top of page

Das Leben, eine Kutschenfahrt

Kutsche, Kalesche, Karosse, Droschke... Man könnte fast eine kulturgeschichtliche Abhandlung über die Fuhrwerke schreiben, die durch Barrie Koskys aktuelle Inszenierung von Giacomo Puccinis «Manon Lescaut» über die Bühne des Zürcher Opernhauses zuckeln. Gezogen werden sie von je zwei (fast echten) Rappen oder zwei Füchsen – ein handwerklich-kreatives Meisterstück des auf Tierskulpturen und Masken spezialisierten Jan Vágner; eine physische Spitzenleistung für die Pferde-Statisten, die ihre Funktion trabend und scharrend wahrnehmen. Die diversen Fahrzeuge scheinen die Amplitude des Schicksals von Manon, der schillernden Titelheldin, zu widerspiegeln. Und dass auf dem Kutschbock jeweils ein grinsender Sensemann die Zügel lenkt, ist gewiss kein gutes Omen...

Fast ein Roadmovie

Den Anfang macht der öV-taugliche postalische Omnibus, eine sogenannte Diligence, die, aus Arras kommend, gegen Abend beim Gasthaus in Amiens eintrifft. Unter den Passagieren ist auch ein bürgerliches Geschwisterpaar, die 18-jährige Manon Lescaut und ihr um weniges älterer Bruder, der sie gemäß väterlichem Befehl ins Kloster bringen soll. Hier begegnet ihr der naive Student (Renato) Des Grieux, der sich stracks in sie verliebt. 

Unter den Fahrgästen ist auch der alte, reiche Geronte, der ebenfalls ein Auge auf die hübsche Frau geworfen hat und sie noch in selbiger Nacht zu entführen gedenkt. Das Vehikel hierzu hat er bereits beim Gastwirt geordert: ein schickes schwarzes Coupé, wie geschaffen für eine amouröse Eskapade à deux. Nur ist es Des Grieux, der, inzwischen über den Plan informiert und von seinen Kommilitonen sekundiert, anstelle des gelackmeierten Greises mit Manon im eleganten Zweispänner nach Paris durchbrennt.

Nächstes Schickalsgefährt ist eine pompöse güldene Staatskarosse, ausgestattet mit Kronleuchter, weichem Pfühl, Draperien und sogar einem in der Höhe verstellbaren Dach – ein veritables Boudoir auf vier Rädern (den Werkstätten ein besonders Lob!). Doch für Manon, inzwischen Gerontes Mätresse, ist’s zum goldenen Käfig geworden, dessen Luxus und Reichtum ihr einst attraktiver schienen als das bescheidene Leben an der Seite eines mittellosen Studenten. Als dieser unerwartet auftritt, flammt jedoch die alte Liebe wieder auf; erneut ist Flucht angesagt. Hektisch rafft Manon Schmuck und Geld zusammen und – wird in flagranti von Geronte überrascht, der sie sogleich verhaften lässt.

Die Fahrt geht weiter und – im übertragenen Sinn – ziemlich rapide abwärts. In einer vergitterten Schinderkarre wird Manon zusammen mit anderen «gefallenen Mädchen», die in weiteren Käfigen von allen Seiten herbeigeschafft werden, nach Le Havre gebracht, von wo die Deportierten in die Neue Welt abgeschoben werden. Des Grieux schafft es, als Schiffsjunge mitfahren zu dürfen.

 

In Amerika finden wir die zu Tode erschöpften Liebenden erneut auf der Flucht in einer Einöde bei New Orleans, einen lottrigen Zweirad-Karren hinter sich herschleppend.


Gewiss, etwas arg viel «Rollmaterial». Und – vor allem im letzten Akt – verzichtbar, doch die Regie zieht das symbolhafte Defilee der unterschiedlichen Kutschen konsequent durch. Ergänzend dazu hat Bühnenbildner Rufus Didwiszus einen komplett leeren Einheitsraum erdacht, auf dessen dunkel grundierter Rückwand Spuren von Landschaftsmalereien aus vergangener Zeit zu erahnen sind.

