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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Es war einmal... Der Titel des folgenden Textes entstammt einem Grimm-Märchen. Und tatsächlich besitzt der zweite Tag bzw. der dritte Teil von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» auffallend viele märchenhafte Züge. Die jüngste Produktion im Opernhaus Zürich trägt dem gebührend Rechnung.

Da schuften und scheffeln schurkische Zwerge in finsteren Höhlen. Da lauert ein grausiger Lindwurm, der sehrendes Feuer sprüht und giftigen Brodem speit. Ein prophetisches Vöglein flattert singsprechend durch den dunklen Tann. Nach bewährter Märchentradition gilt es, Rätselfragen zu lösen – wie üblich drei an der Zahl: «Drei der Fragen stell’ ich mir frei.» Da ruht auf hohem Stein Brünnhilde, die Maid, die nach langem Schlaf – zwar nicht von Rosendornen umrankt, sondern von Flammen umlodert – dem Kuss ihres Erweckers entgegenträumt. Und schliesslich darf auch ein tumb-heldischer Jungspund nicht fehlen, der auszieht, sich furchtlos die Welt zu erforschen: Hier ist’s allerdings kein Müllerbursche, kein Handwerker oder Königssohn. Sondern eine Art Kaspar Hauser, Wolfskind, Naturbursche. Ein Halbgott, Enkel des obersten Gottes Wotan, aber aufgewachsen fernab jeglicher Zivilisation in der Obhut des kleinwüchsigen «Fratzenschmieds» Mime. Siegfried, so heisst der «hehrste Held».

Wir erinnern uns: Hervorgegangen ist Siegfried aus der ehebrecherischen und inzestuösen Liebe des Zwillingspaars Siegmund und Sieglinde. Er, der Vater, fiel im Duell, weil Fricka, die göttliche Schützerin von Zucht und Ehe, es so forderte. Sie, die Mutter, starb bei der Geburt des Knaben. Der Schmied Mime, ein Zwerg aus dem Geschlecht der Nibelungen, hat das «zullende Kind» aufgezogen – allerdings nicht ganz uneigennützig – und auch die Überreste des Schwerts Nothung, das bei Siegmunds Tod in Brüche ging, aufbewahrt.


Ein Ritter ohne Furcht, aber noch nicht ganz ohne Tadel

Jetzt ist der Junge erwachsen, was nicht heisst verständig, geworden. Sein freier und unabhängiger Geist scheint ihn zu prädestinieren, die verderbte Welt, die nach Besitz und Macht giert, zu retten. Dazu schweißt er sich schon mal ein neues Schwert aus den Bruchstücken des alten zusammen. Im Testlauf köpft er damit locker die Zimmerpalme in einem Streich – wow! Später ersticht er den Drachen und gelangt so in den Besitz des Rings. Auch mit allen andern legt er sich an: Erst mit seinem Ziehvater Mime, den er nicht leiden kann. In mutwilligem Spiel hetzt er einen Bären auf ihn, weil der Zwerg nicht imstande war, ihm ein hieb- und stichfestes Schwert zu schmieden. Mit roher Gewalt presst er ihm das Geheimnis seiner, Siegfrieds, Herkunft ab. Als er auch noch gewahr wird, dass Mime ihn vergiften will, um an den Ring zu kommen, ersticht er ihn. Später, als er dem alten Wanderer begegnet, der ja sein (unerkannter) Großvater Wotan ist, benimmt er sich gegenüber diesem ebenfalls ausgesprochen rüpelhaft und zerbricht dessen Runenspeer, Symbol der vertraglichen alten Ordnung, die nun gebrochen ist und gleichzeitig den Weg zu einer neuen Welt eröffnet – eröffnen könnte...

Geleitet durch des Waldvogels Gesang – der Kontakt mit dem Drachenblut befähigt Siegfried, das Gezwitscher zu verstehen wie auch das Doppelspiel Mimes zu durchschauen – erklimmt er den Felsen der schlafenden Walküre. Erst die Erkenntnis, dass sich unter der Brünne, dem Hals- und Brustpanzer, eine Frau verbirgt, und die bislang nie gekannte Empfindung jagen ihm Furcht und Schrecken ein.


