Was für ein Einfall: Als Protagonisten, geradezu als Hauptakteur, einen Vorhang einzusetzen! Natürlich nicht irgendeinen Vorhang, nein, ein purpurfarbener Theatervorhang mit goldener Bordüre, mit Fransen und Quasten muss es schon sein, riesengroß und dabei doch luftig-leicht, schwebend, tanzend, sich drehend, sich hebend und senkend... Falten, um sich zu verstecken. Oder theatralisch aufzutreten. Fülle, um sich einzuhüllen wie in einen Königsmantel. Oder einzukuscheln wie in eine Bettdecke. Lichtstränge und Schattenwürfe, hell und dunkel, wie zwischen den Stämmen eines Walds, eines Zauberwalds... Oder eines Zaubertheaters? Auf jeden Fall: magisch!
Für die diesjährige Produktion des Internationalen Opernstudios Zürich (IOS), die traditionell im Theater Winterthur stattfindet, haben der Bühnenbildner David Hohmann und der Lichtgestalter Hans-Rudolf Kunz diese suggestive Szenerie geschaffen: ein Vorhang und sonst ... gar nichts. Doch dank – oder trotz? – dieser minimalistischen, auf ein einziges Objekt reduzierten Ausstattung haben sie einen Ort entstehen lassen, wo Heiteres und Bedrohliches, Ernst und Spiel gleichermaßen präsent sind. Wo Elfenspuk und Liebeshändel und all die mirakulösen Dinge zwischen den Welten ihr zaubrisch’ Wirken entfalten und unsere Vorstellungskraft beflügeln – ganz so, wie es William Shakespeare bereits um 1595 in seiner unsterblichen Komödie «A Midsummer Night’s Dream» auf einer ebenfalls leeren Bühne faszinierend und einmalig angelegt hat.
Kein Wunder war der «Mitt-Sommernachtstraum» – die deutsche Übertragung verzichtet bedauerlicherweise auf die im englischen Original explizite Anspielung auf Johannisnacht und Sommersonnenwende mit ihrem archaischen Brauchtum und der (Liebes-)Tollheit der Weißen Nächte – schon früh Ausgangspunkt diverser musikalischer Ausgestaltungen. Ein Katalog mit Shakespeare-Musiken listet an die 1700 Kompositionen vom Lied über Orchesterwerke bis hin zur Oper auf. Eine der frühesten darunter ist Henry Purcells Masque «The Fairy Queen» (1692). Bezeichnend auch, dass in der Romantik das Interesse am nächtlichen Tandaradei wieder anstieg, nicht zuletzt dank der Schlegel-Tieckschen Übersetzung, die eine Renaissance des Elisabethaners auf dem Kontinent einleitete. Die wohl bekannteste Vertonung ist Felix Mendelssohns Ouvertüre, entstanden 1826, just unter dem Eindruck der Shakespeare-Lektüre des 17-jährigen Komponisten. Später schrieb er dann weitere Zwischenaktmusiken, Chöre und Lieder für eine Berliner Aufführung des «Sommernachtstraums» in der Regie von Ludwig Tieck (1843). Carl Maria von Webers romantische Zauberoper «Oberon», 1826 in London uraufgeführt, dagegen basiert nur ansatzweise auf Shakespeares Play. Ebenso Michael Tippetts «A Midsummer Night’s Marriage» (1955).
«O kiss me through the hole of this vile wall!»
Rund 350 Jahre nach Shakespeare nimmt sich erneut ein Engländer des Stoffs an: Benjamin Britten (1913–1976). Seine Oper entstand in nur sieben Monaten. Und schon im Juni 1960, wenige Wochen nach ihrer Vollendung, konnte sie anlässlich der Eröffnung der Jubilee Hall beim Festival Aldeburgh/Suffolk, in der Nähe des Wohnsitzes seiner Gründer, Britten und dessen Lebenspartner Peter Pears, erstmals in Szene gehen (N.B.: Das Festival feiert heuer sein 75-jähriges Bestehen).
Das Libretto hatte Britten zusammen mit Pears verfasst, der auch die Tenorpartie des Blasebalgflickers Flute sang. Die beiden hielten sich dabei «gewissenhaft», wie Britten in seiner Vorrede betont, inhaltlich wie textlich an Shakespeares Vorlage, kürzten diese allerdings von fünf auf drei Akte. Nur gerade sechs zusätzlich eigene Wörter hätten sie dem liebeskranken Lysander an die Adresse von Hermia über deren Vater in den Mund gelegt: «...compelling thee to marry with Demetrius», und dies auch nur aus Verständnisgründen, da die Oper erst mit dem zweiten Akt beginnt, mit der Szene im Wald von Athen.
Damit ist es höchste Zeit, sich den Plot kurz in Erinnerung zu rufen.