James Ensor: «The Intrigue», 1890 (© wikimedia commons)

 

Exaltierte Lebendigkeit und alles andere als harmlose Lustigkeit vermittelt dagegen der Chor, der direkt aus den verstörend-faszinierenden Gemälden von James Ensor herausgestiegen zu sein scheint. Wie häufig im Werk des belgischen Malers (und Zeitgenossen Puccinis) stehen fratzenhafte Masken als Metaphern für die verdeckte Monstrosität einer maroden, intriganten, bigotten und hypokritischen Gesellschaft. Dem entsprechend hat Klaus Bruns den grotesken Mummenschanz in ein wildes Gewoge von Farben und Stilen gekleidet und ihm für den ersten Auftritt in Amiens, angeführt von Edmondo (agil und alert: Daniel Norman), zusätzlich allerlei Instrumente mitgegeben: ein diabolisches Karnevalsorchester. Als Studenten, Gaffer, Lakaien, Hofschranzen und Bürger kommentiert und begutachtet die maskierte Schar die einzelnen Szenen und wippt dazu – mitunter zwar etwas wacklig – im Takt. Überhaupt scheint man sich bezüglich Regiearbeit mit dem Chor eher auf die effektvolle Optik verlassen zu haben denn auf sorgfältigen Detailschliff.

Die Vorlage des Romans «Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut» des Abbé Prévost, erschienen 1731, hat viele Komponisten (Männer!) des 19. Jahrhunderts inspiriert: Halévy schuf daraus ein Ballett (1830). Auber (1856) und Massenet (1884) machten die fatale Liebe zwischen Manon und Des Grieux zum Thema ihrer Opern, nutzten die Vorlage aber ebenso, um in opulenten Szenen ein Sittengemälde des tändelnden Rokokos und der gefährlich-attraktiven Pariser Demi-Monde darzustellen. 1952 nahm sich Hans Werner Henze in «Boulevard Solitude» mit großer Freiheit des Stoffs an.

So ist es nicht verwunderlich, dass der 31-jährige Puccini mit seinem Faible für außergewöhnliche Frauengestalten sich 1889 ebenfalls spontan für diese Figur begeistert, die dem Klischee der femme fragile nur oberflächlich entspricht, und sie ins Zentrum seiner dritten Oper stellt. Die Spanne bis zur erfolgreichen Uraufführung 1893 in Turin, Puccinis erstem weltweitem Erfolg, ist allerdings von beachtlichen Widrigkeiten geprägt: familiären, finanziellen, arbeitsmäßigen. Beispielweise sind schlussendlich sieben Librettisten, darunter bekannte Namen wie Ruggero Leoncavallo und Luigi Illica, aber auch Puccini selbst am Libretto beteiligt. Denkbar, dass die disruptive Struktur der «Manon» mit dieser multiplen Autorenschaft zusammenhängt. Statt eines kontinuierlichen Verlaufs fokussiert die Oper auf einzelne dramaturgisch besonders wirkungsvolle Stationen – etwa die Verschiffung der wimmernden Frauen oder den Tod in der Einsamkeit. Anderes, Dazwischenliegendes wird weggelassen – etwa die pitoyable Mansardenromantik Manon-Des Grieux oder die Geschehnisse bei der Ankunft in der neuen Welt. Die Handlung wird radikal auf das Wesentliche beschränkt, sodass die Musik ihre soghafte Wirkung unmittelbar entfalten kann. Diese abrupte Schnitttechnik mutet sehr modern, geradezu filmisch an. Prägend war auch die intensive Beschäftigung mit Wagner – Puccini war im Auftrag von Ricordi gleichzeitig auch mit Kürzungen (!) von Wagners «Meistersingern» für das italienische Publikum beschäftigt.

