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Ende und Vollendung



«Weißt du, was das wird?» fragen sich die Nornen, hodlersche Frauengestalten in weißen, wallenden Gewändern in «einer Art weihevollem Weltenklatsch» (so Thomas Mann in seinem berühmten Essay über Richard Wagner von 1933). Die Szene, in der die drei parzenähnlichen Töchter der Urmutter Erda das Weltgeschehen, mithin die wesentlichen bisherigen Handlungsfäden von Wagners Tetralogie «Der Ring des Nibelungen», zu einem Seil winden – uns Zuhörern gleichsam ein Résumé des Geschehenen bietend – bildet das Vorspiel zum dritten und letzten Tag seines Bühnenfestspiels, das den Zürcher «Ring» zum Abschluss bringen soll. Die Schwestern knoten und knüpfen, ziehen und zerren an der geschichtsträchtigen Schnur, bis sie reißt – und dadurch eine klare Sicht auf das, was wird, auf das Zukünftige, vermasseln. Was wird obsiegen? Macht und/oder Mammon? Missgunst? Minne? Der boshafte Schwarzalbe Alberich oder der naiv-tumbe Götterenkel Siegfried? Walhall oder Nibelheim? Damit geht das ewige Wissen der drei mythischen Damen zu End’ – «der Welt melden Weise nichts mehr», raunen sie und kehren zurück in der Erde Schoß. Und wir, im schrecklichen Wissen darum, dass eine Befriedung der (realen) Welt in utopischer Ferne liegt, machen uns gefasst auf eine viereinhalbstündige Parabel zu eben diesem Thema...



Auch Wagner selbst war lange unschlüssig, wie sein Wort-Ton-Drama enden sollte. Bekannt ist, dass er Ende der 1840er Jahre mit der Niederschrift von «Siegfrieds Tod» als epische Keimzelle begann, basierend auf dem Nibelungenlied, der Titanenschlacht «Ragnarök» aus der altisländischen Mythensammlung «Edda», und anderen nordischen Sagenkreisen, die er ziemlich frei umgestaltete und später in «Götterdämmerung» umbenannte. Geplant war nur eine abendfüllende Große Heldenoper. Doch während der intensiven Beschäftigung mit dem Mythos war der Dichter-Komponist zur Erkenntnis gelangt, dass der Stoff weiter gefasst werden müsse, was – sozusagen im Rückwärtsgang – zur Dichtung der vorangehenden drei Teile führte (mehr dazu). So konnte er den gesamten «Ring» 1853 im Zürcher Hotel «Baur au Lac» einem erlesenen Publikum vortragen, darunter die junge Johanna Spyri, die dem Meister gar ein Huldigungsgedicht widmete... (Hoppla, jetzt sind wir vom hehren «Weltenklatsch» unversehens in die Niederungen des lokalen Tratsches gerutscht!)


Mit der Komposition, die – im Gegensatz zur Dichtung – in chronologischem Ablauf erfolgte, tat sich der Meister schwerer. Fünfundzwanzig Jahre, mit einem langen Unterbruch nach dem 2. Akt des «Siegfried» (1857 bis 1865), sollte es dauern, bis die «Götterdämmerung» nach mehreren Schlussversionen 1872 und die Gesamtinstrumentation 1874 fertig vorlagen. 1876 kam es zur ersten Aufführung des ganzen Zyklus in Bayreuth.



War ursprünglich noch die Neubefestigung einer weiser gewordenen Götterherrschaft geplant, so erwog Wagner in späteren Schlussentwürfen – das Revolutionsgeschehen und seine Lektüre von Bakunins und Feuerbachs Schriften trugen das Ihre dazu bei – diverse andere Lösungen: Das einstige Schlusswort Brünnhildes «Nur Einer herrsche: Allvater! Herrlicher du!» wird ersetzt durch Wotans Einsicht «Das Alte vergehe, das Neue erblühe ». Noch später fand die «schaffende Lust der Zerstörung» (Bakunin), aber auch die Liebe, die den Menschen befreit, während das Gesetz ihn unfrei macht (Feuerbach), ihren Niederschlag in Brünnhildes Schlussapotheose: «Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht, [sondern] selig in Lust und Leid lässt – die Liebe nur sein».


