Grüße aus den Sixties
- Bruno Rauch
- 13. Mai
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Mai
Der Titel des jüngsten Ballettabends im Rahmen der mittlerweile zweijährigen Ballettdirektion von Cathy Marston am Zürcher Opernhaus lautet «Countertime». Dieser Titel gibt zu rätseln, ebenso der optische Blickfang: ein Goldfisch! Den Ausdruck Countertime findet man in keinem Wörterbuch, selbst meine englischsprachigen Freunde ziehen die Augenbrauen hoch. Also eine «hauseigene» Kreation. Und inhaltlich, so scheint es, ist damit Verschiedenes gemeint.

Zunächst einfach: Zeit zählen – etwas, was für die Tänzer lebenswichtig ist, geradezu mit dem Atmen gleichzusetzen. In der Musik könnte es auch bedeuten: Wider das übliche Zeitmaß, gegen die Zählzeit, gegen den Rhythmus. Gemeint sein könnte sodann: Gegenzeit, gegen Zeitlauf und Zeitgeist, aus der Zeit gefallen, gegen die Konvention. Der Begriff beinhaltet also etwas, das von der Norm abweicht, etwas Regelwidriges, Widerborstiges, um nicht zu sagen Revolutionäres. Ein weites Spektrum tut sich da auf, trifft aber auf die eine oder andere Weise den Charakter der drei Choreografien, die sich mit dem Ausscheren im unterschiedlichsten Sinne befassen. Alle haben sie etwas mit den Roaring Sixties zu tun, sei es thematisch, örtlich oder bezüglich ihrer Entstehungszeit. Und sie fügen sich – einmal mehr bei Marston – zu einem sogenannten Triple Bill, einem dreiteiligen Abend.


Das Zentrum bildet die Übernahme beziehungsweise Neueinstudierung einer Arbeit, die Marston 2022 für das San Francisco Ballet kreiert hatte. Der Stoff ist gleich zwiefach im sonnigen Kalifornien verankert. Die literarische Vorlage, eine Novelle mit dem Titel «The Graduate» von Charles Webb, erschienen 1963, spielt in einer der Residential Areas am Rand von San Francisco. Auch der 1967 entstandene gleichnamige Film von Mike Nichols wird in den Studios der Traumfabriken von Hollywood gedreht, wo die Monumentalschinken allmählich einer neuen filmischen Ära weichen müssen – finanziell, gesellschaftlich und erst recht politisch. «Die Reifeprüfung», wie der Streifen auf Deutsch heißt, wird zum Kultfilm des Jahrzehnts, ein pointierter gesellschaftssatirischer Kommentar zu den bewegten 1960er-Jahren – Blumen im Haar, Fäuste in der Luft … und am Schlagstock.
Ein Buch, ein Film, ein Ballett
Der 21jährige College-Absolvent Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) kehrt nach Hause zurück; das Leben liegt vor ihm, aber er weiß nicht, was damit anfangen. Auf einer Willkommensparty wird er von Mrs. Robinson (Anne Bancroft), der Gattin des Geschäftspartners seines Vaters, unverfroren angemacht. Überfordert, geschmeichelt, erregt, gibt er den Avancen nach und beginnt eine sexuelle Affäre mit der gut zwanzig Jahre älteren Frau. Als sich Ben jedoch in Elaine, die Tochter der Robinsons (Katharine Ross) verliebt, ist der Skandal unausweichlich. Die makellose Oberfläche der feinen Gesellschaft bekommt Sprünge und Risse: Die Robinsons lassen sich scheiden. Zuvor aber verheiraten sie Elaine mit einem properen Medizinstudenten. Ben brettert in seinem roten Alfa Cabrio über die Highways nach Santa Barbara, wo er in einem fulminanten Showdown die Braut vom Altar weg entführt. Die beiden flüchten in einem Linienbus. Fort aus Establishment und Konvention. Aber wohin?