Szenische und musikalische Leidenschaft

Die knallige, im zweiten und vor allem im letzten Teil gemäßigtere Optik der aktuellen Inszenierung entspricht der musikalischen Faktur des Werks. Vor allem unterstreicht sie den Regieansatz Koskys, der, wie auch der Komponist, unverhohlen auf der Seite der trotz all ihren Schwächen und Kapricen erbarmungswürdigen Frau steht, die ihren Anspruch an das Leben in einer patriarchalen Welt durchzusetzen versucht. Das führt bisweilen zu etwas heftigem, um nicht zu sagen brachialem Gehabe auf der Szene: Es wird geschubst, gegrabscht, geohrfeigt, Stühle werden umgestoßen, leer geschlürfte Austern furios vom Tisch gefegt, und wenn’s um Sex geht, ja, dann geht’s unmissverständlich um Sex... Leidenschaftlich, heftig, direkt!

Auch im Orchestergraben wird ein Feuer entfacht. «Brandstifter» ist Marco Armiliato, ein ausgewiesener Kenner Puccinis, auswendig dirigierend am Pult der wachen Philharmonia Zürich. Der Ausdruck der «brennenden Leidenschaft», hier wird er beim Wort genommen. Armiliato erweist sich als kongenialer Partner des Bühnengeschehens. Er befeuert Sänger und Instrumentalisten gleichermaßen, weiß aber – um im Bild zu bleiben – die lodernde Glut immer wieder klug einzudämmen und kleine solistische und kammermusikalische Flämmchen effektvoll und delikat züngeln zu lassen, so etwa im berührenden Intermezzo, dessen intimer Dialog zwischen Cello und Viola das bittere Ende vorausahnen lässt.

 

Der Intensität aus dem Graben stehen die Protagonisten auf der Bühne – fast alle geben ein Rollendebüt – in nichts nach. Shavleg Armasi profiliert sich als altersgeiler Geronte, grauer Anzug, dicke Brillengläser, ganz staatlicher Beamter. Mit seinem charaktervollen geschmeidigen Bass wahrt er jedoch selbst in der Szene, da ihn Manon wie einen Tanzbären vorführt, eine gewisse Würde.


Neben den allesamt sorgfältig besetzten episodenhaften kleineren Partien lässt das mit irisierender Erotik vorgetragene Lied des Lampenanzünders aufhorchen, das im vielschichtigen Mit- und Gegeneinander des großartigen und gleichzeitig schrecklichen Deportations-Aktes wie aus einer anderen Welt herüberklingt (Tomislav Jukić).

Konstantin Shushakov, ein überaus wendiger Sänger-Schauspieler, macht aus dem Sergeanten Lescaut, Manons Bruder, trotz windigen Charakters, einen fast ein wenig sympathischen Schwerenöter, Kartenspieler und Trunkenbold. Zu darstellerischer Hochform läuft er auf, als er sich mit seiner Schwester zum Austernmahl trifft, genießerisch schmatzend und schlürfend und dabei ausgiebig dem Wodka zusprechend. Man wünschte ihm eine eigene Arie, zumindest ein Arioso. Sein klangschöner, eleganter Bariton hat aber leider bisweilen etwas Mühe, sich gegen den satten Orchesterklang durchzusetzen.

 

Dies dagegen gelingt Saimir Pirgu in der Rolle des rettungslos verliebten Des Grieux problemlos. Sein unangestrengter Tenor überzeugt mit stählernem Glanz und beeindruckender Intensität. Seine emotionale Authentizität ohne Larmoyanz und Druck, das genuine Strömen und die warme Leuchtkraft seiner Stimme lassen jegliche Kritik an der manchmal etwas zu pointierten Lautstärke als beckmesserisch erscheinen.

