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Die Leiden des jungen Carlos

Schon seine Geburt im Juli 1545 war von Tragik überschattet. Seine Mutter Maria von Portugal, Cousine und erste Gattin des habsburgisch-spanischen Königs Philipp II., verstarb im Kindbett an den Folgen der Verletzungen, die ihr unsachgemäße Behandlung zugefügt hatte. Auch das weitere Leben des Thronfolgers, Carlos de Austria und späteren Prinzen von Asturien, war von Konflikten und Tragödien geprägt, persönlichen wie auch politischen. Er wuchs in einer Zeit auf, in der Spanien zwar eine dominierende Hegemonialmacht in Europa und Übersee war – die Philippinen tragen ihren Namen zu Ehren seines Vaters Philipp II. Doch gleichzeitig stand diese glanzvolle Epoche zwischen Renaissance und Barock, das sogenannte Siglo de Oro, in dem Malerei, Musik, Literatur zu Hochblüte gelangten (als Beispiele nur die drei Namen El Greco, de Victoria oder Cervantes), unter spder verheerenden Tutel der Inquisition. Der katholisch-spanische Machtkoloss ruhte auf tönernen Füßen: innere wie äußere Konfliktherde – etwa in Kastilien, in Norditalien und den Niederlanden – zeitigten erste Risse im Imperium, das noch unter Karl V., Philipps Vater bzw. Don Carlos’ Großvater, als das Reich gegolten hatte, «in dem die Sonne nie untergeht».

Don Carlos (Alonso Sanchez Coello, 1564) Isabel de Valois (Sofonisba Anguissola, postum1565)


Zu diesen politisch-sozialen und dynastischen Umständen gesellte sich die persönliche Labilität des Prinzen (1545–1568). Er litt an körperlicher Deformation und war geistig etwas zurückgeblieben. Hinzu kamen ein jähzorniger, impulsiver Charakter, der Hang zur Gewalttätigkeit, Konzentrationsschwäche und ein Sprachfehler. Historiker erklären diese Defekte mit der nahen Blutsverwandtschaft seiner Eltern. Ein Sturz von der Treppe soll seinen Zustand weiter verschlechtert haben.


Kurz: Mag dieses wenig schmeichelhafte Portrait auch überzeichnet sein, er war mit Sicherheit nicht jene tragisch-heldische Figur, als die er uns in Friedrich Schillers Drama «Don Karlos, Infant von Spanien» (1787) entgegentritt. Oder in Giuseppe Verdis Oper «Don Carlos» (1867) bzw. italienisch «Don Carlo» (1884), für welche sich die Librettisten Joseph Méry und Camille Du Locle auf Schiller stützten, sowie, vorab für den ersten, sogenannten Fontainebleau-Akt, auf das Schauspiel «Philippe II, roi d’Espagne» (1846) von Eugène Cormon, der als Co-Autor auch an Bizets «Perlenfischern» mitgeschrieben hatte.

Apropos Fonatainebleau: Diese erste Begegnung des Infanten mit der Franzosenprinzessin unweit des prächtigen Schlosses (UNESCO-Kulturerbe!) südlich von Paris ist eine literarische Erfindung. Fakt dagegen ist, dass Elisabeth von Valois ursprünglich dem Infanten Carlos zugedacht war. Doch nach dem Tod seiner zweiten Gattin (er hatte nach dem Tod von Carlos’ Mutter wieder geheiratete), beschloss Philipp aus Staatsräson, selbst Elisabeth zu heiraten; er war zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt und zweimal verwitwet, sie, eine der besten Partien Europas, knapp fünfzehn, gleich alt wie Carlos! Was dessen höchst problematisches Verhältnis zum despotischen Vater nicht unbedingt verbessert haben dürfte! Eine Romanze zwischen Elisabeth und Carlos entspringt wohl romantisierender Dichtung. Vielmehr soll sich Elisabeth liebevoll um ihren unglücklichen Stiefsohn gekümmert haben, wie sie auch ihrem Gatten Philipp bis zu ihrem Tod nach der fünften Geburt als pflichtbewusste und vermittelnde Ratgeberin zur Seite stand. Das leidvolle Sterben Carlos’ in Kerkerhaft, angeklagt des Hochverrats und der Sympathien für die aufmüpfigen niederländischen Provinzen, nur wenige Wochen vor ihrem eigenen Tod (1568), soll sie sehr mitgenommen haben...

