Eine glänzende Idee, diese Programmgestaltung! Musik, die nach Erde, Luft und Wasser riecht. Die nach Wellenschlag und Windbö klingt. Landlust und Naturlaute, erlebt und gespiegelt im Empfinden eines subjektiven Ichs.
Den Auftakt macht Felix Mendelssohn-Bartholdys «Hebriden»-Ouvertüre. Der Titel dieses Konzertstücks bezieht sich auf den vor der schottischen Westküste gelagerten Archipel, der aus rund 500 Inseln und Inselchen besteht, von denen nur rund ein Zehntel besiedelt ist. Unbesiedelt ist auch Staffa, eine gerade mal 12 ha große Insel der Inneren Hebriden, ein karges Stück Land, das aber durch seine geologische Besonderheit schon früh Touristen anlockte, darunter Theodor Fontane, William Turner, Jules Verne, Karl Friedrich Schinkel, Queen Victoria...
Seereise
Seine eigenartige Gestalt – sie erinnert ein wenig an ein Stück Torte, gebildet aus senkrechtstehenden Löffelbiskuits, überzogen mit einer Schicht kargen Graslands – verdankt das Eiland urzeitlichen vulkanischen Aktivitäten, deren aufsteigende Magmamassen in kontinuierlicher Abkühlung und Erosion durch Wind und Wasser sich zu Basaltsäulen und ganzen Kolonaden formten. Getoppt wird die imposante, wie von Architektenhand gestaltete Naturkulisse durch eine etwa 80 m lange und 10 m breite Höhle auf der Südostseite der Insel, die, neben ihrer Größe, auch für ihre außerordentliche Akustik berühmt ist.
Fürwahr, eine von Wind und Wasser umtoste Landschaft, die in ihrer urtümlichen Gestalt und elementaren Wucht den Nerv der Romantik mit ihrer Vorliebe für Vorzeitliches und Mythologisches exakt trifft. So passt es denn auch perfekt, dass die Höhle bei ihrer Entdeckung den Namen Fingal’s Cave erhielt. Fingal oder Finn heißt der sagenhafte König, Held der «Gesänge des Ossian», eines angeblich altgälischen Nationalepos des sagenhaften Barden Ossian. Das Werk inspirierte und faszinierte Generationen von Künstlern des frühen 19. Jahrhunderts und löste eine wahre «Keltomanie» aus. Erst gut hundert Jahre später, 1895, wurde bekannt, dass die Texte keineswegs aus dem frühesten Mittelalter stammten, sondern erst in den 1760er Jahren von einem äußerst «kreativen» Schriftsteller und Historiker namens James MacPherson geschrieben worden waren. Dennoch wurde «Fingal’s Cave» als romantische Referenz auf diese mythische Figur verstanden und verlieh dadurch der Höhle eine geradezu mystische und epische Aura.
Felix Mendessohn-Bartholdy Raplh Vaughan-Wiiliams Ludwig van Beethoven
(1808–1847) (1872–1958) (1770–1827)
Beeindruckt von dieser spektakulären Naturszenerie war auch der der 20jährige Mendelssohn, als er anlässlich seiner Grand Tour in Begleitung des Freunds Karl Klingemann – und häufig unter «grässlicher Seekrankheit» leidend – sich im Sommer 1829 durch die schottische Inselwelt schippern ließ. In einem Brief an die Familie in Berlin teilte er seine Eindrücke: «Um zu verdeutlichen, wie seltsam mir auf den Hebriden zu Muthe geworden ist, fiel mir soeben folgendes bey.» Und er lässt eine musikalische Skizze folgen: 21 Takte einer programmatischen Konzertouvertüre, getragen von einem charakteristischen Bassmotiv. Später, in Rom, wird daraus sein Opus 26 entstehen. Doch erst mit der dritten Fassung war der Komponist zufrieden, sodass das Werk erst 1835, also sechs Jahre nach dem ersten Einfall, endgültig Gestalt und Titel erhielt – «Ouvertüre zur einsamen Insel», «Overture to the Isles of Fingal», «Die Fingals-Höhle» und schließlich «Die Hebriden». Unter diesem Namen ist es heute bekannt, und selbst Wagner, wahrlich kein Freund Mendelssohns, attestiert ihm «außerordentliche Schönheit».
Die Interpretation durch das hervorragend disponierte Kammerorchester «I Tempi» unter seinem Leiter und Gründer Gevorg Gharabekyan bleibt dem farbig-raffinierten, mitunter fast impressionistischen Klangzauber des Werks nichts schuldig. Wie aus dem Wogen der Wellen, von den tiefen Streichern und Fagotten plastisch dargestellt, sich aus dem anfänglichen Dunst markante Gegenmotive formen – bedrohliche Klippen, Riffe, Untiefen? – ist dermassen packend, dass man fast glauben möchte, selbst auf dem Schiff mitzufahren. Es wird eine breite musikalische Farbpalette aufgefächert; Synästhetiker würden vielleicht von dunklem Grün sprechen, von lichtem Türkis, bläulicher Schwärze... Beeindruckend sodann die präzis artikulierenden Bläser, darunter die leicht changierenden Naturhörner und, im Mittelteil, die für kurze Erholung im Gewoge sorgenden warmen Klarinettenklänge. Oder die magistralen Trompeten – vielleicht Anklänge an Ossians kriegerische Reiterscharen... Kurz: Anregend, facettenreich, ein Klangerlebnis erster Güte!