Schliesslich – Musik statt Worte – entschied sich Wagner für einen orchestralen Schluss mit Brünnhildes Erlösungsmotiv, das seit der «Walküre» erstmals wieder erklingt. Dazu endet die Zürcher «Götterdämmerung» absolut stimmig mit dem Anblick der sich stetig drehenden Zimmerflucht: hohe getäfelte Wände, offene Fenster und Türen, die ins schwarze Nichts führen – ein in seiner Einfachheit ungemein suggestives Bild der Leere. Ende und Anfang zugleich – offen für vielerlei Interpretationen.



Wir kennen das Setting, hat uns doch dieses gründerzeitliche Interieur, das Christian Schmidt (Ausstattung) auf ingeniöse Weise als (fast) identische Sektoren auf das Rund der Drehbühne gesetzt hat, durch die ganze Tetralogie begleitet, mit wechselndem Mobiliar und Lichteffekten jedoch immer wieder unterschiedlich definiert und jetzt zusätzlich vom Zahn der Zeit etwas angenagt. Ein architektonisches Déjà-vu, sozusagen die bildhafte Umsetzung des «Déjà-entendu» der wagnerschen Leitmotive – immer wieder Gleiches in immer neuer Gestalt!



Klare und klärende Lesart

Schon zu Beginn seiner Arbeit am «Ring» hatte sich Regisseur Andreas Homoki dezidiert für den Verzicht auf Deutung ausgesprochen. Stattdessen setzt er auf eine schlanke, stringente Erzählung ohne ideologische Metaebene, ohne psychologischen Subtext. Dieses Konzept wurde bis zum Schluss konsequent durchgezogen, was uns, das Publikum, für einmal nicht entmündigt, sondern anregt, Bezüge und Parallelen zum Hier und Heute selbst zu etablieren (an denen es wahrlich nicht fehlt!).


Deutungsverzicht bedeutet jedoch nicht Mangel an sinnlicher und sinnhafter Anschaulichkeit, mitunter sogar spielerisch-ironischer Heiterkeit trotz düsterer Grundierung. Was das Libretto erzählt, wird auch gezeigt, subtil und überzeugend. Und – dank einer präzisen Personenführung – oft geradezu menschlich. Nur im fatalen Finale läuft der Gestaltungswille ein wenig aus dem Ruder: Zur Verdeutlichung des Flammeninfernos auf Walhall rennt ein brennender Stuntman – sollte es gar der Feuergott Loge persönlich sein? – vor den Augen des Volkes quer über die Bühne; ein überflüssiger, effekthascherischer Zirkus-Gag (...es steckt halt doch ein Kind in jedem Regisseur, und das will spielen). Störend sind auch die drei schwarzen Zwischenvorhänge, die sich vor dem finalen Blackout in rascher Folge heben und senken; sie wirken wie ein dreifaches Postskriptum eines ohnehin langen, ausführlichen Briefs.



Manch anderes dagegen ist äußerst gelungen: Kleine darstellerische Nuancen und liebevoll beobachtete Details, dank deren sich die mitunter kruden Ereignisse zum durchwegs spannenden Musik-Schauspiel fügen. Dieses fast kammerspielartige Agieren, das die Musik nie außer Acht lässt, verlangt von den Protagonisten als Sänger wie als Darsteller eine enorme Leistung und Präsenz, die sie samt und sonders erbringen.



