Für ihre erste, eigens für Zürich und in Koproduktion mit dem Joffrey Ballet Chicago geschaffene Choreografie hat sich Ballettdirektorin Cathy Marston wahrlich keine leichte Kost vorgenommen, handelt es sich doch bei der vertanzten Vorlage um Ian McEwans sprachgewaltigen, inhaltsschweren Roman «Atonement», zu Deutsch «Abbitte». Ein literarischer Meilenstein, der sich nicht allein durch die diversen Handlungsstränge auszeichnet, sondern auch durch die komplexe Erzählstruktur, die Fiktion und Realität, Wille, Wahrheit und Wahn raffiniert miteinander verschränkt.
Erschienen ist das Buch 2001. Und schon damals, bei ihrer ersten Lektüre, habe sie gespürt, sagt Marston, dass sich der emotionsgeladene Stoff zur Umsetzung als Ballett eignen würde. Vielleicht gerade, weil die Handlung – beginnend im heißen Sommer 1935 und endend 1999, also zu einem bedeutsamen Teil vor der dramatischen Folie des Zweiten Weltkriegs spielend – derart tiefenpsychologische Abgründe erschließt, die sich dem Sagen und Sprechen zu entziehen scheinen, während sie jedoch mittels Geste, Bewegung, sinnhafter Körperlichkeit schlüssig ausgedrückt werden können?
Zwei Jahrzehnte lang hat die Choreografin, die sich selbst als Storyteller, als Geschichtenerzählerin, versteht, das Projekt mit sich herumgetragen. Nach einer Verfilmung (2007) und einer Oper, die geplant, aber offenbar nie realisiert wurde, ist jetzt aus McEwans Meisterwerk ein gut zweistündiges Handlungsballett entstanden. Hierzu hat die britische Filmkomponistin Laura Rossi einen tonal orientierten und leicht zugänglichen Soundtrack für großes Orchester und Klavier (Marie-Ève Scarfone) geschaffen, der das Geschehen auf der Bühne atmosphärisch unterstützt, begleitet und verstärkt, mal schwärmerisch-kantabel, mal perkussiv-pointiert. Filmmusik im besten Sinn. Wir erleben also nicht nur eine Uraufführung auf der Bühne, sondern – die vielseitige Philharmonia Zürich unter dem Dirigat von Jonathan Lo – eine solche auch im Orchestergraben. Alles zusammen also durchaus ein Grund, dass der berühmte englische Autor, der offenbar dem Zürcher Realisationsteam vertrauensvoll freie Hand ließ, sich zum Schlussapplaus auf die Bühne bitten ließ und auch bei der anschließenden Premierenfeier dabei war.
Feier nach erfolgreicher Premiere: Im Zentrum: Ian McEwan (mit Krawatte), links: Michael Küster (Dramaturg), rechts: Cathy Marston – © Roswitha Gassmann
Tanzen statt Schreiben
Entgegen dem Plakat und dem Cover des Programmbuchs, die einen Bleistift zeigen und damit auf die literarischen Ambitionen der zu Beginn 13-jährigen Protagonistin und, später, auf ihren tatsächlichen Beruf als erfolgreiche Schriftstellerin in der Romanvorlage anspielen, macht Cathy Marston aus dem Mädchen eine Adeptin des Tanzes und des Balletts. Dadurch rückt sie die Figur noch näher an ihre eigene Person und ihr künstlerisches Schaffen heran.
So sehen wir denn Inna Bilash als Briony Tallis zuerst allein auf der leeren Bühne: ein fantasiebegabter, aber eigensinniger und altkluger Teenager. Mit eckigen, mitunter beinahe ruppigen Bewegungen oder trippelnden Schritten auf Spitze durchmisst die Tänzerin den Raum. Immer wieder formt sie mit den angewinkelten Armen vorm Gesicht eine Art Rahmen, wie um sich einen begrenzten Ausschnitt der Welt – der Welt, wie sie sie begreift und sehen will – zurechtzuschneidern oder einzugrenzen. «Briony gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf beharren, dass die Welt genau so und nicht anders zu sein hat», lesen wir bei McEwan. Nur ein Detail, aber ein bezeichnendes, das zeigt, wie präzis die Choreografin Marston Charakter, Befindlichkeit und jeweilige Situation erfasst und mit welch akribischer Sorgfalt sie diese in ein schlüssiges Bewegungsvokabular übersetzt.