Höhenflug
Auch Ralph Vaughan Williams Konzertstück für Solovioline und Orchester, «The Lark Ascending», ist der immer wieder reizvollen Beziehung von Musik und Natur verpflichtet, inspiriert es sich doch am Flug und Gesang der Lerche. Vom Komponisten ist bekannt, dass er eine grosse Affinität zu Poesie und zur Violine hatte, beides widerspiegelt sich in diesem dreigliedrigen Werk, das er 1914 konzipierte – zuerst als Romance für Geige und Klavier –, das er aber erst nach seinem Militärdienst als Konzertstück umgestaltete und 1921 mit der damals berühmtesten Geigerin, Marie Hall, der das Stück auch gewidmet ist, zur Aufführung brachte.
Zugrunde liegt dem Stück ein 122-zeiliges Gedicht des viktorianischen Dichters George Meredith (1828–1909), entnommen dem Band «Poems and Lyrics of the Joy of Earth». Es handelt sich dabei um eine sogenannte Pastorale (was uns bereits an den nächsten Programmpunkt des stimmigen Konzerts denken lässt). In lautmalerischen Formulierungen wird da beschrieben, wie das «Gedränge eiliger Töne» (a press of hurried notes) sich wiederholt, verändert, variiert und trillernd umspielt wird (Where ripple ripple overcurls / and eddy into eddy whirls...) Später wird der Gesang der Lerche zur Metapher für die ganze Natur und letztlich auch den Menschen, dessen Stimme nicht im gleichen Maße zu singen fähig ist – so rein und innig, so «seraphisch frei von Makel der [allzu menschlichen] Persönlichkeit» (The song seraphically free / of taint of personality) Doch das Lied der Lerche erfreut Millionen von Menschen, weil es ihrem Geist, ihrem Gefühl eine Stimme verleiht.
Ilya Gringolts, der Solist des Abends, hat sich Anlage und Inhalt dieses Werks, fast möchte man von einer musikalischen Kontemplation sprechen, auf geradezu existentielle Weise zu eigen gemacht, sodass man zuhört und beinahe das Atmen vergisst, um nur nicht die hochkonzentrierte Hingabe zu stören. Nach einer kurzen Einleitung durch Holzbläser und sordinierte Streicher hebt sich die Stimme der Violine, pianissimo wie aus dem Nichts, und schwingt sich auf zu einer ersten unbegleiteten Kadenz. Gringolts bringt seine Stradivari mit ungemeiner Innigkeit und Wärme – für einmal sei gar der Ausdruck Beseeltheit gestattet – zum Klingen. In pentatonischen Tonfolgen und wiederholten frei schweifenden Kadenzen (senza misura), geziert mit Trillergirlanden und Fiorituren bewegt sich die Violine oft in einsamer Höhe über dem flächigen Orchesterpart, gleichsam im Flug über eine breitgefächerte Landschaft. Die hochgeschraubte Virtuosität scheint für den Solisten kein Thema zu sein, doch ebenso wenig wird sie je zum Selbstzweck. Vielmehr: Jeder Ton, jeder Triller, jede Verzierung atmet und schwingt; die zartesten Piani haben Körper und Gestalt; ein letztes Mal ganz am Schluss, wo die unbegleitete Violine – die Lerche! – gleichsam im Ätherblau entschwindet.
Gebannte Stille. Grosser Applaus. Und eine höchst reizvolle Zugabe des wenig bekannten Barockmeisters Johann Paul von Westhoff (1656–1705), wozu ein Cellist des Ensembles den Continuo-Part übernimmt.
Landpartie
Die so unterschiedlichen Naturbilder beschließt Beethovens «Sechste», die das aktuelle Konzert in den Rahmen des beethovenschen Sinfonie-Zyklus einbindet, den sich «I Tempi» als Ganzes vorgenommen haben.
Entstanden ist sie in den Jahren 1806/07, und ihr genauer Titel «Pastoral-Sinfonie oder Erinnerung an das Landleben» lässt die poetische Idee, die der Komposition zugrunde liegt, klar zutage treten. Auch wenn das aufziehende Gewitter und die Vogelstimmen-Kadenz in der «Szene am Bach» durchaus konkrete Abbilder darstellen, sucht Beethoven nach eigenen Worten weit mehr den «Ausdruck der Empfindung» – etwa bei Ankunft auf dem Lande oder nach dem überstandenen Sturm – als die vordergründige tonmalerische Nachahmung des Naturgeschehens, was auch der Programmzettel der Uraufführung vom Dezember 1808 nochmals unterstreicht: «Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey.»
Diesen Anspruch haben sich der Dirigent und sein hochmotiviertes Ensemble entschieden zu Herzen genommen. Und so haben sie die wohlbekannte Musik mit frischem Ansatz ausgehorcht und mit emotionaler Intensität zum Klingen gebracht. Trotz sorgfältiger Detailarbeit begeistert ihre Interpretation durch ungeheuren Zug und Drive, ohne überhastet zu wirken. Mit besonderer Hingabe – und bewundernswerter solistischer Brillanz! – werden die Bläserpassagen herausmodelliert, mit berückender Wärme und, wo nötig, schneidiger Attacke der Streicherklang geformt. Da und dort unterstreichen minimale, wunderbar austarierte Verzögerungen die Übergänge zwischen einzelnen musikalischen Phrasen und tragen so zu Lebendigkeit und Plastizität bei. Nichts geht im wohligen Klangbad unter, vielmehr wird auf Differenzierung und Kontur, Klangfarbe und Transparenz gesetzt, sodass ein rundum beglückendes Klangerlebnis ersteht. Eine «Landpartie», die, wie es von einer Fahrt ins Grüne zu erwarten ist, erfrischt, belebt und alle Sinne schärft, sodass man als Zugabe den letzten Satz gerne noch einmal genießt.
22. 09.2024
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