Als «helläugigen Knaben» und «rosigen Helden» bezeichnet ihn der Riesen-Drache Fafner, nachdem er von Siegfried den Todesstoß empfangen hat (eine Zuschreibung, die nach den rassistischen Auswüchsen peinlich berührt ebenso wie die latent antisemitische Karikatur des Mime!). Darüber hinaus ist der junge Anarchist S. auch ein ungehobelter Rabauke. Einer, der weder Maß noch Sitte kennt, weder Ordnung noch Gesetz. Bewusstsein, (Selbst-)Erkenntnis, Reflexion sind ihm fremd. Fremd auch die Furcht, was ihm zum Schicksal wird: Furchtlosigkeit befähigt zwar zu Heldentaten; Ungestüm, gepaart mit Einfalt und Gewissenlosigkeit aber führen letztlich zu seinem Tod, der sich im letzten Teil des «Rings» vollzieht. Die Welt ist um eine Utopie ärmer. Vielleicht kann eine Frau – Brünnhilde – dem Leben und Sterben hienieden einen Sinn verleihen... Doch wir greifen vor.

Bereits in den 1840er Jahren, damals noch in Dresden, hatte sich Wagner intensiv mit dem nordischen Sagenkreis befasst, der alt-isländischen «Edda» und dem mittelalterlichen «Nibelungenlied» (von dem übrigens eine Abschrift aus dem 13. Jahrhundert in der St. Galler Stiftsbibliothek liegt!). Ursprünglich galt sein Augenmerk der Gestalt Siegfrieds, dem germanischen Helden und «freien Menschen», der sich prometheisch gegen die etablierten Götter als Verkörperung bürgerlicher Werte wie Macht und Besitz auflehnt, um eine bessere, natürlichere Ordnung zu schaffen. Keimzelle der Tetralogie ist somit «Siegfrieds Tod», später als «Götterdämmerung» betitelt. Das mit Alliterationen gespickte Textbuch dazu hatte Wagner 1848 vollendet. Offenbar musste ihm aber schon früh klar geworden sein, dass die epische Materialfülle in einer einzigen Oper nicht zu fassen sein würde.


Minder heroisch als heiter

So hat er dem endzeitlichen Geschehen, dem mit mythologischem, psychologischem und soziologischem Wust überfrachteten Countdown eine Art erklärendes Vor-Spiel vorangestellt. Dieser Kunstgriff habe, so schreibt er bereits im Mai 1851 an den engen Freund, den musikalischen und politischen Weggenossen Theodor Uhlig, «den ungeheuren Vortheil, daß er den wichtigen Mythos dem publikum im spiel, wie einem kinde ein märchen, beibringt.[...] und kommt dann der ernste ‹Siegfried’s tod›, so weiß das publikum Alles, was dort vorausgesetzt oder eben nur angedeutet werden mußte […] um so mehr, als sich an meinem, bei weitem populäreren, dem bewußtsein durchaus näher liegenden, minder heroischem als heiteren, jugendlich menschlichen ‹jungen Siegfried› praktisch die Darsteller üben und vorbereiten, die gewaltigere Aufgabe von ‹Siegfrieds tod› zu lösen». [sic!]

Aufgrund dieser Überlegungen konzipierte Wagner die textlichen Vorlagen zu seinem Opus magnum vom Ende her: Siegfrieds Tod – (Jung)Siegfried – Walküre – Raub des Rheingolds. Die Komposition des «Siegfried», begonnen 1856, wurde ein Jahr später mitten im 2. Akt abgebrochen und nach mehreren Unterbrüchen erst 1871 fertiggestellt; in der langen Pause von acht bzw. zwölf Jahren wurden der «Tristan» und die «Meistersinger» vollendet.