Doch nun bevölkert sich der leere Schauplatz allmählich. Übrigens: Eingefasst wird er von einem klassischen Rundpanorama in Gestalt eines gigantischen Vorhangs, der wie die Trompe-l’œil-Tapeten in alten Herrschaftshäusern eine idyllische typisch englische Landschaft zeigt: ein weiter Horizont über einem von Bosketten kupierten Gelände, im Vordergrund eine Schafherde, seitlich eine Palladian-Bridge, im Zentrum ein herrschaftlicher Landsitz à la Brideshead. Mit dem Fortschreiten der Handlung und der wachsenden dramatischen Zuspitzung wird sich die Szenerie verdüstern, in einzelne Streifen segmentieren und schließlich zu dräuender Konturlosigkeit verschwimmen, bisweilen durch einen Gazeschleier ergänzt. Geschaffen hat das in seiner Reduktion überzeugende Bühnenbild Michael Levine, effektvoll ins Licht gesetzt hat es Martin Gebhardt. Passend dazu auch die eher unauffälligen, aber stimmigen Kostüme von Bregje van Balen.
Die drei Tallis-Geschwister: Leon, Cecilia, Briony
Hier, in dieser vorläufig «heilen» Welt wohnt die junge Möchtegern-Schriftstellerin – bzw. jetzt eben frühreife Choreografin – zusammen mit ihren um einiges älteren Geschwistern Cecilia (ausdruckstark dargestellt von Max Richter) und Leon (ein energiegeladener Chandler Dalton) sowie ihrer Mutter Emily; Vater Tallis ist abwesend in London, ob in geschäftlichen oder amourösen Affären, blendet die chronisch von Migräne geplagte Hausherrin geflissentlich aus (Mélanie Borel verleiht ihr eine fragile Eleganz). Weil ihre Eltern gerade in Scheidung stecken, erscheint bald auch die etwa 15-jährige Kusine Lola (die elfenhafte McKhayla Pettingill) mit ihren Zwillingsbrüdern Jackson und Pierrot, zwei schwer zu bändigenden neunjährigen Rangen. Paul Marshal (Charles-Louis Yoshiyama zeichnet den stutzerhaften Freund von Leon mit seifigem Gehabe), sowie das Kindermädchen Betty, die Haushälterin Mrs. Turner und der Gehilfe Hartman ergänzen den intimen familiären Kosmos. Und dann ist da noch Robbie Turner, ein attraktiver junger Mann, Sohn der Haushälterin und von der Tallis-Familie wie ein eigener Spross behandelt und gefördert (Brandon Lawrence verbindet virilen Appeal mit geschmeidiger Agilität). In backfischhaftem Überschwang schmachtet Briony für den bildungshungrigen, belesenen Robbie. Seine mehr als freundschaftlichen Gefühle gelten jedoch Cecilia. Die Choreografie nutzt diese unterschiedlichen Gefühlslagen der drei für ebenso unterschiedliche Körpersprachen: So gleicht der Tanz zwischen Robbie und Briony eher einem neckischen, wirbligen Kopfüber-Kopfunter-Spiel. In Robbies Pas de deux mit der anmutigen wie dezidierten Cecilia dagegen knistert die Erotik spürbar – Verschränkungen der Gliedmaßen, exaltierte Hebefiguren, harmonisches Biegen und Schmiegen der Körper, elastische Gleit- und Schleifschritte…
Selektives Wahrnehmen, selektives Ausblenden