Kollektive Ängste, kollektive Träume
Ehekrach bei Oberon, dem Elfenkönig, und seiner Gattin Tytania; man zankt sich um einen Knaben. Deshalb schickt Oberon seinen Adlatus Puck aus, jenes wundersame Kraut herbeizuschaffen, dessen Saft einem Schlafenden ins Auge geträufelt, diesen unfehlbar in jene Kreatur verliebt macht, die er als Erste beim Aufwachen erblickt. So will er Tytania demütigen. – Da im Wald, dem klassischen Topos des Zwielichts, des Zweifels und der Verwirrung (Dantes «selva oscura»), auch zwei junge Paare herumstreifen, ist das Chaos unausweichlich: Lysander und Hermia auf der Flucht vor dem väterlichen Heiratsverbot; Demetrius auf der Suche nach der einst ihm versprochenen Braut Hermia; Helena in unerfüllter Liebe zu Demetrius, der sie schnöde von sich weist.
Eine nicht ganz konfliktfreie Konstellation! Sie eskaliert, als Puck der Wunderblume Saft den Jungs verabreicht, die sich beim Aufwachen beide in die bislang verschmähte Helena vergaffen, während Hermia leer ausgeht. Zoff an allen Fronten und übers Kreuz. Auch bei Tytania tut der Saft Wirkung. Sie verliebt sich beim Erwachen in den Weber Nick Bottom und schenkt ihm eine betörende Liebesnacht – nur hat ihm der freche Puck aus frevler Lust am frivolen Spiel flugs einen Eselskopf aufgesetzt. Dabei wollte Bottom doch nur mit seinen fünf Kumpels in einer Waldlichtung ein Theaterstück einstudieren, um es anlässlich der bevorstehenden Heirat des Athener Fürsten Theseus mit der Amazonenkönigin Hippolyta aufzuführen.
Der dritte Akt schließlich erlöst alle aus ihren amourösen Albträumen, die Paare versöhnen sich, die irdischen wie die elfischen, die Handwerker dürfen ihr Spiel vortragen, und Puck hatte seinen grausamen Spaß...
Über die Deutung des zwielichtigen Spiels ist schon viel Gescheites aus tiefenpsychologischer, soziologischer, politischer, historischer Sicht geschrieben und gedeutelt worden. Die kluge Regie von Rainer Holzapfel kennt das gewiss alles. Nur drückt sie’s uns nicht aufs Auge! Sie gibt dem Spiel Raum im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Sie erzählt, und sie bekundet damit dem Werk in all seinen Facetten bis hin zum Theater im Theater respektvolle, aber keinesfalls unzimperliche Reverenz. Und vor allem hat sie die Musik genau ausgehorcht.
Britten hat nämlich eine facettenreiche, farbige Partitur komponiert, die sich durch stilistische Vielfalt auszeichnet – der exzellente Dirigent Duncan Ward spricht sogar von einem Mischmasch, das sich zu einem schlüssigen Ganzen verbindet und im Rüppeltheater gar einen Abstecher in die romantische Oper des 19. Jahrhunderts wagt. Deutlich differenziert der Komponist die einzelnen Sphären. So erklingen im Feenreich aparte hohe Klänge, geprägt von Celesta, Harfe und Xylophon, wie sie uns bereits zu Beginn geradezu manipulativ in eine geheimnisvoll-irrationale Welt entrücken. Den jungen Paaren sind Streicher und delikate Holzbläser zugeordnet, den Handwerkern die tiefen Holzblasinstrumente und das Blech, vorab in tiefen Lagen und in kompaktem Satz. Das Musikkollegium Winterthur kostet diesen Reichtum mit Klangsinnlichkeit und geschärfter Akzentuierung aus und lässt nichts an atmosphärischer Leichtigkeit und theatraler Dramatik fehlen.
Dem entspricht das Geschehen auf der Bühne, getragen von einem glänzenden, spielfreudigen Ensemble: Frische, unverbrauchte Theatertalente, zu denen Gottfried Breitfuss als gestandener Schauspieler in der Sprechrolle des Puck einen pikanten Kontrast setzt, ein mit allen Wassern dieser Welt gewaschener Malefiz, der trotz kolossalem rosa Wanst mit Hängebrüsten, Schweinsöhrchen und mickrigem Pimmelchen behände seiner Mission nachkommt und sie ebenso nonchalant vermasselt oder eigenmächtig auslegt.
Seines wie alle anderen Kostüme hat Lisa Brzonkalla kreiert. Die Irdischen tragen heutiges Outfit, das Feenreich besticht mit glitzernder Extravaganz. Da ist Yewon Han als Fairy Queen Tytania, deren makellose Koloraturen im Einklang zu ihrer barocken Fantasy-Robe gleißen und strahlen. Ihre Entourage – bei Britten eigentlich Knabenstimmen, hier die jungen Damen der SoprAlti – wuselt als Hostess, Sekretärin, Chauffeuse, Nurse, Zimmermädchen und alles, was frau halt so braucht, um die Diva herum, singt bezaubernd und ist sicherlich nicht so harmlos und elfenhaft, wie es scheint. Dem hat Jakub Foltak als Oberon mit ein wenig blassem Countertenor wenig entgegenzusetzen, zumal sein Nicht-Kostüm wenig Halt, aber umso mehr Blöße bietet: eine knallenge goldene Radlerhose, ein vergoldeter Body – für einen Elfenkönig schlicht etwas zu wenig.
