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Liebe in Zeiten des Kolonialismus

«Ein schattiger Garten, in dem sich sämtliche Blumen Indiens mischen.» So lautet die erste szenische Anweisung in Léo Delibes’ Opéra comique «Lakmé» – Lotus, Jasmin, Rosen, Mimosen, aber auch die hochgiftige Datura... Diese florale Opulenz steht gleichsam für Inhalt und Form dieser mit Pentatonik, Sextenskalen, Glockenspiel, Piccolo und Tamburin als orientalisches Kolorit sehr dezent gewürzten und doch durch und durch französischen Musik: Duft, Schönheit, Farbenpracht, Eleganz, Anmut... Und Tod...

All dies gab es in einer denkwürdigen Aufführung unlängst im Zürcher Opernhaus eindrücklich zu hören. Und, obwohl konzertant dargeboten, sogar zu sehen – dank einem herausragenden Ensemble, das durch vokale Intensität und darstellerische Bühnenpräsenz fehlende Dekorationen, Requisiten und Kostüme kaum vermissen ließ. Zum gelungenen Resultat trug ebenfalls Natascha Ursuliaks zurückhaltende szenische Einrichtung bei.

Mit seiner 1883 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführten Oper aus «fernem Lande» traf Delibes, der bei Adolphe Adam («Le postillon de Lonjumeau»!) Komposition studiert hatte, den Nerv der Zeit perfekt: In zahlreichen Weltausstellungen zelebrierte die Grande Nation neben Industrialisierung, Fortschritt und Zukunftsglaube auch ihre Position als Kolonialmacht. Peinliche Völkerschauen und die eurozentristische Darstellung fremder Sitten und Gebräuche waren Publikumsmagnete; für die Weltausstellung von 1878 wurde u. a. eigens ein Pavillon des Indes errichtet. Die Attraktion von Orientalismen im weitesten Sinne hatte jedoch schon im französischen Barock – Rameau, Molière! – den Kanon der Schönen Künste entscheidend mitgeprägt; Belle Époque und Fin de Siècle sind geradezu geschwängert vom exotischen Parfum, um es mal zeitgeistig und ein bisschen dekadent auszudrücken. Meyerbeers «L’Africaine» (1865), Félicien Davids «Lalla-Roukh» (1862), Bizets «Pêcheurs de perles» (1863), selbst seine «Carmen» (1865) und, später, im 20. Jahrhundert, Puccinis «Madama Butterfly» (1904) sind musikalischer Ausdruck dieser Faszination des Fremden, ebenso wie Gauguins farbenprächtige Tahiti-Malereien.


Auch in der Literatur findet die Sehnsucht nach fernen Paradiesen ihren Niederschlag. So beispielsweise in den Geschichten eines Marineoffiziers namens Louis Viaud, der unter seinem Romancier-Pseudonym Pierre Loti unzählige Bücher veröffentlichte, darunter auch den Bestseller «Rarahu ou Le mariage de Loti» (1880). Diesen Roman, während einer Zugfahrt gelesen, soll Delibes sofort als tauglichen Opernstoff erkannt haben. Eine weitere Quelle war die – ebenfalls im Orient angesiedelte – Erzählung «Les babouches du Brahmane» (1849) von Théodore Pavie, aus welcher ganze Textpassagen ins Libretto von Philippe Gille und Edmond Gondinet eingeflossen sind.

Léo Delibes (1836–1891

Schließlich – cherchez la femme! – dürfte auch die Bekanntschaft mit Mlle Maria van Zandt, einer damals 24-jährigen amerikanischen Sopranistin, eine entscheidende Rolle bei der Komposition gespielt haben. Als Protegée von Léon Carvalho, dem Direktor der Opéra-Comique, hatte sie drei Jahre zuvor das Pariser Opernpublikum mit stimmlichen und körperlichen Reizen als Mignon in Ambroise Thomas’ gleichnamiger Oper enthusiasmiert; jetzt schrieb ihr Delibes die mit Koloraturgirlanden, Rouladen, Fiorituren und Spitzentönen garnierte Partie der Titelfigur buchstäblich in die Kehle. Vom einstigen Sensationserfolg haben allerdings nur gerade zwei Nummern überdauert: Zum einen das terzen- und sextenselige, mit Offenbachs Barcarolle aus «Hoffmann» vergleichbare Blumen-Duett zwischen Lakmé und ihrer Gefährtin Mallika, das mittlerweile als Sound für Werbespots von Airlines über Autos bis hin zu Pflegeprodukten herhalten muss. Zum anderen die Glöckchen-Arie, ein hochvirtuoses Paradestück für herausragende Koloraturgöttinnen von Lily Pons über Mady Mesplé und bis hin zu Maria Callas. Die französische Sopranistin Sabine Devieilhe fügt sich mit souveräner Selbstverständlichkeit in diese illustre Reihe.


Ein süsser Traum

Delibes vermeidet, anders als Bizet in seiner «Carmen», bei der Gestaltung der tragischen Liebesgeschichte zwischen Gérald, einem Offizier der britischen Kolonialmacht, und der indigenen Lakmé jeglichen kruden Realismus. Vielmehr setzt er auf eine meisterlich gestaltete, sehnsuchtsvolle Traumwelt, wo Natur, Magie und Erotik eine (nahezu über-) sinnliche Atmosphäre schaffen, die seine an sich unkomplizierte Musik adelt und von jeglichem Kitschverdacht entbindet – ganz den letzten Worten Lakmés entsprechend: «Tu m’as donné le plus doux rêve qu’on puisse avoir sous notre ciel» – Du gabst mir den süßesten Traum...