Damit ist das Personal komplett, das Spiel kann beginnen. Buchstäblich – denn Briony hat zur Erheiterung der Gesellschaft ein sentimentales Stück geschrieben – «Arabella by Briony Tallis», verkündet eine Schiefertafel ziemlich großspurig – und will es jetzt mit ihren Gespielen aufführen, Das aber scheitert an der Renitenz der beiden köstlichen Rotzbengel und der Rivalität der Kusine Lola. Zudem überrascht Briony Cecilia und Robbie in der Bibliothek beim noch etwas unbeholfenen Sex, was sie aufwühlt und irritiert und auch prompt missdeutet. Als sie später der großen Schwester einen Liebesbrief Robbies mit leicht obszönem Inhalt überbringen soll (den sie natürlich zuvor selbst liest und nicht versteht), setzt sich in ihrem Kopfe der Gedanke fest, dass er, Robbie, auch jener Unhold sein muss, der sich den Tumult einer nächtlichen Suchaktion – die Zwillinge sind plötzlich verschwunden – zunutze macht und Lola im Park vergewaltigt. Im Überschwang ihrer pubertären Gefühle – Eifersucht, überhitzte Fantasie, erwachende Sexualität, kindische Selbstgefälligkeit – bezichtigt Briony wider besseres Wissen Robbie der Tat, obwohl sie den Vergewaltiger gar nicht erkennen konnte.
Robbie wird verhaftet und eingelocht. Damit endet der erste Teil.
Der zweite, düstere Teil gehört zur Hauptsache dem Corps de ballet. Gefängnishof, Exerzierplatz, Schlachtfeld, Schützengraben, Lazarett, aber auch Ballettsaal und Londons Strassen sind die Schauplätze. Wir sehen Robbie im Knast. Erleben, wie er die Sträflingsklamotten gegen die soldatische Uniform tauscht. Sind Zeugen, wie sich Frauen anlässlich der Mobilmachung von ihren Männern, Brüdern, Söhnen verabschieden. Denn inzwischen tobt der Zweite Weltkrieg – vom Himmel fällt roter Schnee... Im Rahmen des Westfeldzugs rücken die Deutschen gegen den Atlantik vor; Robbie ist mit den britischen Truppen im französischen Dunkerque stationiert, wo er unter dem Geschützhagel die Hoffnung auf die rettende Evakuation und das Wiedersehen mit Cecilia, die ihm in Fieberträumen erscheint, nicht aufgibt. Sie hat sich zur Krankenschwester ausbilden lassen. Auch Briony, im kläglichen Versuch, das schreckliche Unrecht zu sühnen, das sie durch ihre Aussage verursacht hatte, tritt in den Spitaldienst ein.
Wie in McEwans Roman laufen nun mehrere Handlungsstränge parallel: Die zynische Gleichzeitigkeit der Geschichte, welche die Choreografie in einem spannenden, doch zugleich zwiespältigen, zumindest problematischen Nebeneinander zusammenfügt. Unbestritten dagegen ist die grandiose, hochpräzise tänzerische Leistung – sei es beim fulminanten soldatischen Drill, sei es beim Tanz der adrett uniformierten Pflegerinnen, welche Krankenbetten mit der gleichen emsigen Akkuratesse herumschieben, wie sie mit Bettlaken ein hinreißendes Gewoge in Weiß veranstalten. Spielerische Kontrapunkte in dunklen Zeiten mit Rücksicht auf das Publikum, dem man die grässlichen Szenen im Buch vielleicht ersparen wollte – nachvollziehbar, gewiss. Und doch irgendwie befremdlich. Umso mehr, als auch dazwischen geschaltete Ballettproben an der Stange unter Brionys Leitung stattfinden.
Einmal tauchen sogar Lola und Paul Marshall auf, mittlerweile ein arriviertes Paar, das sich als Kunstmäzene hervortut – und sich offenbar mit der folgenschweren Lebenslüge bestens arrangiert hat. Briony muss erkennen, dass es Paul war, der Lola in jener Nacht missbraucht hatte. Ihr Versuch, mit Cecilia und Robbie in Kontakt zu treten, führt jedoch ins Leere; die beiden weisen sie ab… Oder vielleicht hat sie es nur halbherzig versucht? Vielleicht nur in ihrer Vorstellung? … Damit könnte das Stück eigentlich enden.
