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Feuchtgebiete, trockengelegt

«La raison dans l’Olympe est souvent hors d’usage» – Im Olymp ist die Vernunft öfters mal außer Betrieb. Diese ebenso wahre wie respektlose Erkenntnis stammt aus dem Prolog zu Jean-Philippe Rameaus genialer Oper «Platée». Geäußert wird der denkwürdige Satz von Momus (gr. Momos), dem Gott des Tadels, der Schmähsucht und des Spotts. Und er wird, notabene, bis hin zu Offenbachs dreister Verunglimpfung der olympisch-monarchischen Regierung und darüber hinaus nichts an Aktualität einbüßen.



Tollheit, Unvernunft, Irrsinn, Überspanntheit – sind das nicht Stichworte, die gern mit der Oper, dem Opernbetrieb ganz allgemein, in Zusammenhang gebracht werden? Darüber hinaus legt auch der Prolog selbst die Bühne als Setting nahe – Untertitel: «Die Geburt der Komödie»! Da macht nämlich der griechische Dichter Thepsis aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., der als Erfinder des Dramas gilt, gemeinsame Sache mit dem göttlichen und halbgöttlichen Clan – Merkur, Amor, Thalia, Bacchus, den Satyrn und Mänaden sowie dem erwähnten Momus –, um «un spectacle nouveau», «eine neue Art von Spiel» auf die Bretter zu zaubern.

 

In der aktuellen Produktion des Zürcher Opernhauses, verantwortet vom Frauenteam Emmanuelle Haïm (Dirigat) und Jetske Mijnssen (Regie), das 2019 in Zürich bereits mit Rameaus «Hippolyte et Aricie» für Begeisterung gesorgt hatte, könnte die eingangs zitierte Sentenz Auslöser des Regiekonzept gewesen sein; ihr Stück spielt durchwegs auf, unter und hinter der Bühne: Proberaum mit Flügel, Ballettsaal mit Spiegeln und Stangen, Unterbühne, Garderobe, Kostümständer, die hin und her geschoben werden, geraffte Vorhänge, gemalte Prospekte, die an alte Kulissen erinnern... Das attraktive Ganze hat Bühnenbildner Ben Baur in einem klassischen, leicht maroden Bühnenportal mit Muschelleuchten an der Rampe und einer goldenen Muschel als Souffleurkasten zusammengefasst. Bestens dazu passen die im eigentlichen Wortsinn theatralischen, überaus bunten und fantasievollen Kostüme von Hannah Clark; die modische Bandbreite reicht von heute bis vorvorgestern. Vom schwarz-weißen Harlekin bis zur befrackten Conférencière. Von unsäglicher Biederkeit bis zu historisierendem Pomp. Und vom (fast) graziösen Tutu à la Schwanensee bis zum animierten Möbel- und Geschirrfundus aus Ravels Sortilèges... alles barock, in der ursprünglichen Bedeutung von: verschwenderisch, exuberant, bizarr...

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Das Stück, ursprünglich als Ballet bouffon, später auch als Comédie lyrique bezeichnet, markierte in Versailles Ende März 1745 den Abschluss der Hochzeitsfeierlichkeiten des Dauphins Louis Ferdinand, Sohn von Louis XV, mit der – gemäß Überlieferung nicht gerade hübschen – spanischen Infantin Maria Teresa. Die öffentliche Beachtung für das Stück hielt sich in Grenzen, immerhin brachte es dem Komponisten den Titel als Königlicher Kammerkompositeur ein. Und ermutigte ihn, es später (1750/54) erneut und leicht überarbeitet erfolgreich wiederaufzunehmen. Interessant in diesem Zusammenhang: Rameau, als Cembalist und Musiktheoretiker hochgeschätzt, hatte sich erst 1733 als 50-Jähriger auf der Opernbühne etabliert – mit «Hippolyte et Aricie», nach Racines «Phèdre».