Coverbild für «The Graduate»: Dustin Hoffman bewundert Mrs. Robinsons sexy Bein – kleine Pointe: Es war nicht das von Anne Bancraft, sondern das eines unbekannten Models, ohne Angabe der Gründe
(© movieplot)
Cathy Marston bedient sich zwar dieser Vorlage(n), ihr Ansatzpunkt ist indes radikal anders. Sie erzählt die Geschichte nicht aus Bens Perspektive, sondern aus der Sicht der verletzten, frustrierten Frau, die weder im Buch noch im Film einen Vornamen hat, deren Identität sich allein über den Namen ihres Gatten definiert: «Mrs. Robinson». Sie steht im Zentrum der Handlung, und entsprechend setzt Marston den Namen als Titel über ihre Arbeit und gibt der Protagonistin sogar die Chance eines Neubeginns. Die Zürcher Ballettdirektorin folgt damit dem eingeschlagenen Weg, tradierten Frauenbildern in Literatur und Geschichte nachzuspüren – Clara Schumann, Jacqueline Du Pré, Lady Chatterly, die Marquise de Merteuil («Liaisons dangereuses») u. a. m. – und in die Psyche der Protagonistinnen einzutauchen.
Einmal mehr verrät die getanzte Version die versierte, oft geradezu akribische Geschichtenerzählerin, die sich bei aller bühnenbedingten Reduktion erstaunlich eng an die Vorlage hält, bis auf den Schluss. Statt des finalen «Brautraubs» bleibt Mrs. Robinson allein zurück, dreht eine paar verlorene Runden auf der Bühne und verlässt die Bühne durch ein weißes Gartentor in der akkurat getrimmten Buchshecke, die sich quer über die Spielfläche zieht – gleichsam einen sterilen Hortus conclusus des schönen Scheins eingrenzend: ein Huis clos, wo Gefühle und Konflikte nur unterschwellig ausgelebt, d. h. verdrängt werden – doch wehe, wenn sie an die Oberfläche geraten.

Tabubruch hinter grüner Hecke
Patrick Kinmonth, der auch die Kostüme entwarf und sich dafür an den 1960er-Jahren mit den schwingenden adretten Frauenkleidern inspirierte, hat hierzu ein stimmiges Bühnenbild geschaffen. Neben besagter Hecke schieben sich von links und rechts die Wohnsitze der beiden Familien in Gestalt architektonischer Gebäudestrukturen ins Bild. Mit großen Fensterflächen und Flachdächern suggerieren sie die Bungalows, die wir aus David Hockneys Gemälden kennen (Die Swimmingpools denkt man sich mit Leichtigkeit dazu!) Hier wäre vielleicht der erwähnte Goldfisch auf dem Plakat zu erwähnen: Elegant und stumm drehen die Damen der besseren Gesellschaft ihre Runden in den gläsernen Behältnissen – ohne Möglichkeit der Veränderung, so Marston in einem Interview. Auch im Film spielt das Aquarium als Metapher eine Rolle: Mit leerem Blick folgt Ben der ziellosen Bahn der Fische (hier sind’s Zebrafische, wenn ich mich richtig erinnere) im Aquarium, das in seinem Kinderzimmer steht. Und wenn er als Froschmann im Neoprenanzug der Spaßgesellschaft vorgeführt wird, blickt er durchs Glas seiner Taucherbrille auf die Gästeschar: ein Schwarm aufgetakelter, schrill bunter Exotenfische...

So ist diese Produktion mit vielen Anspielungen und Reminiszenzen gespickt, die den Zuschauer amüsieren (und mitunter auch etwas nostalgisch stimmen). Das Saxofon mit rauchig-erotischem und wollüstigem Klang scheint für die unerfüllte Libido von Frau Robinson zu stehen, der Sound der verstärkten Gitarre dagegen für die rebellische Jugendkultur. Gewünscht hätte man sich allerdings ein etwas konkreteres Zitat des legendären Songs von Simon & Garfunkel. Genau das jedoch vermeidet der eigens zum Ballett geschaffene Soundtrack tunlichst. Was, aufgrund der neuen Lesart, nachvollziehbar ist. Jedenfalls bemüht sich die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Robert Houssart redlich, Funken aus der weichgespülten, wenig eigenständigen, um nicht zu sagen uninspirierten Partitur von Terry Davies zu schlagen. Als Beispiel: Beim grandios getanzten Pas de deux der jungen Liebenden erschloss sich mir die vibrierende Mischung aus Zärtlichkeit, Scheu und Begehren, die sich zwischen Elaine und Ben aufbaut, musikalisch nur sehr bedingt – endlos triefende Akkorde von Celesta und Harfe über langweiligem. opakem Streicherteppich... Dringlicher und packender gelang dies dagegen dem Tanz.
Hübsch – musikalisch ebenso tiefschürfend wie ein Werbe-Jingle – ist die Chorus Line der Hausfrauen in reinlichen Schürzen und auf beschwingter Spitze. Ein konserviertes Lächeln im Gesicht, huldigt die emsige Phalanx mühe- und schwerelos der Perfektion häuslicher Pflichten zwischen Hoover und Tupperware. Nur ab und zu klappt die eine oder andere zusammen, geschafft von der stumpfsinnigen Plackerei. Oder vielleicht auch angesichts des verruchten Gebarens der Frau Nachbarin, die so unverhohlen ihren Lastern frönt: Zigaretten, Alkohol und weit Schlimmeres...


