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Fische(n) im Drüben

2025 ist ein Hans-Christian-Andersen-Jahr. Vor 150 Jahren, am 4. August 1875, starb der dänische Dichter, 70jährig, international anerkannt und hochdekoriert, in Kopenhagen. Im Opernhaus Zürich hatte unlängst ein Ballettabend Premiere, wo drei von Andersens angeblich 156 Märchen auf die Bühne gebracht wurden (mehr dazu). 

Hans Christian Andersen (1805 – 1875) A Mermaid», Präraffaelit John William Waterhouse, 1900

Jetzt, im Schauspielhaus, beschränkt man sich auf ein einziges. Doch der Regisseur Bastian Kraft (*1980), der wiederholt an der Pfauenbühne inszeniert hat – in bester Erinnerung bleibt seine kluge Umsetzung von «Andorra» (2016) und «Die Buddenbrooks» (2017), – lässt es mit vielerlei Zwischentönen und Aspekten glänzen, glitzern – und gendern.

 

Ausgewählt hat Kraft eine der berühmtesten und berührendsten Erzählungen des dänischen Schriftstellers: «Die kleine Meerjungfrau», die sich zwei Beine, eine menschliche Seele und die Liebe eines Prinzen wünscht. Die dafür Schmerzen, den Verlust der Sprache und sogar den Tod in Kauf nimmt. Die den geliebten Prinzen, den sie aus den Fluten gerettet hat, nicht umbringt, obwohl er eine andere heiratet. Die sich stattdessen in die Schaumkronen der Meereswellen stürzt und schließlich als Luftgeist ins Ätherblau entschwindet.

Die Kleine Meerjungfrau in Büchern und Filmen:

Buchillustration von Ruth Koser-Michaelis, 1938 und Walt Disney: «Ariella, the Little Mermaid»,1989


Literaturwissenschaft, Märchenexegese und Psychologie sehen in dieser bittersüssen Fabel wie in vielen anderen seiner Werke Parallelen zu Andersens persönlicher Tragik als einer, dessen Suche nach sich selbst, aber ebenso nach einem Gegenüber, nach Zugehörigkeit, Zuwendung und Liebe sein ganzes Leben überschattete und in sublimierter Form auch sein künstlerisches Schaffen bestimmte: Die Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung, die dem Künstler bereits zu Lebzeiten in hohem Maß zuteilwurde, ward ihm als Mensch jedoch nicht vergönnt. Neben diversen pathologischen Befunden spekuliert die Nachwelt bis heute auch über seine latente – weder gelebte und schon gar nicht akzeptierte? –  Homosexualität, ein Schicksal, das der Dichter beispielsweise mit dem Komponisten Tschaikowski teilt.

 

Diesem Aspekt gibt die Regie dieser «Fluid Fairy Fantasy», wie der Untertitel der aktuellen Produktion lautet, viel, sehr viel Raum. Und obwohl die subtile Poesie des Märchens mit Federn, Flitter und falschen Augenwimpern aufgepeppt wird, schaffen es Bastian Kraft und sein spielfreudiges Team (fast) immer wieder, dass das Klamaukige und Überdrehte, das Laute und Schrille auf Kosten der intimen, fast zärtlichen Szenen nicht ganz überhandnimmt.

Doch schon der Beginn mit der offenen Bühne, wirkungsvoll ausstaffiert von Peter Baur, stimmt ein auf die große Show, die Drag-Show, die uns erwartet: Wir sind in der Garderobe des Peacock-Theatre, the most fabulous stage in town. Schon klar, dass man auf dieser berühmten Bühne polyglott unterwegs ist: Englisch, Deutsch, Französisch, Aargauer Dialekt und sogar einmal ganz kurz Walliser Tiitsch.