Zur Einschätzung der eigenwilligen zürcherischen Lesart ist jedoch auch der mythologische Hintergrund von Bedeutung: Ausgangspunkt ist eine Reisebeschreibung des Geographen und Schriftstellers Pausanias aus dem 2. Jahrhundert. Juno (Hera) sei wieder mal in einem Eifersuchtsfuror ob des notorischen Fremdgehens ihres Göttergatten Jupiter (Zeus) mit verheerendem Sturm übers Land gefegt. Um sie von ihrer krankhaften, wenn auch keineswegs gänzlich unbegründeten Eifersucht zu heilen, riet der mythologische König Kithairion (Cithéron) dem obersten Olympier, eine fingierte Hochzeit mit einer als Frau verkleideten Holzpuppe zu arrangieren, was der misstrauischen Gemahlin ihren in diesem singulären Falle tatsächlich unbegründeten Argwohn drastisch vor Augen führen und den olympischen Haussegen wieder ins Lot bringen sollte. 




Darauf fußt das Stück «Platée ou Junon jalouse» von Jacques Autreau, seines Zeichens Maler, Schauspieler und Dramaturg, das den beiden Librettisten Rameaus als Grundlage diente. Doch spitzt Autreau die Farce dergestalt zu, dass er aus der Holzstatue ein lebendiges Wesen macht: die hässliche, liebestolle Sumpfnymphe Platée, die sich für so unwiderstehlich hält, dass ihr selbst Jupiter zu Füssen liegt. Damit ist sie ein geeignetes Opfer für einen brutalen Schabernack, der ihr die Zuneigung des höchsten Gottes vorgaukelt, um sie danach als schmählich Getäuschte grausam zu verspotten und zu verlachen.

 

Für diese Platée, heimisch in den trüben Niederungen des Morasts und gezeichnet vom Mangel an sprichwörtlicher Bienséance, schreibt Rameau eine männliche Stimmlage vor; kein Kastrat oder Falsettist, sondern einen fürs französische Repertoire typischen Haute-Contre, einen extrem hohen Tenor. Dass weibliche Rollen, vorab kauzige Alte, Zofen und Ammen, mit Männern besetzt wurden, hat auf der barocken Bühne eine lange Tradition – Poppeas Nutrice bei Monteverdi ist nur eine der bekanntesten unter ihnen.

Pierre Jelyotte, die erste «Platée» Jean-Philippe Rameau (1683–1764)

(Jean-Antoine Coypel, um 1745, Louvre, Paris) (Jacques-André Joseph Aved, Dijon)

 

So tauglich das Konzept der «Opernbühne auf der Opernbühne» als Schauplatz ist – und ganz besonders im Hinblick auf die unzähligen von Choreograf Kinsun Chan geschickt integrierten Tanzeinlagen –, so diskussionswürdig scheint der zweite, einschneidendere Eingriff in die originale Anlage des Stücks:

 

Plateo statt Platea

Offenbar wollte das weibliche Realisationsteam auf die Travestie, das heißt: auf die strapazierte Klischeefigur der grotesken Alten, dargestellt von einem Mann, verzichten. Ein in Zeiten von Wokeness, Genderfluidität und Sexismus nachvollziehbarer Ansatz. Erzählt wird stattdessen eine Geschichte, die wir aus heutiger Sicht schlicht als Mobbing bezeichnen würden. 



So ist die aktuelle Zürcher Platée kein Wasserwesen aus schlammigen Tiefen, kein garstig’ Weib, sondern ein junger, etwas unbedarfter Mann mit Brille und einem grässlichen Karo-Pullover, der sich nach Jupiter, dem Startänzer der Kompagnie, verzehrt. So weit, so schwul. Kein Problem! Schon gar nicht im Theater!! Doch dass dieser «Plateus» ausgerechnet als Souffleur wirkt, ist ein Fehlgriff. Fast jede andere Charge wäre passender gewesen, nur nicht die des Souffleurs, weiß doch jeder, der mit dem Theater zu tun hat, wie wichtig der unsichtbare Spiritus rector im Kasten ist. Von einem Underdog, einem Außenseiter, womit das Original gekonnt spielt, kann also keineswegs die Rede sein. Indem man die unbedeutende, miserable Herkunft Platées – egal ob Frau oder Mann – eliminiert, indem man ihr/ihm im Gegenzug eine eminent zentrale Position im Theaterbetrieb zubilligt, reduziert man die dramatische Fallhöhe der unglücklichen Ninfa suggeritice beträchtlich. Auch die grandiose Wirkung der musikalischen Sprache, gespickt mit stilistischen Extravaganzen und lautmalerischem Witz, die Rameau der beschränkten, aber sehr bodenständigen Titelgestalt mit genialer Raffinesse zueignet, wird durch diesen Dreh geschmälert. Das virulente Thema der Ausgrenzung des Andersartigen verliert an Biss; der Anspruch der tatsächlichen Tragödie wird nur noch unzulänglich erfüllt. Aus der boshaften Satire, die sehr wohl sozialkritische und gesellschaftsrelevante Aspekte beinhaltet, wird eine letztlich etwas banale Schwulengeschichte. Allerdings und ganz ohne Vorbehalt: mit echt berührenden Momenten!

