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Schattenspiel und Wellenschlag

Märchen und Ballett – «un marriage parfait», würde ein Spitzenkoch sagen. Tatsächlich besteht zwischen beiden eine künstlerische wie formale, eine – ohne negativen Beiklang – geradezu kulinarische Verbindung. Märchenstoffe bilden eine genuine Grundlage für den choreografierten Tanz. Mit universellen Themen wie Liebe, Treuebruch und Erlösung sowie archetypischen Figuren wie Prinzessinnen, Könige, Feen, Hexen und Helden schaffen Märchen ein Universum, das sich durch ausdruckstarke Körpersprache und Bewegung ideal darstellen lässt. Fantasie, Unsagbares, Übersinnliches sind weitere Aspekte, die im Tanz und in der Bewegung eine bildhafte Unmittelbarkeit erlangen. «Der Nussknacker», «Dornröschen». «Schwanensee» von Tschaikowski, «Cinderella» von Prokofiev, «Der Feuervogel» von Strawinsky oder, im weiteren Sinne, auch Adolphe Adams romantische «Giselle» mit den todbringenden sylphidenhaften Willis sind klassische Beispiel dieser fruchtbaren Paarung.

Ein Beispiel neueren Datums ist «The Little Mermaid» nach Hans Christian Andersens berühmtem Märchen von Lera Auerbach (Musik) und John Neumeier (Choreo), entstanden 2005 zum 200. Geburtstag des dänischen Schriftstellers. Seit 1913 sitzt diese «Lille Havfrue» als bronzenes Wahrzeichen an der Hafeneinfahrt von Kopenhagen, initiiert vom dänischen Bierbrauer und Kunstmäzen Carl Jacobsen, geschaffen vom dänischen Bildhauer Edvard Eriksen, inspiriert vom zeitgenössischen Ballett (!) des dänischen Komponisten Fini Henriques...


Nun, zum 150. Todestags des Dichters, zeigt das Zürcher Opernhauses ein neues Ballett des dänischen Choreografen und Regisseurs Kim Brandstrup mit dem Titel «Of Light, Wind and Waters», das sich ansatzweise mit Andersens Biografie, zur Hauptsache aber mit seinem Werk – genauer: mit dreien seiner über 150 Märchen – befasst: «Die Kleine Meerjungfrau» (1), «Die Schneekönigin» (2) und «Der Schatten» (3).

Edvard Eriksens «Kleine Meerjungfrau» Hans Christian Andersen (1805–1875)

am Kopenhagener Langelinie-Kaj


Doch wer ein Märchenspektakel mit bombastischen Effekten und ausladenden Tanzeinlagen erwartet, dürfte enttäuscht werden. Gewiss böten die Stoffe Material für opulente Theaterszenen – etwa der Besuch der Meerjungfrau bei der Meerhexe oder Gerdas Aufenhalt beim Räubermädchen und bei der Blumenfee. Doch darauf verzichtet Brandstrup. Vielmehr entwickelt er, der spürbar vom Modern Dance herkommt – und vom Film! – ein ebenso ungewohntes wie faszinierendes Bewegungsrepertoire. Spitzentanz, virtuose Sprungtechnik fehlen komplett. Dafür gibt es angedeutete Akrobatik, expressive Pantomime, weit ausgreifende Körperlichkeit mit bis auf wenige Hebefiguren geerdeter Bodenhaftung.

 

Märchengewebe

Auch die Anlage des ganzen Abends ist ungewöhnlich: Obwohl durchaus ein Handlungsballett, unterläuft Brandstrups Choreografie das Genre des traditionellen Story-Telling, indem sie die drei Handlungsstränge raffiniert in- und miteinander verschränkt, verdichtet, auf die Schlüsselszenen und die jeweiligen Hauptakteure reduziert. Das mag die narrative buntschillernde Fantasiewelt der Märchen etwas einschränken, ihren psychologischen Gehalt jedoch verringert es nicht im Mindesten – im Gegenteil, der symbolhafte Kern tritt nur umso schärfer und unverstellter hervor. Eine bemerkenswerte «Kondensation», die, abgesehen von einigen Redundanzen und Längen erstaunlich gut funktioniert. Eine vorgängige Lektüre der Geschichten ist also nicht zwingend, aber auf jeden Fall ein Gewinn.