 

Sieben Mensch*innen sitzen, Rücken zum Publikum, vor quadratisch beleuchteten Schminkspiegeln. Wer ist die Schönste im ganzen…? Halt, das ist doch ein anderes Märchen. Hier geht es zwar auch um Königinnen, um Queens. Aber vielmehr noch darum, die eigene Identität zu ergründen: Wer könnte, wer möchte ich sein? Wie und wo finde ich meinen Platz? (der gerne auch die große Bühne sein darf!) Puderquaste und Gloss, Lippenstift und Mascara liegen jedenfalls bereit, um eine andere Identität – fürs erste schon mal optisch – herbeizuzaubern. Aber es geht um weit mehr als um die theatrale Verwandlung. Es geht darum, das Wesen, das sich unter oder hinter der aufwändigen Künstlichkeit des Makeups verbirgt, zu entdecken! Sich selbst und die Umwelt damit zu konfrontieren. Und zu akzeptieren! 

Märchenwelt und Realität

Hier entdeckt Regisseur Kraft den Link zum besagten Märchen: Die Meermaid, die so gerne zur anderen Welt gehören würde. Die die Scheide zwischen Wasserwelt und Menschenwelt, dem Gegebenen und dem Möglichen überwinden möchte. Die von einer anderen Wesenheit, von einer Liebe träumt, die nicht gelebt werden kann – nicht gelebt werden darf... Deshalb lässt Kraft die Schauspielhaus-Crew, Sasha Melroch, Karin Pfammatter, Elias Arens und Gast Julian Greis vom Thalia-Theater auf drei Dragqueens treffen: Michel von Känel (Paprika) ist Lehrer für Mathe und Naturkunde, Ivy Monteiro (Tropikahl Ivy) Performer und Anis Meschichi (Klamydia von Karma) Postdoc in Zellbiologie an der ETH. Entsprechend fluid ist auch die Rollenbesetzung: Es wird munter geswitcht zwischen den einzelnen Figuren – mal bin ich du, mal ist er sie...


Noch während man mit Schminke und Tiegeln hantiert, tauchen Erinnerungen auf: Der Bub, der seine Eltern mit dem Wunsch nach einer Meerjungfrau-Barbiepuppe konsternierte... Ein anderer, der sich danach sehnte, unter Wasser zu leben und immer tiefer und tiefer abtauchte... Oder ein Kind, das einfach nicht mehr sprach, und eines, das davon träumte, Synchronschwimmerin zu werden… Queen Paprika erzählt vom eigenen Coming-out und dem Schock, das dieses bei der Mutter auslöste, die aber inzwischen zu seinen größten Fans zählt und sogar ihr Hochzeitskleid zum Fummel beisteuerte. Queen Klamydia schildert, wie der Vater beim Fischen den Sohn, der sich vor dem zappelnden Fisch an der Rute grauste, zu einem «richtigen Mann» mit Jägerinstinkt machen wollte…

Mit diesem schillernden Personal – darunter, wie erwähnt, einschlägige Fachleute – entwickelt die Regie überraschende und amüsante Szenen. Unterstützt werden sie dabei von den fantasievollen Kostümen (Sophie Reble), den suggestiven Videoeinspielungen (Jonas Link) und den magischen Lichteffekten (Michel Güntert). Dank diesem multimedialen Zusammenwirken mutiert die banale Garderobe alsbald zur farbenprächtigen Unterwasserwelt, zum zauberischen Aquarium, oder besser noch: zum submarinen Ballroom. Schlingpflanzen und Seetang senken sich herab. Seesterne flimmern, Fischschwärme ziehen vorbei, zwei entzückende Leuchtquallen treffen sich zum Schwatz. Durch den fluiden Raum schwebt eine Meerfrau mit Schwanzflosse, die perfekte Schwester von Disneys Arielle...

