Die ungeschriebene Oper
- Bruno Rauch
- vor 20 Stunden
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Aktualisiert: vor 7 Stunden
Bevor wir uns mit Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium «Elias» beschäftigen, das Andreas Homoki als letzte Produktion seiner Intendanz jetzt auf die Bühne des Zürcher Opernhauses gebracht hat, möchte ich Sie zu einem lokalpatriotischen Schlenker einladen. Wir begeben uns zur Nordfassade des Grossmünsters, wo wir vor dem bronzenen sogenannten Bibelportal Halt machen, einer wuchtigen Bronzetür, die auf 42 Kassettengevierten Episoden und Motive aus dem Alten und Neuen Testament in Halbreliefs zeigt.

Bibelpforte am Großmünster Zürich, Otto Münch, 1950 – © Bruno Rauch
In der obersten Reihe links finden wir eine der Schlüsselszenen der Geschichte des Elijah aus dem I. und II. Buch der Könige. Dargestellt ist jene Szene, wo der Prophet den König und dessen Anhänger des Heidengotts Baal zu einem Gottesbeweis herausfordert: Wir erkennen Elias, wie er mit hocherhobenen Armen seinen Gott beschwört, der soeben auf dem Holzstoß das Feuer auflodern lässt. Hinter einer Schar andachtsvoll knieender Gläubiger sieht man bei genauem Hinsehen drei in Wut oder Frust erstarrte Götzendiener: die Baalspriester vor ihrem Altar. Da liegt zwar ein Opfertier, die züngelnden Flammen aber fehlen: Der Abgott Baal bleibt stumm...

«Baal, Baal, gib uns Antwort, Baal!» (I/16)
Mendelssohn hat diese Darstellung natürlich nicht gesehen, obwohl er nachweislich zweimal – 1822 mit seinen Eltern, 1842 anlässlich einer Grand Tour und vielleicht sogar noch öfter – in Zürich weilte. Das besagte Kunstwerk ziert nämlich erst seit 1950 das Nordportal des Münsters. Realisiert wurde es vom Bildhauer und Eisenplastiker Otto Münch (1885–1965), von dem auch das Pendant dazu stammt: das Zwingliportal an der Südfront, allerdings bereits 1939 geschaffen. Besagte Opferszene ist auch eine der packendsten und (opern-)dramatischsten in Mendelssohns Oratorium.

Diesem Elias also, der – nach des Komponisten eigenen Worten – «stark, eifrig, auch wohl bös und zornig und finster» ist, hat er sein bedeutendstes Oratorium gewidmet. Über Jahre soll er sich mit dieser biblischen Gestalt und ihrer musikdramatischen Darstellung beschäftigt haben, was bereits ein Brief an den Jugendfreund Karl Klingeberg aus dem Jahr 1837 belegt. Ein entsprechendes Szenario wurde alsbald entworfen, doch anschließend ruhte das Projekt über Jahre. Erst als Mendelssohn im Sommer 1845 vom Veranstalter des Birmingham Musikfestivals den konkreten Auftrag zu einem neuen Oratorium erhielt, nahm er die Arbeit wieder auf. Dabei berief er sich auf den Text, den der Dessauer Pfarrer Julius Schubring aufgrund der einschlägigen Bildstellen verfasst hatte. Schubring hatte zuvor bereits das Libretto zum «Paulus» (UA 1836) geliefert. Diesmal war es Mendelssohn jedoch besonders wichtig, die alttestamentarische Wucht und Geisteshaltung des Stoffs zu bewahren und nur ganz gezielt und eher spärlich eine christologische Deutung mit Hinweisen auf den Messias-Christus, wie sie Schubring vorschlug, einfließen zu lassen.

Die Uraufführung in englischer Übersetzung in der Town Hall zu Birmingham am 29. August 1746 stellt gewissermaßen die Kanonisierung des Werks dar, da im Rahmen des Festivals auch die exemplarischen Oratorien, Händels «Messias» und »Haydns «Schöpfung, gegeben wurden. Schon im Vorfeld wurde dem neuen Werk große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil; die Stadt befand sich laut «Times» «in state of great bustle an excitement». Auch die Aufführung unter der Leitung des Komponisten mit 125 Instrumentalisten und 271 Sängern geriet zu einem sensationellen Erfolg. «Noch niemals ist ein Stück von mir [...] so vortrefflich gegangen – Nicht weniger als vier Arien und vier Chöre wurden wiederholt», meldet er seinem Bruder nach Berlin. Dennoch überarbeitete Mendelssohn die Partitur in gewohnt obsessiver Art und Weise, sodass 1847 die Endfassung in London und Köln erstaufgeführt werden konnte; die Berliner Aufführung mit dem ursprünglichen deutschen Originaltext wurde zum Gedenkkonzert: der Komponist war kurz zuvor verstorben.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) – Gemälde von Eduard Magnus (1845) © wikimedia commons
Die eingangs beschriebene Opferszene ist ein Schlüsselmoment in der aktuellen Inszenierung von Andreas Homoki; wir kommen darauf zurück.
Darüber hinaus sie ist aufschlussreich für diese wie so manche seiner Regiearbeiten. Nämlich: Ein reduziertes, gar minimalistisches Setting, fern von jeglichem Opernbombast, was der in der Musik angelegten Dramatik gebührend Raum und Gewicht zugesteht. Zweitens: Eine äußerst sorgfältige, von gesteigertem Ausdruckswillen besessene Personenführung, auch des Chors. Und schließlich: Der Einsatz der Drehbühne, was nicht nur rasche Szenenwechsel erlaubt, sondern vielmehr Gleiches aus anderer Perspektive und – buchstäblich wie im übertragenen Sinne! – in anderem Licht erscheinen lässt, was wiederum eine gedankliche Verarbeitung und Durchdringung des Geschehens auslöst, bei den Akteuren auf der Bühne und gleichermaßen beim Publikum.