Kein liebenswürdiger Märchenonkel

Zudem vorab auch ein paar Worte zum Schöpfer dieser tiefgründigen Geschichten. H.C. Andersen, wie er sich zeitlebens nannte, kam in Odense zur Welt und wuchs in armseligen Verhältnissen auf. Sein Vater, ein Schuhmacher, feinsinnig, aber offenbar nicht sehr lebenstüchtig, verließ Frau und Kind aus Not, um sich im Kriegsdienst zu verdingen, als der Junge sieben war. Fortan musste sich die Mutter, eine einfache, ungebildete Wäscherin, ums Überleben der kleinen Familie kümmern und verfiel schließlich dem Alkohol. Der junge Hans Christian, inzwischen 14jährig, entfloh der Misere und setzte sich in die königliche Hauptstadt, nach Kopenhagen, ab, wo er im offenen Haus des damaligen Theaterdirektors ein neues Zuhause fand. Dort wurde er bildungsmäßig gefördert und versuchte sich als Romancier und Dramatiker. Seinen nachhaltigen, weltweiten Ruf jedoch verdankt er seinen Kunstmärchen; als gütigen Märchenonkel darf man ihn sich allerdings nicht vorstellen. Er muss, vor allem mit zunehmendem Alter und Erfolg, ein recht unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein: egoman, hypochondrisch, narzisstisch, hochgradig neurotisch. Ein Getriebener, ständig auf der Flucht vor sich, auf der Suche nach sich selbst, bereiste er ganz Europa. Unglückliche, nicht erwiderte Liebschaften zu mehreren Frauen, aber auch zu jungen Männern wie dem Sohn seiner Kopenhagener Ersatzfamilie scheinen eine Konstante in seinem Leben gewesen zu sein, was auch posthum zu Spekulationen über seine sexuelle Ausrichtung Nahrung gab – und noch immer gibt. Sein unstetes, von Depressionen, Verdrängung und Selbstbetrug zerquältes Leben findet seinen Niederschlag im gesamten Œuvre. Melancholie, Verzicht und Tod sind nahezu allgegenwärtig und verleihen den Märchen eine bittersüße Note; groteske, ironische Einsprengsel und eine einfache, auch Kindern verständliche Sprache schaffen eine wirkungsvolle Spannung zum abgründigen Symbolgehalt des Erzählten.

Direkt auf das Leben und die Jugendjahre des Dichters bezieht sich vor allem ein Märchen mit dem abgründigen Titel «Sie taugte nichts» (4), das mit schonungsloser Drastik die Plackerei und Trunksucht und den Tod einer elenden Waschfrau schildert. Und Andersens starke Mutterbindung illustriert! Andere Stationen aus seiner Biografie werden im Ballett nicht thematisiert. Dagegen bildet sie, die Mutter, gewissermaßen die dramaturgische Klammer. Gekleidet in grobes Tuch, mit Schürze, Kopftuch und Wascheimer, betritt sie gleich zu Beginn die weite, leere Bühne, eine Art schwarze Zauberkiste. Aus dem magischen Dunkel schälen sich später die weiteren Figuren und die paar wenigen Kulissenteile – etwa ein Schemel, ein Bett, ein Tisch –, konturiert vom suggestiven Licht des Beleuchtungsmagiers Martin Gebhardt. Den hinteren Bühnenabschluss bildet eine rohe, dunkle Wand; den Boden bedeckt eine schwarzgelackte Folie, deren Spiegelglanz sich in einem schmalen Wassergraben am vorderen Bühnenrand fortsetzt. Später ist im geheimnisvollen Schwarz ein verschiebbarer, raumhoher Kubus zu erkennen, der sich in zwei im rechten Winkel gefügte L-Elemente mit je einer quadratischen Fensterluke teilen, öffnen und verschieben lässt, wodurch immer neue Spielräume entstehen: beengend, ausladend, bedrohlich, klaustrophobisch...

 

Tieni Burkhalters düstere Videoprojektionen – Wasser, Wolken, Winterstimmung – tragen das Ihre zur atmosphärischen Wirkung dieses ebenso einfachen wie raffinierten Bühnenbilds bei, das Richard Hudson geschaffen hat, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnete: Ihre Schnitte erinnern vage an die Zeit Andersens. Ihre Farbigkeit reicht von Weiß für die Episoden der Schneekönigin mit gleißendem Schleier über diverse Grauschattierungen des Corps de ballet als prinzliche Entourage, Meeresgetier oder Trabanten der Schneekönigin bis hin zum Schwarz der Schatten-Szenen. Die Meerjungfrau in lichtem Türkis und ihre Schwestern – hier sind’s nur drei – tragen Roben mit langen Schleppen wie Fischschwänze aus fließender, plissierter Seide.

Nahtlos, mit rasanten filmischen Cuts folgen sich die fragmentierten Märchenszenen, nachdem sich der junge Dichter, dargestellt von Lucas Valente, von seiner Mutter (Shelby Williams) und seinem schäbigen Zuhause – angedeutet durch eine karge Bettstatt – losgesagt hat. Nicht als Akteur, als Beobachter, am Rand und oft halb verborgen, geistert er fürderhin durch die Szenen, seine Szenen, die sein dichterisches Genie erzeugt hat.

Da sind Gerda (Ruka Nakagawa) und Kay (Mlindi Kulashe), die Nachbarskinder, deren heile Welt von der Schneekönigin unversehens zerstört wird. Mit kühler Eleganz und eisigem Kuss verführt sie (Elena Vostrotina, unwiderstehlich) den armen Jungen, der ihr in willenloser Erstarrung folgen muss, bis – allerdings erst nach vielen weiteren Szenen – Gerdas Tränen den Bann brechen; die originale komplexe Erzählstruktur des Märchens in sieben Teilen wird hier stringent verdichtet.