Geschichte auf der Opernbühne

Das alles ist Opernstoff pur. Verständlich, dass Verdi diese Stofffülle in eine Grand Opéra packte, wie sie um 1860 in Paris im Schwange war, wo er sich mit leidlichen Achtungserfolgen von «Les vêpres siciliennes» und einer französischen Neufassung des «Macbeth» einen Namen geschaffen hatte. Schon im Vorfeld der Uraufführung am Vorabend zur Weltausstellung gab es diverse Kürzungen, und bis zur italienischsprachigen Mailänder Fassung erfolgten nicht nur die Reduktion auf vier Akte und weitere Straffungen, sondern namentlich die Streichung des für Paris obligaten Balletts, was zu diversen Mischformen führte. Die Wiederentdeckung von Notenmaterial in den Archiven der Pariser Oper bietet der Musikologie ein weites Diskussionsfeld und den Aufführenden die gehörige Herausforderung, aufgrund der divergenten Ausgangslage eine adäquate «originale» Partitur zu erstellen. Was einen renommierten Musikwissenschaftler zur pointierten, aber zutreffenden Aussage vom «Phantom einer Oper» veranlasste. (vgl. auch Don Carlos in Basel)


In Genf hat man sich für den französischen Fünf-Akter, einschließlich (Teil-?)Ballett, entschieden. Am Pult des Orchestre de la Suisse romande mit seinen immer wieder beglückenden Holzbläsern steht Marc Minkowski, der das Werk sehr «à la française» interpretiert – sprich: feinsinnig, bis ins Detail modelliert und ausgeleuchtet. Das geht vielleicht ab und zu auf Kosten der überhitzten emotionalen Ausbrüche; der an historisch informierter Praxis orientierte Klang ist in diesem Kontext vielleicht nicht jedermanns Sache, doch ist das sublime Clair-obscur, das vor allem die französische Version auszeichnet, in sich stimmig und überaus nuancenreich.

Für Drastik sorgt die Inszenierung von Lydia Steier hinlänglich. Zwar beginnt’s recht poetisch, geradezu romantisch. Zwei klassizistische Säulen säumen einen verlassenen Tempel im Wald von Fontainebleau, wo Nebelschwaden im kahlen Geäst hängen, dazu leichtes Schneegestöber. Das interessante Bühnenbild, das gelegentlich auch Video miteinbezieht, schuf Momme Hinrichs. Auf der Drehbühne erzeugt ein mächtiger, auf drei Seiten offener und mit einer angedeuteten Kuppel aus Eisengestänge überdachter Kubus durch die Rotation verschiedene Ein- und Durchblicke, Licht- und Schattenbilder, Innen- und Außenräume. So entstehen atmosphärische Settings: Kirchenraum, Ballsaal, Kerker, königliches Séparée, Richtstätte und eben besagter Winterwald...


Hier beklagt der Chor als darbendes Volk sein hartes Los – stimmlich beeindruckend, allerdings zu Beginn mit ein paar Koordinationsproblemen gegenüber dem Graben, was sich im Lauf des Abends verbesserte. Schon nach wenigen Takten wird einer der miserablen Bauern von den marodierenden Jägern oder Wachen gepackt und, nachdem man ihm ein Pappschild mit der Aufschrift «Traître» um den Hals gehängt hat, am nächsten Baum aufgeknüpft. Was sein Verrat ist, bleibt offen; Witwe und Söhnchen sind verzweifelt; Prinzessin Elisabeth versucht, Trost zu spenden. (Ein sinniger Regieeinfall: Anlässlich der späteren Massenexekution wird diese Witwe (Giulia Bolcato) anstelle der überirdischen «Stimme von oben», die tröstenden Worte intonieren.)