In Elena Stikhina hat er eine ebenbürtige Partnerin. Mit packender Natürlichkeit durchlebt sie den Zwiespalt zwischen den Verlockungen eines Lebens in Glanz und Luxus einerseits und, andererseits, der Erfüllung und Geborgenheit in einer echten Liebesbeziehung. Die Sängerin versteht es, mit ihrem makellosen, gerundeten Sopran vielschichtige Emotionen auszuloten: Bereits als junges Mädchen lässt sie den verhaltenen Widerstand gegen das ihr aufgezwungene Los erahnen und unterstreicht dies, indem sie die Puderquaste aus der Postkutsche fallen lässt, um den noch unbekannten Bewunderer anzulocken. Später, als kapriziöse, selbstbewusste Kokotte, mischt sich Sinnlichkeit und, ja, auch eine Spur Frivolität in ihre Stimme, wozu das leicht anrüchige Gehabe, der kecke Witz und die Gefallsucht bestens passen. Und schliesslich die Büßerin, deren Stimme fahl und peinvoll klingt – eine weitgespannte Gefühlsskala, glaubhaft und nuanciert. So wird denn ihre letzte schmerzvolle Arie – eher ein Todesmonolog! – zu einem Höhepunkt des Abends. Ganz zum Schluss, als Des Grieux nach vergeblicher Wassersuche zurückkehrt und sich neben die Sterbende legt, haucht sie mit erstickter Stimme: «Meine Sünden werden einst vergessen sein, aber meine Liebe wird nicht sterben...» – Dann zweimaliges letztes Crescendo und verklingendes Pianissimo.

 

Das ist Giacomo Puccini, wie er lebte, fühlte und komponierte: Leidenschaftlich, sentimental, pathetisch. Theatralisch und doch wahr… Die ergriffenen Zuschauer danken es ihm und allen Beteiligten mit großem Applaus.

Szenenfotos« © OHZ – Monika Rittershaus / Toni Suter


22.02.2025

Weitere Beiträge finden Sie hier.

Abonnieren Sie die «rauchszeichen» – gratis und franko und ohne jede Verpflichtung!

3 Comments


Guest
Feb 16

Toll! Ich habe mit Ihrem Text die Aufführung nochmals erlebt. Und ich werde nochmals hingehen, um alle die Details, die Sie beschreiben, mitzubekommen. Danke vielmals!

M. B.

Edited
Like

Guest
Feb 12

Vielen Dank, sehr schön beschrieben diese großartige Aufführung, das empfand ich alles genauso. Ein einziger Jubel an der Premiere, werde es mir sicher nochmals ansehen. Von solchen Aufführungen kann das Schauspiel in Zürich nur träumen. Hoffen wir auf die neue Intendanz.

Like
Guest
Feb 12
Replying to

Vielen Dank! Doch, doch, auch am Pfauen gibt’s einen Silberstreif an Horizont 😁

zum Beispiel:

https://www.rauchszeichen.ch/post/fluid-fairy-fantasy

Like

Ich freue mich über Ihr Feedback, Ihre Kritik oder Ihre Anregung!

 

Öffentlich oder privat – Sie haben die Wahl:

Auf der KONTAKTSEITE finden Sie ein entsprechendes Formular. Dort können Sie eine Mitteilung und/oder gegebenenfalls auch Ihr Interesse für eine jeweilige unverbindliche Benachrichtigung bei der Veröffentlichung eines neuen Beitrags anmelden. Ihre Nachricht wird dann  n i c h t  öffentlich zugänglich sein und nur von mir gelesen. 

Falls Sie eine allgemein zugängliche Bemerkung zu einem Blog-Beitrag machen möchten, finden Sie das hierzu bestimmte Feld KOMMENTARE, indem Sie beim betreffenden Beitrag ganz nach unten scrollen.

Diese Website wurde barrierefrei gestaltet.

HOME  |  INDEXMUSIK/THEATER  |  BÜCHER/CD  |  FILME  |  VARIA  |  PUBLIKATIONEN  |  KONTAKT  |  IMPRESSUM

bottom of page