Gasttänzerin Yun-Su Park gibt eine geheimnisvoll-kühle Mrs. Robinson, deren unterdrückte Leidenschaft sich in hochpräzisen subtilen Gesten und dann wieder in überraschend zupackender erotischer Attacke äußert. Etwa, wenn sie mit charmanter Übergriffigkeit ihrem jungen Adonis ein Fusel vom Revers klaubt, ihm durchs Haar fährt. Wenn sie ihm anzüglich die Asche ihrer Kippe vor die Füße streut. Den begriffsstutzigen Jüngling mit schwarzbestrumpften Beinen – nein, eben nicht umarmt, sondern «umbeint». Oder ihm auch schon mal hemmungslos-neckisch zwischen den Schritt fährt. Sich von ihm den Reißverschluss ihres Kleids öffnen lässt. Lasziv mit ihrem Strumpfhalter kokettiert. Der hochdramatische Migräne-Gestus steht ihr ebenso zu Gebot wie das wendige Wegschlüpfen aus dem Klammergriff des besoffenen Ehemanns (Karen Azatyan), dessen Alkoholfahne man förmlich zu riechen glaubt. Das alles ist ebenso komisch-peinlich wie die entsprechenden Szenen im Film, und vielleicht sogar eine Spur erotischer, da abstrakter und dadurch die Fantasie raffiniert stimulierend.

Benjamin Braddock hat Sex mit der Mutter, Mrs. Robinson, liebt aber ihre Tochter Elaine
Lucas von Rensburg, Mitglied des Junior Balletts, tanzt und spielt den grünen Jungen mit umwerfender Frische und – anfänglich – gekonnt linkischem Gehabe, wenn er beispielweise kaum die Hand aus der Jackentasche bringt, um den Handschlag der gratulierenden Kumpels zu erwidern. Auch dass man ihn ob seines brillanten Abschlusses doch tatsächlich auf den Sockel stellt, ist ihm hochnotpeinlich, immer wieder streicht er sich mit vielsagender Geste über Gesicht und Haar, als würde er einen Alptraum abschütteln.
Aber dann, als er den ominösen Telefonanruf startet (alles pantomimisch dargestellt), um sich mit Mrs. Robinson im Hotel zu verabreden, ermannt er sich buchstäblich. Mit geschmeidiger Eleganz und kraftvoller Virilität kontert er ihre Anmache. In eindeutiger Pose schießt sein gestrecktes Bein steil in die Hohe, wenn Mrs. Robinson sich auf ihm räkelt und wiegt. Körper, die sich mit allen Gliedern verschlingen, verschmelzen, abstoßen, kopfüber, kopfunter – im Ballett bleibt selbst ein orgiastischer Liebestaumel ästhetisch!
Eine andere Attitüde zeigt der Tänzer im berückenden Pas de deux, wo ihm Nehanda Péguillan als graziöse Elaine eine ebenbürtige Partnerin ist. Die beiden verbinden tänzerische Souveränität mit emotionaler Ausdruckskraft, jugendlichen Charme mit profilierter Persönlichkeit.
Umrahmt wird das etwa stündige Handlungsballett von zwei völlig anders gearteten, abstrakten Choreografien, über deren gemeinsame Klammer man durchaus diskutieren kann.

Dmitri Schostakowitsch Terry Davies Leonard Bernstein
(1882–1971) (1918–1990)
Den Auftakt macht eine Arbeit von Kenneth MacMillan mit dem lapidaren Titel «Concerto» aus dem Jahre 1966. MacMillan (1929–1992) erlebte selbst eine «Billy-Elliot-Karriere» und wurde zu einem der bedeutenden Choreografen des 20. Jahrhunderts, was die gezeigte neoklassische Choreografie bestätigt: Bezwingend frisch, zeitlos und schwungvoll, von Patina oder gar Staub keine Spur, dafür mit stupender Technik. Die offene, völlig leere Bühne bietet eine immense Freifläche, die auch entsprechend genutzt wird, mal en grand jeté wie im Flug durchmessen, mal im raumgreifenden Pas de deux durchtanzt, mal in hochpräzisen Carréformationen oder abgezirkelten Pulks bespielt. Dazu passen die unspektakulären und doch absolut stimmigen Kostüme, Trikots für die Männer, kurze Trägerkleidchen für die Ballerinas, in Orange, Gelb und Braun (Jürgen Rose) und perfekt ausgeleuchtet von John B. Read.