So hat denn Bühnenbildner Hartmut Meyer ein genial simples Bühnenbild auf das Rund der Drehscheibe gestellt: Zwei der Kreisform folgende Halbschalen, die als Rundhorizont die Sicht auf die Bühne immer wieder verändern, teilen, öffnen und verschließen. Im Zentrum befindet sich ein ebenfalls drehbares Bühnenelement, ein ansteigender leicht gewölbter Steg, eine Rampe, in einer Art Kanzel oder Plattform endend. Man kann die elegante Konstruktion als schlichte Anhöhe, als Berg lesen, wovon ja mehrmals die Rede ist, aber ebenso als metaphysische Brücke zwischen Himmel und Erde. In Verbindung mit der raffinierten Lichtführung von Franck Evin ergeben sich ungemein bildstarke An- und Einsichten, sowohl Enge als auch Weite, Begrenztheit als auch Unendlichkeit suggerierend.

Die Kostüme fügen sich stimmig ins Bild. Mechthild Seipel hat für Chor und Statisten in Gruppen von fünf bis sechs Leuten jeweils gleiche Kleidung (zum Teil sogar gleiche Frisuren) vorgesehen. Röcke, Anzüge, Casual, Uniformartiges... Alles unspektakulär bis hin zu den weißen Sneakers, wie es einer urbanen Straßenszene entnommen sein könnte; ins Farbkonzept von Schwarz, Blau und Grau setzt nur das Beige einiger Trenchcoats einen helleren Akzent. Kurz: Weder Historie noch Exotik, sondern das Volk schlechthin; du und ich – wir sind gemeint! Fast noch unauffälliger gekleidet ist die Hauptperson, Elias selber: Schwarze Hose, schwarzer Pullover.


Szenisches Understatement spricht ebenfalls aus den spärlichen Requisiten. Eine simple Papp-Krone, die sich das Herrscherpaar, Ahab (Raúl Gutiérrez) und Isebel (Indyana Schneider) sogar teilen müssen. Selbst die grauen Flügel des Schutzengels und der himmlischen Phalanx wirken durchaus irdisch – keine seraphischen Schwingen jedenfalls. Und da ist eben jene Szene der «konkurrierenden» Brandopfer. Da genügt – genügt es wirklich? – eine und nur eine einzige bescheidene LED-Kerze, die man anfassen und wie einen Ball rumwerfen kann. Erst bei der Anrufung des wahren Gottes durch Elias entzündet sich da ein mickriges Lichtlein. Bei allem Verständnis für den Verzicht auf wohlfeilen Bühnenzauber wirkt das dann doch etwas gar sparsam...
Umso intensiver – und das wäre zugegebenermaßen wiederum ein Punkt für die Regie! – entwickelt sich die Dramatik der Szene in Musik und Spiel. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, vielleicht hat er es tatsächlich getan: nach dem dramatischen Wettstreit um den wahren Gott, bläst Elias die Kerze einfach aus, als wolle er sagen: Genug des Spektakels, ihr wolltet ein bisschen Show, aber jetzt es geht um Wichtiges, es geht um Wahrheit...

Christian Gerhaher verkörpert diesen Wahrheitssucher, diesen Kämpfer Gottes, diesen Eiferer mit jeder Faser seines Künstlertums. Der reflektierte Bass-Sänger, der die Rolle schon oft im Konzertsaal dargestellt hat, ist eine Idealbesetzung dieser mit sich und der Welt hadernden Gestalt. Das erschließt sich gleich zu Beginn, wo Mendelssohn – ein Geniestreich sondergleichen – noch vor der eigentlichen Ouvertüre den Elias mit einem eindringlichen kurzen Prolog vorstellt, begleitet nur vom ehernen Bläserklang wie aus einer anderen Welt: Da steht und singt und kündet einer, der zwar für seine Sache, die Sache Gottes zu streiten bereit ist, der aber auch die Last dieser Aufgabe und die Zweifel an sich und seiner Mission spüren lässt. Mit nahezu sarkastischer Lust stürzt er sich in die fulminante Auseinandersetzung mit den wankelmütigen Adepten des Baalskults, um im blinden Furor auch zum furchtbaren Rächer zu werden. Auge um Auge... Vielschichtiger und überzeugender kann man das nicht darstellen!