Und die will jetzt endlich hinauf zu den Menschen, hinauf in die glühende Sonne. Für das große Abenteuer klemmt ihr die Grossmutter («die in allen sieben Weltmeeren zuhause und sogar für Sprüngli-Luxemburgerli geschwommen ist») als Schmuck acht Austern auf den Schwanz. Der Regisseur hat seinen «Andersen» genau gelesen. Er spannt von dieser kleinen Episode, wie von manch’ anderen, einen Bogen zu den Kniffs und Tricks und Trucs, die jeweils zum Einsatz kommen, bis man(n) zur Dragqueen wird. So dürfte schon allein das elegante Trippeln auf High Heels, zumindest zu Beginn, nicht ganz schmerzfrei sein – wir erinnern uns: Jeder Schritt der armen Meerjungfrau auf ihren neu gewonnen Füßen ist wie ein Tritt auf ein scharfes Messer. Ferner erfahren wir, was es mit dem Tucking auf sich hat: Dem Kaschieren der männlichen Genitalien im Schritt mittels raffinierter Unterwäsche und – aua, «nichts für Weicheier» lautet der Kommentar – vielleicht sogar mittels Klebeband, um eine beulenlose Vorderfront zu schaffen. Überhaupt: Der (Fisch-)Schwanz, den die Seejungfrau loswerden möchte, lässt nicht nur an Andersens verdrängte Homosexualität denken, er schafft auch Assoziationen zur weitreichenden Thematik von Schwul-Sein, Travestie, Transsexualität, Geschlechtsumwandlung… Die Inszenierung berührt diese Aspekte mit leichter Hand, augenzwinkernd, selbstironisch, aber nie herablassend oder gar abwertend – gewiss nicht der schlechteste Weg, sie einem breiteren Publikum ins Bewusstsein zu rufen. Und Vorurteile zu abzubauen.

 

Auf der Bühne, will heißen: In den Tiefen des Märchenmeers hat derweilen die Nixe allen Warnungen zum Trotz die Meerhexe aufgesucht, die wie eine grausliche Muräne inmitten einer schwarzen See-Anemone lauert. In einer furiosen Tanzszene wagt die Meerjungfrau den fatalen Schritt/Schnitt, den sie auch mit dem Verlust ihrer Zunge bezahlen muss und fortan stumm bleibt. Ein paar Takte von Tschaikowskis «Schwanensee» lassen auch an eine andere denken, die sich in den Tod tanzt...

Stichwort Musik: Immer wieder wird die Handlung von Songs und musicalartigen Sequenzen vorangetrieben (Sound: Björn SC Deigner). Mit «Smalltown Boy» von Bronski Beat zeigt Karin Pfammatter, was sie auch stimmlich draufhat; Sasha Melroch rappt auf französisch eine eigene Kreation. Live oder Karaoke, einerlei: Die Einspielungen animieren das Publikum im Saal zum Johlen, Pfeifen und Klatschen.

 

Inzwischen ist die Seejungfrau in der Menschenwelt angekommen. Und da wird’s auch noch ein bisschen politisch. Zweineinhalb bis drei bedeutungsvolle Statements dürfen es schon sein: Verschmutzung der Meere, Unterdrückung des Gender-Sterns, Marginalisierung und Verfolgung der Schwulen in Russland... Dazu das Video der Dragqueen Barbie Breakout, die sich 2013 vor laufender Kamera den Mund zunähte; auch das eingespielte «Casta Diva» der Callas lässt ans schmerzliche Verstummen denken und an eine schnöde Verlassene... Das sind starke Momente, mitunter vielleicht etwas weit hergeholt, oder – sagen wir’s positiv! – durch eine äußerst komplexe gedankliche Verbindung in die Märchenvorlage eingeschleust.


Doch dann gilt: The show must go on! Und wieder bauscht sich der Tüll, funkeln die Pailletten, wippen Busen und Hüften im Übermaß. Mit Muskeln, Rauschebart und Dreizack ausgestattet, setzt König Neptun (einmal mehr die umwerfende Karin Pfammatter) einen ironisch-virilen Kontrast ins Gewoge der vielen Queens. Unter dem Strich: Ein dichter Abend mit Witz, stupenden Bildern und hinreißenden szenischen Einfällen. Standig Ovations für dieses fulminante Plädoyer für Offenheit und Toleranz gegenüber und für Solidarität mit denen, die nicht ganz der Norm entsprechen – und das in einer erneut zunehmend heteronormativen Welt.

Szenenfotos: Schaupielhaus Zürich – Toni Suter, übrige Wikimedia, Bruno Rauch


28.01.2025

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1 Comment


Guest
Jan 29

Nach diesem Text habe ich doch wirklich Lust, mir die Inszenierung anzusehen. Vielen Dank.

R. G.

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