 

Diese beckmesserischen Überlegungen sollen keinesfalls über den grundsätzlich positiven Gesamteindruck der Aufführung hinwegtäuschen. Was da an optischen Reizen und darstellerischer Feinzeichnung auf der Bühne passiert, ist (meistens) witzig und amüsant. Das liegt an der hinreißenden Spielfreude aller Beteiligten, einschließlich des stark geforderten und äußerst agil agierenden Chors (Einstudierung: Janko Kastelic), der munteren Statisten sowie der acht Hupfdohlen, denen in dieser Ballettkomödie ein gewichtiger Part zukommt.




Funkenwurf aus dem Graben

Das liegt ferner und in höchstem Maße an der glänzend aufgestellten hausinternen Barockformation «La Scintilla» und an der mit rhetorischer Brillanz musizierenden Continuo-Gruppe, Benoît Hartoin (Cembalo), Claudius Herrmann (Cello) und Dieter Lange (Violone). Mit Emmmanuelle Haïm steht eine ausgewiesene Spezialistin für dieses Repertoire am Pult: Im Einklang mit der Regie wurde eine gut zweistündige Fassung erarbeitet, die das höfische Pathos der (französischen) Barockoper raffiniert mit der exaltierten Komik der (italienischen) Opera buffa verbindet; der historische Buffonisten-Streit (1752–54), der just diesen Zwiespalt zum Thema hatte, war Ausdruck des damaligen Paradigmenwechsels auf der Opernbühne. Mit energetischem Antrieb, mit pointiertem Sinn für Klangfarben und effektvolle Zuspitzung sorgt die Dirigentin nicht nur dafür, dass sich Chöre, Tänze, Divertissements und solistische Exploits nahtlos zusammenfügen, dass Froschgequake, Eselsgeschrei, Vogellärm oder Sturmgebraus sinnlich erfahrbar werden. Sie sorgt auch dafür, dass nicht primär das «Opfer» durch den (hier nicht existenten) Kot gezogen, sondern dass auch die Eitelkeit und Selbstüberhöhung der «Täter» entlarvt wird. Vielleicht steht das im Zusammenhang zu Sartres epochalem Kernsatz «L’enfer, c’est les autres» aus «Huis Clos», der in grossen Lettern auf den rückwärtigen Prospekt gepinselt wurde: Eine Hölle, in der jeder zum Peiniger und zum Gepeinigten wird – dennoch, mit Verlaub, ein gedanklicher Bezug, der in diesem Umfeld etwas weit hergeholt scheint.

 

Ungeteiltes Lob geht an die göttliche und halbgöttliche Sippschaft (praktisch alle mit allen verwandt), die da leichtfüßig zwischen Olymp und Theater pendelt; darunter nicht wenige, die sängerisch ebenso wie tänzerisch beeindrucken. So etwa die Sopranistinnen Anna El-Kashem als Thalia, Muse der komischen Dichtung, bzw. Najade Clarine und Tania Lorenzo als kesser Amor, beide stimmlich wie körperlich gleichermaßen beweglich. Als überspannte Ballettmeisterin, genannt La Folie, drangsaliert Mary Bevan ihre Truppe, und brilliert unangestrengt – obwohl kettenrauchend wie einst Pina Bausch – mit einer buchstäblich irrsinnigen, koloraturengespickten Arie. 