Als emotionales Epizentrum besticht Camilla Nylund als eine Brünnhilde, wie man sie nur selten erlebt. Sie begeisterte bereits in der «Walküre» und im «Siegfried»; nun – als Rollendebüt – gibt sie sich mit Haut und Haar in diese anspruchsvollste der drei Partien. Wie sie beispielsweise den Geliebten, der wie ein ungeduldiger Bub zu neuer Aventüre drängt, ihr Pferd Grane anvertraut, in Form des helmartigen Pferdekopfs, den er spielerisch aufsetzt, wie sie da ihrer Stimme Entsagung und Wehmut beimischt… Wie sie erst fassungslos, dann zeternd ihrem Furor über Siegfrieds schmählichen Verrat Ausdruck verleiht... Wie sie die Stimme fahl färbt, als sie Hagen Siegfrieds verwundbare Stelle verrät und es gleich darauf bereut... Wie sie im Dialog mit der Schwester Waltraute – Sarah Ferede mit vor Dringlichkeit glühendem Sopran – die anfängliche Freude über das Wiedersehen mit der Botin aus Walhalla in eisige Kälte kippen lässt, als diese die Rückgabe des Rings an die Rheintöchter fordert... Die immense Palette an Klangfarben und Ausdrucksmöglichkeiten, die Kraft und gleichzeitige Zartheit, alles zeugt von sängerischer Intelligenz und schrankenloser Identifikation mit der Rolle.


Klang, Wort und Bild werden eins

Eine reizvolle Idee, in jener Szene von Waltrautes Bericht aus Walhalla den Göttervater Wotan als stumme Rolle nochmals zu zeigen (Wolfram Schneider-Lastin), mit dem Rücken zum Publikum an der bekannten Tafel sitzend, den zersplitterten Runenspeer in der Hand, Freias goldene Lebensäpfel unberührt daneben, die ausgesandten zwei Raben über ihm... Ein Bild des Jammers.





Auch Klaus Florian Vogt debütiert als Götterdämmerung-Siegfried. Sein heller, klar fokussierter Tenor, seine perfekte Diktion und seine offenbar schier unerschöpflichen vokalen Reserven prädestinieren ihn für die Rolle des rauflustigen, großmäuligen, etwas unbedarften Jungspunds. Ein Hallodri, der für seine Auftritte schon mal sportiv durchs Fenster steigt. Der seine erwachende Männlichkeit mit knackigen Sprüchen, aufgesetztem Machogehabe und kumpelhaftem Blutsbrüderschaftritual demonstriert. Und der schliesslich doch naiv in Hagens Intrige tappt. Vogt lässt stimmlich keine Wünsche offen. Dass er neben tenoralem Glanz auch über innige, lyrischere Töne verfügt, zeigt sich, als er, kurz vor seiner Ermordung, auf seine Jugendjahre zurückblickt und als Sterbender sich seiner Braut Brünnhilde erinnert. Auch hier manifestiert sich Homokis durchdachte Regie: Noch einmal blicken wir ins Gemach mit dem grossen Bett, wo Siegfried mit Tarnhelm in Gestalt Gunthers der Walküre zuvor den Ring entriss (auch das ein Kabinettstück erster Güte); jetzt als Toter gibt er ihr das fatale Kleinod zurück, das sie dann ihrerseits den Rheintöchtern überlässt.



Auf der abgründigen Seite agiert David Leigh als ränkeschmiedender, bleicher Hagen im Gothic-Look mit strähnigem Langhaar und Bart; sein nicht ganz astreines Deutsch macht der Amerikaner mit imposantem Bass wett. Eine ebenso unheimliche Kohorte stellen die Gibich-Mannen, alle in ähnlich finsterem Outfit, mit stimmlicher Durchschlagskraft und gefährlicher Präsenz (Choreinstudierung: Ernst Raffelsberger).





Mit seinen beiden Halbgeschwistern, Gunthar und Gutrune, hat Hagen leichtes Spiel; jener ein schnöseliger, degenerierter Weichling in weinrotem Samtjacket; diese, ebenso gekleidet, ein adrettes Püppchen, das einem fast ein wenig leidtut. Der Bass-Bariton Daniel Schmutzhard und die Sopranistin Lauren Fagan verleihen dem schwächlichen Paar starkes Profil. Ein Klasse für sich ist Christopher Purves als schmieriger, machtbesessener Alberich, der seinem einzigen albtraumartigen Auftritt unheimliche Faszination einschreibt.