Ungesühnte Schuld
Tatsächlich senkt sich der Vorhang, der Applaus brandet hoch, langsam, wie aus einem Albtraum erwachend verbeugen sich Tänzerinnen und Tänzer. Doch das Orchester setzt nochmals an, flirrend und sirrend, als ob man nach dem richtigen, dem wahren Klang suchte. Analog zum Epilog im Buch mischt sich jetzt eine betagte Dame in Schwarz unter die Tanzenden. Im Roman wird die alte, leicht demente Frau zu ihrem 77. Geburtstag auf den alten Familiensitz eingeladen, der längst ein schickes Golf-Hotel ist. Auf der Theaterbühne dagegen findet eine Feier zur Uraufführung des Balletts «Atonement» statt, choreografiert von … Briony Tallis. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. Aus dem Off erklingt die Stimme eines Interviewers, der die Künstlerin, ebenfalls eine Stimme aus dem Off, zu ihrem jüngsten Werk befragt, und man erfährt, dass Cecilia und Robbie einander nie wieder sahen. Er starb in Dünkirchen an einer Blutvergiftung, sie war eines der 66 Opfer, die beim Bombenangriff vom 14. Oktober 1940 in einer Londoner U-Bahn-Station umkamen.
Wäre es ehrlicher gewesen, dieses tragische Ende zu erzählen? Oder ist es verdienstvoller, den beiden Liebenden das Glück, das ihnen das echte Leben vorenthielt, in der Kunst, im Roman, im Ballett, in der Vorstellung zu schenken? Doch genügt das wirklich als Sühne, als Tilgung, Wiedergutmachung? …
Solche existentiellen Fragen, auf die es keine Antwort geben kann, werden im Interview angesprochen. Untermalt von etwas zu dominanter Musik, ist der kluge Text von Edward Kemp (ins Deutsche übersetzt von Dramaturg Michael Küster) stellenweise nur schwer zu verstehen. Auch ist er etwas zu weitschweifig, zu didaktisch. – Trotz einiger Vorbehalte: Ein interessanter Abend. Und ein berührender, versöhnlicher Schluss.
P. S. Der Ballettbesuch regt zur Lektüre des außerordentlichen Romans an (erschienen bei Diogenes). Oder noch besser: Man liest ihn im voraus zum besseren Verständnis.
Zweitbesetzung mit Max Cauthorn (Robbie), Dores André (Cecilia) und Giorgia Giani (Briony)
Szenenbilder: © OHZ – Admill Kuyler
01.05.2024
Ein herzliches Dankeschön für deinen Beitrag zu Atonement/Abbitte.
Ich habe das Buch von Ian McEwans verschlungen und die Verfilmung mit Keira Knightley hat mich ebenfalls in ihren Bann gezogen.
Kann man diesen grossartigen Text vertanzen?
Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass man alles mit Bewegung ausdrücken kann.
Zweifellos ein mutiges Unterfangen, aber zum Glück ist Kunst an sich schon mutig.
Das Wort Abbitte hat mich stets beschäftigt. Da die Schuld hier so unerhört gross wiegt, genügt natürlich verzeihen nicht. Und selbst wenn die Opfer vergeben, so bleibt die Frage:
kann ich mir selbst vergeben? – Eine abschliessende Antwort habe ich noch nicht..
A. W..
Ich lese gerade mit Interesse Deine Rezension zu Atonement und freue mich schon sehr auf die Aufführung, die wir am 14. Mai sehen werden.
U. S.
Vielen herzlichen Dank für Deinen Text zu Atonement. Da ich leider das Buch nicht gelesen habe, war für mich einiges nach der Aufführung unklar, welches Du jezt sehr gut erklärt hast. Auch nach der Lektüre vom MAG blieb vieles unklar. Danke. dass Du das jetzt geklärt hast.
B. L.