Den intellektuellen und schonungslosen Kritikaster gibt Theo Hoffman mit markantem Tenor, derweil Alasdair Kent, ebenfalls Tenor, als verkaterter Dichterfürst Thepsis sich erst unter dem Flügel hervorrappeln muss, um dann aber, mit umgeschnürtem Schmerbauch und Reblaubkranz auf dem Haupt, eine charmante Hommage an den Gott des Weins zum Besten zu geben. Renato Dolcini (B-Bar) in der Doppelrolle als Satyr und später als Cithéron fungiert als Chorleiter, eine Erscheinung von Viebrocks Gnaden mit strähnigem Langhaar, Strickpulli, Socken und Birkenstock, während sich Nathan Haller (T) als quecksilbriger Mercure, Drahtzieher und Maskenbildner in Personalunion, profiliert; zusammen scheinen die beiden auch noch die operninterne Kita zu betreuen, nämlich die jüngsten Sprosse im Kinderwagen aus der Chefetage. Vielleicht handelt sich’s dabei um die Zwillinge Castor und Pollux – was eine hübsche Anspielung an eine andere Oper Rameaus wäre, komponiert 1737, allerdings wären die beiden Dioskuren-Boys dann längst keine Säuglinge mehr... Zudem ist ihre Mutter Leda (genau, die mit dem Schwan!) und nicht Juno, was die herrlich fulminanten Auftritte von Katia Ledoux als göttliche Matrone mehr als verständlich erscheinen lässt. Das allerdings scheint Evan Hughes in Gestalt des schönen Jupiters nicht arg zu kümmern. Als singendem Primoballerino sichern ihm sein wohlgeformter Body und sein sonorer Bass jederzeit die erwünschte Aufmerksamkeit – im Himmel wie auf Erden, auf der Bühne wie im Saal... 




Kein Wunder also, dass auch Platée, nachdem er beim blässlichen Cithéron abgeblitzt ist, dem coup de foudre des blitzeschleudernden Göttervaters rettungslos verfällt. Mit Haut und Haaren. Genau so, wie sich Mathias Vidal voll und ganz in diese enorme Partie stürzt. Mit einer umwerfenden Mischung aus Naivität, Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln, realitätsfremden Ambitionen und mitleiderregender Verletzlichkeit sucht er, seinem Idol näherzukommen, und scheint dabei bis ganz zum Schluss kaum zu merken, wie übel ihm mitgespielt wird: ein großes Kind, das man sofort ins Herz schließt. Vidals schauspielerische Intensität, gepaart mit seinem facettenreichen, lichten Tenor, heben diese Figur weit über das Niveau der Parodie und des Klamauks, selbst wenn er im Tutu, das man ihm verpasst, eine lächerliche Figur abgibt. Doch zu unserem verhaltenen Lachen gesellt sich bald auch das Mitleid, wenn er unter den Augen der verrückten Choreografin seine hilflosen Exercises an der Stange probiert... Wenn er sich seinem Schmachten im engen Souffleur-Kabäuschen hingibt, dessen Wände mit einschlägigen Bildern tapeziert sind... Wenn er schließlich allein vor den Spiegelfronten im Tanzsaal steht und sein klägliches Ebenbild erblickt.

   


Zum Countdown gibt’s nochmals großes Kino: Eine gigantische Hochzeitstorte wird aufgefahren, auf der Jupiter im gleißenden Frack auf seinen Liebsten wartet. Juno eilt herbei und lässt die schöne Illusion mit einem homerischen Gelächter platzen...

 


Die Bühne leert sich, Platée bleibt allein zurück, entledigt sich des Tutus und der Ballettschuhe. Doch eh die Lichter ausgehen, erscheint Jupiter im Hintergrund... Ah, Platée, prends garde à toi...

 

Ein offener Schluss, aber geschlossene Begeisterung für einen anregenden, szenisch nicht immer ganz schlüssigen, aber musikalisch äußerst inspirierten Abend.



Szenenbilder: © OHZ – Toni Suter


12. 12. 2023.

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