Als stimmlich ansprechendes Nornen-Trio weben Freya Apffelstaedt, Lena Sutor-Wernich und Giselle Allen am bedeutungsvollen Geflecht des Schicksalsfadens. Keck und munter schließlich die platinblonden Rheintöchter in ihren weißen Seidenpyjamas: Uliana Alexyuk, Niamh O'Sullivan und Siena Licht Miller, drei herrlich alberne, kapriziöse Backfische – angesichts ihres feuchten Elements sei der nicht mehr ganz zeitgemäße Ausdruck erlaubt. Jedenfalls schubsen sie den machtgierigen Hagen kurzerhand aus dem Fenster in den Rhein statt in die Themse, wie seinerzeit die lustigen Weiber von Windsor den Falstaff, nur ohne Korb. Hierzu hat ihnen Wagner wohl die lichteste melodiöse Geschwätzigkeit seiner Partitur zugedacht, und man hat das Gefühl, das Orchester stürze sich ebenfalls mit Lust in das quirlig-heitere Intermezzo innerhalb der mehrheitlich dunkel gefärbten Götterdämmerung-Musik.


Musik! Gianandrea Noseda und die Philharmonia Zürich schaffen die überwältigende tönende Klammer, die neben dem einheitlichen Drehbühnenbild die Tetralogie zusammenhält. Mit einem Farbspektrum, mit dynamischer Feinzeichnung und einer Klangsinnlichkeit sondergleichen wird aus dem Graben das Bühnengeschehen verdeutlicht, kommentiert, unterlaufen, entlarvt, konterkariert... Unter der Leitung seines Chefdirigenten wird das Orchester zum aktiven, sinnstiftenden Mitakteur im komplexen Spektakel, sodass es fast natürlich, zumindest verständlich scheint, dass die ansonsten meisterlich gewahrte Klangbalance im 2. Akt stellenweise leicht aus dem Lot gerät. Ganz wunderbar dagegen die Idee, dass für die beiden orchestralen Zwischenspiele, «Rheinfahrt» und «Trauermarsch», der schwarze Vorhang unten bleibt – no Video, no Pics, wie sonst üblich – nur reine Musik, die ihren rauschhaften Sog, ihre erotische Kraft, aber auch ihre spinnwebzarte Melancholie voll entfalten kann. Und im finalen Orchesterpart, glimmt da vielleicht nicht doch noch ein feiner Hoffnungsschimmer? – Jede, jeder im Publikum muss das für sich entscheiden. Zuvor aber brandet der Schlussapplaus gewaltig hoch und spült die paar versprengten Buhrufe für die Regie souverän hinweg.


Szenenbilder: @ OHZ – Monika Rittershaus



Nice to know: Wagner setzt in der «Götterdämmerung», wo Hagen seine Mannen zusammenruft, Stierhörner ein, deren Klang die «barbarische» Sippe charakterisiert. Nun stammen diese nicht tatsächlich vom Hornvieh, vielmehr handelt es sich um eine Art kurze Alphörner, wie mir der Tonmeister des Opernhauses erklärt.

Das Motiv der Raben, Attribut und Boten Wotans, taucht auch andernorts auf, oftmals, wenn eine Untat geschieht, wie hier der Mord an Siegfried. Auch beim Raubmord des Eremiten St. Meinrad in seiner Klause am Etzel verrieten zwei Raben die flüchtigen Mörder, indem sie über deren Häupter kreisten und so zu deren Verhaftung in der Schenke «Zum Raben» beitrugen (Zürich, Limmatquai). Auch in der bekannten Schiller-Ballade helfen Vögel bei der Aufdeckung eines Mords, dort sind’s allerdings Kraniche, nämlich die des Ibykus.

07. 11.2023

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