In fast naiver Bildhaftigkeit offenbart sich sodann die Epiphanie des Herrn, der sich nicht im Sturm, nicht im Erbeben, nicht im Feuer zeigt, sondern im «sanften Säuseln»: Da segeln, spiralig kreisend, torkelnd oder in senkrechtem Sturzflug, mehrere Papierflieger aus dem Schnürboden – aha, Plakatsujet und ein vielleicht etwas gesuchtes Bild, doch erinnert es an die bildlichen Darstellungen der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten in Form der vom Himmel fallenden Flämmchen. Bedeutsam, wie Elias einen der Flieger auffängt, ihn in den Händen dreht und wendet, als ob er die göttliche Botschaft zu entschlüsseln suchte. Und schließlich seine schmerzliche Melancholie und Lebenssattheit, mit der Gerhaher die Arie «Es ist genug...» gestaltet (II/26). Hier gestattet sich die Regie dann doch noch ein wenig Feuerzauber, als der Prophet gemäß dem Bibelwort «in feurigem Wagen mit feurigen Pferden im Wetter gen Himmel fährt» Nachdem Elias den Papierflieger zerknüllt und weggeworfen hat, steigt eine effektvolle Feuersäule empor.


Ausgießung der Heiligen Geistes – Bildtafel, 18. Jh
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Es liegt in der Natur des Oratoriums, dass die weiteren Figuren als Individuen aus dem Ensemble herausragen, aber auch als anonyme Stimmen auftreten. So singt Julia Kleiter den Part der Witwe, die um ihr verstorbenes Kind trauert, aber auch die in der Partitur lediglich mit Sopran bezeichneten Soli – etwa das berühmte «Höre, Israel» – hier mit reinem, eindringlichem Schönklang, dort mit verzweifelt-aufbegehrendem Timbre. Wunderbar lyrische Momente der Innigkeit und der Hoffnung gestaltet der Tenor Mauro Peter als unerschütterlicher Obadjah. Und mit balsamischem Wohlklang und weit gespannten Melodiebögen bezaubert die Altistin Wiebke Lehmkuhl – engelhaft!


Dem wiedererweckten Knaben leiht Sylwia Salamońska ihren jugendlichen, noch wenig geformtem Sopran und ihre androgyne Gestalt und darf – ein glücklicher Regieeinfall – auch den Knaben verkörpern, den Elias losschickt, um das Nahen der ersehnten Regenwolken zu erkunden. Und später geht ihm der Junge als Genius voran und wirft ihm den zerknüllten Flieger zu: Bring es zu Ende, scheint er zu sagen, bevor sich dir die Himmelspforten erschließen.

Mendelssohns barocke Formenstrenge und romantische Gefühlswärme erfordern agiles, waches Musizieren. Gianandrea Noseda am Pult der (noch) Philharmonia Zürich bewältigt die wohl eher ungewohnte Aufgabe nach anfänglichem Zögern und Zaudern ausgezeichnet. Da trifft krachende Opulenz auf zarteste Innigkeit, furiose Wucht auf atmosphärische Feinzeichnung.

Ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste Part kommt naturgemäß dem Chor zu. Was Chor und Zusatzchor sängerisch und darstellerisch leisten, übersteigt das Maß des Üblichen bei weitem. Bemerkenswert ist unter anderem die hervorragende Textverständlichkeit, was übrigens auch für die Solisten gilt. Chorleiter Ernst Raffelsberger bestätigt denn auch die immense Arbeit, denn hier, anders als in Konzertsaal oder Kirche, haben die Choristen die fordernde Partie ohne Blick in die Noten zu bewältigen. Dazu verlangt Homokis Regie intensive Aktion und Gestik, individuell und doch ins Ganze eingebunden. Es ist tatsächlich eine Art Hommage an den Chor der Zürcher Oper, der oft und zu Unrecht im Solistenrausch etwas vergessen geht, dieses Oratorium szenisch als «Oper» aufzuführen. «Elias» ist, wie im Programm zu lesen, auch große Oper; die Oper, die Mendelssohn nie geschrieben hat. Der frenetische Schlussapplaus indessen war absolut «operntauglich».

Szenenbilder: © OHZ – Monika Rittershaus


151 Neuproduktionen von 2012 bis 2025 – Andreas Homoki, adieu und merci!
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Wie immer bei Bruno Rauch spannende, gut recherchierte Informationen zur Entstehungsgeschichte. Die Inszenierung wird einem näher gebracht, aber vor allem die wunderbare Musik die Chor und Solisten gestalten , wird so schön beschrieben. Ja, Elias ist auch eine Oper. Vielen Dank