Vom Eispalast im hohen Norden geht’s – wieder ein harter Schnitt – unvermittelt über in die Tiefen der feuchten Welt. Die kleine Meerjungfrau sehnt sich so sehr nach der Liebe des ertrunkenen Prinzen (Wei Chen), den sie gerettet hat, dass sie die Warnung ihrer Schwestern (Giorgia Giani, Nehanda Péguillan, McKhayla Pettingill) missachtet und auf ihre Identität als Wasserwesen verzichtet. Max Richter in der Rolle der Nixe, jetzt ohne Fischschwanz, macht den Schmerz in den zarten Füßchen physisch spürbar – jeder Schritt, als «ob du auf scharfe Messer trätest, als ob dein Blut fließen müsste...» Jenes Messer aber, das die Schwestern für die Ermordung des ungetreuen Prinzen bringen, fällt ungenutzt zu Boden. Der Prinz heiratet die fremde Prinzessin (Daniela Gómez Peréz), mit schwarzem Schleier, aber in Gestalt und Kleidung der Seejungfrau irritierend und vielsagend zum Verwechseln ähnlich. – Und der Himmel färbt sich rot...

Doppelgängermotiv

Und abermals ein abrupter Szenenwechsel, einer von vielen: Mächtig ist der Schatten des Literaten, der in südlichem Land unter der Hitze leidet. Als im Palazzo gegenüber sinnliche Musik erklingt und eine mysteriöse Schöne (Nancy Osbaldeston als Poesie) erscheint, schickt er den eigenen Schatten los, das Geheimnis zu erkunden. Doch der kehrt nicht wieder. Hat sich selbständig gemacht und den Platz seines Herrn eingenommen. Lässt diesen sogar hinrichten, als der auf sein angestammtes Recht pocht. Wie Esteban Berlanga erst mit dem eigenen Schattenwurf und dann mit seinem leibhaftigen Widerpart (Karen Azatyan) ringt – einfach, zweifach, dreifach bis hinauf in den Plafond des Opernhauses –, ist ein Höhepunkt des Abends, ein Geniestreich aus Gebhardts Laterna Magica.

 

Dem mehrfach verschachtelten Geschehen auf der Bühne entspricht ein elaborierter Soundtrack ab Tonträger. Kreiert, oder besser: buchstäblich auf das Bühnengeschehen zugeschnitten hat ihn Ian Dearden. Dazu hat er zeitgenössische Kompositionen von Hans Abrahamsen und Anna Clyne mit Musiken von Schubert, Chopin, Debussy, Ligeti, Kurtág und Schönberg zu einer dichten Klangcollage verwoben, die die jeweilige «Temperatur» der einzelnen Situation, den atmosphärischen Gehalt der Vorgänge auf der Bühne kongenial unterstreichen: Eistropfengleiche, gläserne Klaviertöne, überhitzte, erotisch-laszive Klezmerkantilenen, fluider, wogender Bläsersound und Streicherklang...

«Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich», schrieb Andersen, der Autor des «Hässlichen jungen Entleins» (5), in seiner Autobiografie von 1855 – lauterer Selbstbetrug, schiere Mythomanie… Vielsagend jedenfalls das allerletzte Bild: Der Dichter löst sich endgültig von der Mutter. Mehr noch: Sie selbst, jetzt nicht mehr im faden Drillich vom Anfang, sondern im edleren roten Gewand, hebt ihn empor, lässt ihn entschweben – in den Parnass der Kunst, in eine bessere Welt... Und leise rieselt der Schnee – ein bisschen zirzenischen Kitsch verträgt es wohl nach anderthalb Stunden voll beflügelnder Poesie. Wir fliegen mit. Und klatschen heftig.

Szenenfotos: @ OHZ – Gregory Batardon


20.01.2025

Untenstehend die erwähnten Märchen von H. C. Andersen. Weitere Beiträge finden Sie hier.


4件のコメント


Urs F.
1月25日

Der Text gefällt mir deutlich besser als die Aufführung. Er legt Strukture frei, hilft das Gezeigte zu verstehen. Das ist mir trotz Besuch der Einführung und Lektüre zum Stoff während der Aufführung nur ansatzweise gelungen. Öfter haben mich Längen in den Sequenz, nun ja, gelang-weilt. So ist für mich aus den Tanzdarbietungen kein emotionaler Funke übergesprungen, die dargestellten Figuren haben mich irgendwie kalt gelassen. Dies ganz im Gegensatz zur kürzlich aufgeführten Clara. Zum Glück war der Soundtrack durchgängig interessant, abwechslungsreich und auch das Bühnenbild voll gelungen.

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ゲスト
1月23日

Deine tolle Ein- und Durchführung in/durch den Ballettabend " Of Light, Wind and Waters"ist wunderbar einladend und inspirierend. Werde heute Abend die Vorstellung besuchen, freue mich drauf!!

E. B.

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ゲスト
1月21日

Tolle Einführung! Ich freue mich auf die Aufführung!

U. G.

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ゲスト
1月21日

Gaaanz toller Text! Herzlichen Dank. Super Idee, die Märchen noch anzuführen, die kenne ich alle, ausser einem, und das lese ich jetzt sofort.

R. G.

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