Zwar wird diese Traumwelt mitunter unterbrochen: Einmal in einer effektvollen Marktszene, die der gut vorbereitete Chor lebhaft und lustvoll zu Gehör bringt. Ein anderes Mal, gleich zu Beginn, durch das mit Ironie und Witz gestaltete Plapperquintett der englischen Touristen: Die beiden Offiziere, Gérald (Edgardo Rocha) und sein vernünftiger, vorsichtiger Freund Frédéric (Björn Bürger mit elegantem Bariton und gewinnender Erscheinung), Géralds Verlobte Ellen (Sandra Hamaoui), deren Cousine Rose (Bożena Bujnicka) und die Gouvernante Mistress Benson (Irène Friedli) sind unbedarft in den heiligen Bezirk um den Tempel eingedrungen und debattieren über das Wesen der heimischen und der hiesigen Frauen: Wie die drei koketten Damen den Männern schnatternd Paroli bieten, ist ergötzlich-geistvolles Konversationstheater à la française!

Während die Gruppe weiterzieht, bleibt Gérald zurück. Als Zauberwesen, Traumvision, Trugbild erscheint ihm Lakmé, die ihn erst von sich weist, dann aber zögernd seinen Liebesschwüren nachgibt. Das ruft den Zorn des Brahmanenpriesters Nilikantha hervor, der den Tod des Schänders seiner Tochter und des Tempelbezirks fordert. Philippe Sly ist mit seinem flexiblen und nuancenreichen Bass-Bariton und seinem hohen Wuchs eine beeindruckende Erscheinung zwischen Würde und Autorität einerseits, sowie Rachsucht und Groll andererseits. Im zweiten Akt fordert er die Tochter auf, jene berühmte balladeske Legende, Höhepunkt und Zugstück der Oper, zu singen, um den flüchtigen Frevler in der Menge zu entlarven. Der Bezug zu Olympias Zwitscher-Arie aus Offenbachs «Contes d’Hoffmann», zwei Jahre zuvor auf der gleichen Bühne aufgeführt, ist offensichtlich. Hier wie dort lässt ein Vater seine Tochter sich bis zur Erschöpfung in halsbrecherischen Koloraturen verströmen; der eine für seine moralisch-religiöse Überzeugung, der andere für seinen persönlichen Ruhm. Auf einen Stoff von E. T. A. Hoffmann hatte Delibes übrigens bereits einmal zurückgegriffen: In «Coppélia», womit er sich neben «Sylvia», seinem anderen Erfolgsballett, einen Platz in der Musikgeschichte sicherte.


Die virtuose Glöckchen-Arie erzählt von einer jungen Inderin, Tochter eines Parias, die mit ihrem magischen Glockenstab einst den Gott Vishnu vor den wilden Tieren rettete und zum Dank und ungeachtet ihrer Kastenlosigkeit von ihm in den Himmel erhoben wird. – Gérald wird tatsächlich von den Rächern verletzt, kann aber von Lakmé gerettet und in einer verborgenen Waldhütte gesundgepflegt werden. Vereint durch den gemeinsamen Trank aus heiliger Quelle, gibt sich Lakmé, als sie die Aussichtslosigkeit dieser Liebe erahnt, durch den Genuss einer Datura den Tod.

Zurzeit ist Sabine Devieilhe wohl eine der überzeugendsten und authentischsten Darstellerinnen dieser Rolle. Ihr lichter, in jeder Lage weich und innig strömender Sopran, ihr atemberaubendes Piano, ihre unangestrengte Höhe bis hinauf zum e''', ihre makellose Intonation, und mehr noch ihre emotionale Ausdeutung der Rolle machen ihre Interpretation zum Erlebnis: eine anrührende Verbindung von Zartheit und Stärke. (Dass sie barfuß auftritt, ist gewiss mehr als ein spleeniger Einfall, sondern lässt erahnen, wie sehr nur fester Stand den Aufschwung in stellare Höhen erlaubt.) Wunderbar paart sich ihre Stimme mit dem Mezzo von Siena Licht Miller als Mallika im Blumen-Duett, und der sanfte Tenor von Saveliy Andreev als Diener Hadji lässt in einem kurzen rezitativischen Solo spüren, dass er Lakmé nicht nur als Glaubensgenosse verbunden ist.

Der urugayische Tenor Edgardo Rocha bringt für die Partie des Gérald alles mit, was man gemeinhin für diese typisch französische Partie erwarten darf: Geschmeidigkeit, Ausdrucksstärke und leicht ansprechende Höhe. Vermochte er schon in seiner nachdenklichen Arie beim Anblick von Lakmés zurückgelassenen Schmuckstücken durch genuine Herzenstöne zu überzeugen, so wird das wunderbare Duett mit Lakmé – Hymne an den Gott der Jugend, des Frühlings, der Liebe – zum weiteren Glanzpunkt des Abends.

Dem erfreulich homogenen Ensemble breitete Alexander Joel einen opulenten, aber allzeit transparenten Teppich aus. Gespielt wird eine Fassung ohne gesprochene Dialoge und ohne die orchestralen Balletteinlagen. Mit hinreissendem Schwung und elegant-suggestiver Gestik bringt der Dirigent Delibes’ facettenreiche Partitur präzis und plastisch zum Klingen, und die Philharmonia Zürich folgt mit sichtlicher Spielfreude.

Brahma habe die Welt durch das Brechen einer Blüte geschaffen, deren Nektar als Tropfen der Hoffnung die Erde betauten, singt Lakmé in ihrem Gebet. Effektiv: Die Aufführung erschloss eine geradezu olfaktorische Klangwelt. Musikalische Blumendüfte eben. – Nach Momenten der Stille brach der tosende Applaus los.

Bühnenfotos: @ OHZ – Toni Suter

Air des clochettes», mit Sabine Devieilhe, Opéra Comique, Paris

04.05.2023


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