Liebesknatsch, Eifersucht und Missverständnis charakterisieren die beiden jungen Paare, die direkt der «Bravo» entstiegen sein könnten. Die Sopranistin Indyana Schneider als Hermia und der Tenor Raúl Gutiérrez als Lysander, sie hippiemäßig unterwegs, er als Hipster im Oversize-Look, beschwören ihre (bedrohte) Liebe in schwelgerisch aufgeladenen Kantilenen. Bis es doch noch zum guten Ende kommt, durchleiden Helena und Demetrius juvenile Liebesqualen: Kostümmäßig etwas «braver», gefühlsmäßig umso turbulenter, verfügen beide über den nötigen stimmlichen Aplomb: Maria Stella Maurizi mit leuchtkräftigem Sopran, Gregory Feldmann mit kernig-virilem Bariton. Und wehe, wenn alle vier losgelassen: Da formieren sie sich zu einem aberwitzigen, stimmlich perfekt austarierten Zank-Quartett, einem der zahlreichen Höhepunkte des rund dreistündigen Abends.
Als Kerle, die unerschrocken zupacken – hier mutieren die Handwerker sinnigerweise zu einer Schar schwarzgekleideter Bühnenarbeiter –, agieren Jonas Jud, Christopher Willoughby, Maximilian Lawrie, Junoh Lee und Felix Gygli. Der unerschrockenste von allen scheint Samson Setu alias Nick Bottom, der selbst als tumber Esel ein cooler Hirsch bleibt – köstlich! Und wenn dann die sechs Macker zum Schluss die schröckliche Tragödie von Pyramus und Tisbe zum Besten geben, sind ihnen nicht nur die Lacher sicher. Das Theater darf in diesem Moment auch nochmals seine ganze Magie als Theater im Theater entfalten, indem – ein sublimer Einfall! – das Drama als parodistische Kulmination der soeben durchlittenen Liebeswirren in Form eines Puppenspiels (liebevoll choreografiert von Marius Kob) inszeniert wird. Urkomisch und gleichzeitig anrührend in seiner genuinen Einfalt.
Ende gut, alles... Nicht ganz. Zur allgemeinen Versöhnung setzt die Regie einen subtilen Kontrapunkt. Der Athener Herrscher Theseus (Amin Ahangaran) brezelt sich zwar mit Krawatte und Jackett fürs kommende Fest auf, nörgelt aber ständig an seiner Zukünftigen herum. Sie, Hippolyta (Dominika Stefanska), setzt sich zwar auch ein schickes Hütchen auf, schlüpft ins damenhaft hellblaue Deux-Pièces, greift aber immer wieder zum Flachmann im Handtäschchen... Was nicht verwundert, denn Theseus hat – so der Mythos – die schöne Amazonnenkönigin entführt und zwingt sie nun zur Ehe, aus der Sohn Hippolytos entspringen wird. Der wiederum weckt später als Jüngling die unstatthaften Begierden seiner Stiefmutter Phädra, Theseus’ zweiter Frau. Und das wiederum führt zum bekannten Drama... Doch das ist eine andere Geschichte. Und Oper!
Auf jeden Fall: Wir sind gewarnt, so heil, wie sie scheint, ist diese Welt nicht. Sie ist widersprüchlich, irrational, gefährlich... Aber ein paar heitere, lustvolle und äußerst unterhaltsame Sternstunden bietet sie allemal. Auf in den Athener Forst, auf nach Winterthur!
Szenenbilder: @ OHZ – Herwig Prammer
07.05.2024
Weitere Beiträge finden Sie hier.
Vielen herzlichen Dank für dieses RauchSzeichen. Es war die reine Freude, diese Rezension zu lesen: Was für eine Lust, wenn der Bericht über ein Kunstwerk selber eines ist... Chapeau! Leicht und beschwingt geschrieben, trotzdem tiefgründig und voller kluger Hinweise, die dem nicht so versierten Leser ohne schulmeisterliche Allüren helfen, seine Wissenslücken zu schliessen. Ich warte auf den nächsten Streich!
K. W.
Nach diesem Text hat man wirklich Lust, nach Winterthur zu fahren.
R. G.
Mit viel Freude und Genuss habe ich eben Dein Rauchszeichen über den Sommernachtstraum in Winthi gelesen. Herrlich!
E. D.
DANKE!!!!!! ganz sehr wunderbar, das macht richtig Lust wie lange nichts!
Herzlichen Dank für diese spannende Kritik!Wir pilgern nächste Woche nach Winterthur und freuen uns sehr!
R- B.