Ebenfalls hier, im Wald, gestehen sich Elisabeth und der ihr bis dahin unbekannte Carlos ihre Liebe. Rachel Willis Sørensen durchläuft als unglückliche Prinzessin und spätere Königin ein weites Spektrum an Gefühlen, die sie mit hellem, stilsicher geführtem Sopran bis in die feinsten Nuancen auslotet und der, fern jeglicher Larmoyanz, selbst in den zartesten Piani nichts an Leuchtkraft einbüßt. Ihre blonde Timoschenko-Frisur dürfte wohl eher einer ästhetischen Laune der Kostümbildnerin Ursula Kumran entsprechen, als dass dies eine politische Aussage darstellte. Und in ihrem grauen Hosenanzug des ersten Auftritts entspricht die Sängerin optisch nur sehr bedingt der «Douce vision», als die sie Carlos anhimmelt. Dieser wird gesungen von Charles Castronovo, der mit seinem eher dunkel gefärbten Tenor weniger die verletzliche und träumerische Seite dieses Charakters betont als vielmehr dessen juvenilen Idealismus und die Bereitschaft zur bedingungslosen Hingabe.


Als Page Thybault (Ena Pongrac), ein aufgemotztes Flintengirl mit scharfem Sopran, die Mitteilung überbringt, Elisabeth würde nun statt Carlos’ Gattin Philipps Gemahlin, wird dieser flugs ein Brautkleid übergestülpt. Da kann die Unglückliche ihre erzwungene Einwilligung nur noch mit einem ersterbenden «Oui» quittieren. Ein deutliches Zeichen, wie Frauen willkürlich zur Etablierung politischer Allianzen verheiratet wurden! Überhaupt sucht die Regisseurin immer wieder ausdrucksstarke, klare Bilder, einige beklemmend, andere etwas zu exzessiv eingesetzt oder zu offensichtlich gestrickt.

Spitzelstaat von Gottesgnaden

So bleibt die beschriebene Exekution nicht die einzige. Immer wieder senken sich leitmotivartig die Henkerschlaufen aus dem Bühnenhimmel, um Aufsässige, Ketzer, dem Regime aus irgendeinem Grund Nicht-Genehme ins Jenseits zu befördern. Ganz zum Schluss sollen gar Elisabetta und Carlos, des Ehebruchs bezichtigt, dem Strang überantwortet werden, was dann doch eine ziemlich krasse Abweichung vom Plot darstellt... Steier verlegt das mittelalterliche Drama, dem schon Schiller visionäre Aktualität einschrieb, ins Umfeld eines totalitären Regimes, ohne dies allzu präzis zu lokalisieren; im Programmheft erwähnt sie die UdSSR unter Stalin oder Ostdeutschland; andere Gewaltherrschaften und Diktaturen der jüngeren oder gegenwärtigen Zeit könnten aber ebenso gemeint sein. Die Mittel der Unterdrückung, die andauernde Bespitzelung, die selbst vor den Höchsten nicht Halt macht, die Selbstinszenierung der Despoten, der faschistoide Pomp gleichen sich erschreckend. Ein schlagendes Beispiel dafür ist das Autodafés zu Valladolid im dritten Akt, während dem sich der Monarch von seinen Untertanen feiern lässt. Zum leiblichen ordengeschmückten Philipp gesellt sich im Hintergrund ein Propagandavideo des Regenten als Beschützer, Kriegsherr und, ja, als «liebevoller» Vater mit einem Baby auf dem Arm. Auch das eine harte Tatsache: Die First Ladies waren primär Gebärmaschinen zur Sicherung der blaublütigen Dynastie. So wird – wiederum ein signifikantes Bild – Elisabeth, als spanische Königin Isabel in schwarzen Taft gehüllt, als Schwangere gezeigt; später hält sie ihr Kind – Philipps Kind! – im Arm. Dass Carlos in jenem fatalen nächtlichen Stelldichein die gertenschlanke Eboli allerdings mit der hochschwangeren Elisabeth verwechseln konnte ... Opernlogik halt!