Eine wesentliche Bedeutung kommt der Musik zu, die nicht nur als Komposition – darf ja auch mal sein – beglückt, auch ihre choreographische Umsetzung fasziniert in seltener Übereinstimmung von Klang, Raum und Aktion. Es handelt sich um Dmitri Schostakowitschs 2. Klavier-Konzert in F-Dur, ein lichtes, heiteres Werk, das ganz auf seinen Widmungsträger, den Sohn Maxim, zugeschnitten war und von diesem zum 19. Geburtstag uraufgeführt wurde (1957). Jetzt sitzt Kateryna Tereshchenko am Flügel und bleibt der vitalen Energie des Werks nichts schuldig. In den beiden Ecksätzen wird das Klavier sehr perkussiv eingesetzt, mitunter von der kleinen Trommel sekundiert; der 3. Satz überrascht zudem mit andauernd wechselnden Taktarten, darunter der verquere – eben Countertime! – 7/8-Takt, wogegen der Mittelsatz als träumerisches Andante daherschwebt, als wäre es eigens für einen elegischen Pas de deux komponiert worden.



Und nochmals ganz Anderes erwartet uns im dritten Teil mit dem Titel «Colorful Darkness», womit uns Bryan Arias in seine puerto-ricanische Heimat entführt. Es handelt sich um eine Uraufführung, aber durch die Wahl der Musik – Leonard Bernsteins «Sinfonische Tänze» aus «West Side Story» (1957) – ist der Bezug zu den Sixties einigermaßen gewahrt. Offenbar bestand seitens des Verlags die Vorgabe, der Thematik und dem Stil des berühmten Musicals etwas Konträres entgegenzusetzen. Arias fand die Lösung in den bunten, unheimlichen, zum Teil gehörnten Gestalten, die offenbar dem karibischen Karneval entsprungen sind. Die Choreografie zwingt sie in eine konstante Spiralbewegung, wo Individuum und tänzerische Finessen im allgemeinen turbulenten Wirbel aufgehen, was zusätzlich durch mysteriöse Schattenwürfe und gleißende Spots magisch überhöht wird. Allerdings ist auf der fast permanent dunklen Bühne kaum etwas zu erkennen; der Aufwand an Kostümen und Lichtinstallation rechtfertigt sich nicht.


Immerhin: ein farbenprächtiger, ausgelassener und auch ziemlich lauter Schlusspunkt eines – optisch, tänzerisch und musikalisch – vielseitigen Abends.



Szenenbilder: © OHZ – Carlos Quezada
12.05.2025
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Herzlichen Dank für die immer spannenden und informativen Beiträge zum kulturellen Geschehen in Zürich und auch anderswo. Ich lese diese sorgfältigen Berichte sehr gerne und mit grossem Interesse.
Grüsse aus Basel
Spannend vom ersten bis zum letzten Satz. Und - wie immer - ganz toll und feinsinnig formuliert. Gratuliere herzlichst!
M.
Vielen Dank wieder für die ausgezeichnete Rezension.
Ich habe gerade gebucht für einen Besuch mit meiner Enkelin.
Wie immer, so habe ich auch deinen neusten Beschrieb und Kommentar zum tänzerischen Geschehen im Operhaus gelesen und genossen. Ich bin immer wieder überwältigt, wie reich, detailliert, differenziert, mit Sinn für schönheit in tänzerischer Interpretation von Geschichte, Musik und Raum deine Rezensionen sind. Ich erlebe das Gesehene damit im Rückblick nochmals, aber mit viel mehr, besser: anderer Aufmerksamkeit. Ich lerne, staune, träume. Mit Deinem Kommentar zu Gershwins Musik/Ballett bin ich insofern nicht ganz einverstanden, weil ich das ganze Bühnengeschehen (trotz „gekonnt“ reduzierter Ausleuchtung) wirklich sehen und optisch, musikalisch wie emotional spüren und erleben durfte. Jedenfalls habe ich das Haus best gelaunt und beglückt verlassen.
P. Z.