Märchen-Spiel

Ebenso spannend wie die Entstehungsgeschichte ist, dass Wagner im zitierten Brief zwei bedeutsame Begriffe erwähnt: Spiel und Märchen! Hier setzen Andreas Homoki (Regie) und Christian Schmidt (Ausstattung) an. Sie folgen damit der nicht ganz zu Unrecht kolportierte Ansicht: Nämlich, dass «Siegfried», vergleicht man die Tetralogie mit einer viersätzigen Sinfonie, die Stelle des Scherzos einnehme. Das mag etwas sehr pointiert erscheinen, doch haften dem Stück neben den erwähnten märchenhaften ebenfalls spielerische und sogar komödiantische Züge, die auch die Schaulust ungescheut bedienen. Homokis Regie zollt diesem Anspruch Tribut, ohne das realistische Spiel oder die bildhafte Anschaulichkeit zu sehr zu strapazieren. Die ganze Oper ist – anders als die anderen Teile des Gesamtwerks – ein Kammerspiel, das aus einem runden Dutzend Zwiegesprächen besteht. Dass diese schier endlosen Dialogszenen nun kurz und kurzweilig erscheinen, verdankt sich der ebenso präzisen wie humorvollen und durchdachten Personenführung. Und der Spielfreude der Protagonisten, denen das Agieren in einem Setting, das die Balance zwischen Konkretheit und Abstraktion hält, offensichtlich Spaß macht. Jedenfalls fasst die Inszenierung die dem Werk inhärenten Widersprüche überzeugend in eins: Psychologische und philosophische, mystische und realistische Vorgänge werden zwar plausibel und bildstark dargestellt, dennoch lassen sie eine Vielfalt von Deutungen zu.


Hierzu greift der Bühnenbildner Schmidt auf das aus den beiden vorangegangenen Opern bekannte Raumkonzept zurück: Drehbühne mit raschen Szenenwechseln und raumhohe, getäfelte Wände mit Fenstern und Türen, welche die großbürgerlichen Zimmerfluchten – Gedanken- oder Vorstellungsräume! – verbinden. Nur ist diese sich stetig drehende Welt diesmal nicht weiß wie zuvor, sondern schwarz! Schwarz in Vorwegnahme ihres Niedergangs – rußig, rauchig, staubig von Schutt und Asche, ausstaffiert mit umgestürzten Möbeln. Verschlissen und überdimensioniert sind sie; lassen Zwerge und Menschen noch kleiner erscheinen. Wir befinden uns wohl im abgewirtschafteten Reich der Riesen Fasolt und Fafner. Ersterer fiel im Brudermord, letzterer döst nun in Drachengestalt stumpf und stur über seinen Schätzen.

In diese Düsternis passt die Esse mit hoch aufschießender Flammenlohe, Blasebalg und Amboss bestens. Und erst recht besagter Drache, von dem man zuerst nur den zuckenden gezackten Schwanz sieht und dann das schnaubende Haupt – eine wahre Meisterleistung der Theaterplastiker! Und des verborgenen Puppenspielers, der das geschuppte Untier zum Leben bringt – bis hin zu dessen Flanken, die sich noch im Todeskampf pulsierend heben und senken. Mit Liebe zum Detail und bühnentechnischer Raffinesse wird auch das Schmieden des Schwerts zelebriert. Den Walkürenstein kennen wir bereits; inzwischen grünt auf dem Felsen ein einsames Tännchen – symbolhaft für einen (möglichen) Neuanfang? Doch wie schon zuvor vermisse ich ein wenig ein eindrückliches Flammenmeer anstelle des mickrigen Glimmens am Stein. Hierzu postuliert das Programmheft: «Die Glaubwürdigkeit liegt im Auge des Betrachters.» – Gut gekontert, Herr Homoki! Dass die suggestive Musik an dieser Stelle das Primat über das Optische hat, entschädigt immerhin für das entgangene Spektakel.


Schnuckelig ist der tapsige Bär, mit dem Siegfried den verhassten Mime erschreckt, und poetisch der Waldvogel mit den weißen Schwingen, dessen Stimme in der Regel nur aus dem Off erklingt; hier aber umflattert er singend und tanzend den jungen Recken. Rebeca Olvera mit Silberstimme macht das sehr anmutig.

Zum reizvollen optischen Geschehen kommt die hervorragende musikalische Leistung im Graben und auf der Bühne. GMD Gianandrea Noseda, just am Premierenabend mit dem «Oper! Awards» als bester Dirigent 2023 ausgezeichnet, und die wache Philharmonia Zürich bringen die Partitur, deren Komplexität sich im dritten Akt noch steigert, mit überwältigender Klangsinnlichkeit zum Leuchten und Schillern. Reiche Orchesterfarben, machtvolle Klangwogen, aber auch nuancierte, fast pointillistische Details schaffen ein klangliches Universum vom zarten Waldweben bis hin zum derben Schmiedegedröhn. Bei aller sinfonischen Opulenz ist die kammermusikalische Feinzeichnung stets präsent, was wiederum der Textverständlichkeit zugutekommt.