Einer der wenigen lichteren Momente im düsteren Geschehen ist Ebolis Sarazenenballade. Dazu führen ihre Gespielinnen, eine Damenriege oder eher Konventschülerinnen, ein stilisiertes Airobic-Nümmerchen in Unterwäsche vor, dessen Anmut vom bedrohlichen Raunen des refrainartigen «Ah, ah...» relativiert wird. Eve-Maud Hubeaux gibt dieser zwiespältigen Figur mit facettenreichem, in der brustigen Tiefe fülligem, in der Höhe strahlendem Mezzosopran ein aufregendes Profil – ach, braucht es da noch sexy Stiefel, schwarze Domina-Erotik und rote Haare?

Gelungen ist auch die Inszenierung des Maskenballs (Akt III, 1), der in seiner raschen Abfolge von grotesken Gestalten und Bildern ein wenig an die «Caprichos» von Goya erinnert. Elisabeth verlässt das frivole Treiben frühzeitig und bittet Eboli, in Kostüm (Brautrobe vom Anfang) und Maske der Königin ihre Rolle zu übernehmen; in dieser Aufmachung wird Eboli wenig später den Infanten zu verführen versuchen. Hier löst sich die Regie vom Libretto, das an dieser Stelle das «Ballet de la reine» vorsieht (?). Stattdessen und mangels eines effektiven Balletts dreht sich die Bühne immer schneller, was einen tollen filmischen Effekt ergibt – orgiastisch und buchstäblich atemberaubend! Und sogar den besonnenen Marquis de Posa mitreißt. Dieser, interpretiert von Stéphane Degout, ist ein überzeugender, jeder Zoll souveräner, umsichtiger und unerschrockener Homme de court mit einem kleinen, augenzwinkernden Hang zum Dandytum. Superb, wie er im musikalisch grossartigen Disput mit dem König, seinem Herrn, seinem warm timbrierten Bariton Schärfe und Wut verleiht. Und ebenso packend, wie er ohne Sentimentalität sich seiner Idee von Menschlichkeit und Gerechtigkeit aufopfert.

Dmitry Ulyanov als Philipp besticht mit magistraler Tiefe. Seine zentrale Arie («Elle ne m’aime pas») lässt neben der Enttäuschung über die unerwiderte Liebe auch Selbstzweifel erkennen, derweil sich im Hintergrund die halbnackte Eboli auf den Pfühlen räkelt. Der Sänger gestaltet das Paradestück für alle schwarzen Bässe ohne Tadel, eher narrativ als emotional. In der Auseinandersetzung mit Posa und später dem Grossinquisitor gewinnt er jedoch entschieden authentischeres Profil. Liang Li ist ein unheimlicher Kirchenfürst, blind, gebrechlich, im Rollstuhl, aber mitnichten kraftlos. Keine Zweifel darüber; dass er die Zügel der klerikalen Macht straff in Händen hält, bis hin zu den menschlichen «Wanzen», die ihre Abhörtätigkeit hinter doppelten Wänden und geheimen Luken ausüben – und ihre Spitzeltätigkeit unter weissen Kutten und Kapuzen perfekt tarnen können...


Man ist betroffen und einmal mehr fasziniert von diesem düsteren, grossartigen Werk. Auf jeden Fall: Genève vaut bien un voyage! (noch bis zum 28. 09. 2023)

© Grand Théâtre Genève – Szenenfotos: Magali Dougados | Stills aus dem Trailer


20. 09. 2023

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