiv alle übrigen Rollen – die verstorbene Lucia, ihre Schwester Mauricia, die Seherin Chahuanca, der Aktivist Selim, der Bordellbesitzer Gómez, ein Jäger, ein Busfahrer... Einen dubiosen Auftritt erhält Hugo Paulsson Stove als Pater Reverendo in schwarzer Soutane, wenn er mit salbungsvollem Tenor und Züchtigungspeitsche in der Hand die christliche Moral verkündet. Und mit dem Ansatz einer balsamischen Kantilene weckt Sarah Aristidou als Aquella Muchacha ganz zum Schluss einen leisen Hoffnungsschimmer; mit ihr hätte Eisejuaz vielleicht ein neues Leben beginnen können. Doch ausgerechnet sie hat ihm und Paqui ein Mahl zubereitet – unwissentlich aus tödlichem Krötenlaich...


Wie die Musik, trotz des klar definierten Schauplatzes, auf platte Exotismen wie Anklänge an spanische Folklore oder indigenen Naturlaut verzichtet (und dadurch auch die konkrete, sinnliche Hörerfahrung infrage stellt), so hat auch der Bühnenbildner Henrik Ahr einen abstrakten Raum geschaffen: Im rechteckigen offenen Geviert schmuckloser, braungrauer Wände dreht sich im Zentrum als Spielfläche eine Scheibe in leichter Schräglage, besetzt mit raumhohen Stangen – übriggebliebene Stämme eines zerstörten Savannenwaldes?


Zusammen mit den zurückhaltenden modernen Kostümen (Silke Willrett) in einer verhaltenen Farbskala von Beige über Braun, Grau, bis Schwarz und mit nur vagen ethnischen Merkmalen ergibt sich ein etwas eintöniges, aber stimmiges Gesamtbild. Dem entspricht auch die Regie von Tatjana Gürbaca, aus Krankheitsgründen in Co-Regie mit Vivien Hohnholz, die ein körperbetontes Spiel entwickelt und dabei auf ein hochmotiviertes Ensemble zählen darf, das praktisch während knapp zwei Stunden ohne Pause dauernd im Einsatz ist. Immer wieder ereignen sich bildstarke, geheimnisvolle, nicht restlos zu erklärende Ereignisse – wohl durchaus im Einklang mit der untergründig weiterhin wirkenden Welt der Spiritualität. So mag man den Mann auf dem Fahrrad, der durch die Luft radelt, als Bild des gehetzten Eisejuaz deuten. Doch was besagt das wiederholte Verbrennen seines weißen Hemds? Abkehr von der Zivilisation? Befreiung von aufgezwungener Einengung? Deutlich und beklemmend dagegen ist der Aschenregen.
Man verlässt das Haus. Betroffen, empathisch, distanziert? Ich bin mir noch immer nicht schlüssig. Vielleicht ist gerade dies der beste Zugang zur alten Gattung Oper in neuer Gestalt.



Szenenfotos: © OHZ – Herwig Prammer
25.03.2025
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* Sara Gallardo: «Eisejuaz» , Übersetzung Peter Kultzen
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017 – ISBN 978-3-8031-3285-7
Lieber Bruno
Hab Dank für deinen ausführlichen Bericht, der mich motiviert hat, mir die allerletzte Aufführung der Furrer-Oper von kommender Woche doch noch anzusehen. Vermutlich hat mich dein " ich bin mir noch immer nicht schlüssig " - ein Gefühl, welches ich in modernen Opern und Inszenierungen nur zu gut kenne - beruhigt, "getröstet"und ermutigt, allenfalls freimütig zuzugeben, dass ich
vieles wohl doch nicht wirklich verstanden habe....
Ich grüsse dich herzlich
Michael