In kleineren Rollen glänzen Christopher Purves als von Krankheit gezeichneter, aber immer noch machtbesessener Alberich und David Leigh als träger Drache Fafner. Das weiß schimmernde Gewand, die elaborierte Zopffrisur und die Augenbinde verleihen Erda, der «Allwissenden, Urweltweisen», eine geheimnisvolle Aura; Anna Danik vermittelt ihr edle Gestalt und mit ihrem zum Alt tendierenden Mezzosopran vokalen Nachdruck; die Sentenz «Wild und kraus kreist die Welt» entwickelt beklemmend prophetische Kraft.

Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist ein großartiger Mime von abgründigem Witz. Er gestattet sich, darstellerisch und vor allem auch stimmlich an die Grenze zu gehen, ohne die heikle Grenze zur üblen Karikatur zu überschreiten. Im Gegenteil, man empfindet mitunter fast ein wenig Mitleid mit dieser geschundenen und von allen kujonierten Kreatur. Der souveräne Tomasz Konienczny gibt wiederum den Wotan, jetzt in Gestalt des Wanderers mit Schlapphut und Wanderstab. Sein nobler Bass unterstreicht die würdige Gestalt. Da geht und steht einer, müde und milde geworden durch das Weltengetriebe. Einer, der weiß, dass das Ende nahe ist und sich doch schwertut, den Weg freizugeben, den er selbst dem Jungen vorbereitet hat. Der Sänger gestaltet das mit tragischer Größe und tiefer Menschlichkeit. Als im Gespräch mit Erda, von der er sich vergeblich Rat erhofft, die Rede ist von der in Ungnade gefallenen Brünnhilde, ihrer beider Tochter, lässt er die Stimme fast brechen: ein ungemein bewegender intimer Moment.

Camilla Nylund als Brünnhilde berührt wie schon in der «Walküre». Sie betont weniger das Hochdramatische und Pathetische der Figur als vielmehr deren Wandel vom Götterwesen hin zum neu erworbenen Mensch-Sein, eine existenzielle Erschütterung, die auch ängstigt und verunsichert. Umso befreiender dann ganz zum Schluss, wenn sie ihrem strahlenden Sopran einen ekstatischen Aplomb verleiht, Siegfried aufs Lager wirft und sich über den hilflos Zappelnden stürzt: eine Frau, die sich dem männlichen Part absolut ebenbürtig, ja überlegen erweist. Die Schleusen zur rauschhaften Vereinigung der Liebenden stehen weit offen – und reißen auch uns mit.

Klaus Florian Vogt, der in dieser Rolle debütiert, ist eine Idealbesetzung des ambivalenten Heißsporns. Sein geschmeidiger, heller Tenor überzeugt im heroischen Aufschwung ebenso wie im lyrischen Wohllaut. Glaubhaft bringt er auch die verletzliche, naive und kindliche Seite des «Superhelden» zum Ausdruck – mitunter einfach ein großer Bub, der nicht weiß, wohin mit seiner überschäumenden Energie. Besonders betroffen macht sein Gespräch mit Mime, als er erfährt, dass die Mutter an seiner Geburt gestorben ist. Sie, die Mutter, ruft er denn auch an, als er vor dem Walkürefelsen, überwältigt vom Überschwang seiner erwachenden Sexualität, zusammengekauert in Embryostellung vom Mann wieder zum Kind wird. Witzig – und typisch für den jungen Wirrkopf im Chaos der Gefühle – ist dagegen, dass er einmal im Davonstürmen sogar sein Schwert vergisst und es dann suchen muss. Und echt komisch schließlich ist der missliche Versuch, mit einer Rohrflöte den Vogellaut nachzuahmen.


So folgt man denn diesem Märchen, das auch eine Art Éducation sentimentale, eine Coming-of-Age-Geschichte ist, mit Spannung, Anteilnahmen und nicht selten sogar mit Heiterkeit und Schmunzeln. Was – die zitierte Briefstelle belegt es – dem Herrn Wagner sicherlich nicht missfallen hätte! Ebenso wenig, natürlich, wie der einhellige Beifall.

Bilder: OHZ – © Monika Rittershaus

06.03.2023

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