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Hojotoho, klingt’s von Fels zu Fels

Alles wie gehabt, und alles doch neu: Dasselbe gründerzeitliche Interieur mit den weissen, getäfelten Wänden. Dieselben hohen Flügeltüren, welche die Räume zu grossbürgerlichen Zimmerfluchten verbinden. Und schliesslich die Drehbühne, die das Geschehen am Laufen hält und doch die Sicht darauf immer wieder verändert, gleichzeitig auf den surrealen «Raum als Vorstellung» verweisend. Ein «schlichtes» – bautechnisch natürlich keineswegs einfaches – Bühnenkonzept, das der Ausstatter und Bühnenbildner Christian Schmidt schon für den Vorabend von Wagners «Ring des Nibelungen», das «Rheingold» der vergangenen Spielzeit des Opernhauses Zürich (21/22), entwickelt hatte. Und das er jetzt für den ersten Tag der Tetralogie, «Die Walküre», in leicht abgewandelter Form wieder aufnimmt. Konsequent und folgerichtig!



Die Drehbühne erlaubt, wie schon zuvor, ein rasches Ausstatten der Räume mit entsprechenden mobilen Bühnenelementen – etwa der Weltesche, deren abgestorbener Stammstrunk bereits auf das Ende, das Verdorren und Verdämmern hinzuweisen scheint. Später befinden wir uns wieder im bekannten Saal mit der langen Tafel auf Walhall. Beeindruckend, ja beängstigend ist sodann der Winterwald als ungastlicher Fluchtort und, schliesslich im 3. Akt, der imposante Walkürenfelsen. Das ist, trotz Abstraktion, äusserst bildhaft, ist, trotz Reduktion, äusserst stringent. Vor allem aber schaffen die neutralen, hochästhetischen Szenerien Raum für die durchdachte, präzise Personenführung des Regisseurs Andreas Homoki. Und mögen die suggestiven Bilder auch die Gefahr des Déjà-vus und des Repetitiven bergen, so erlauben sie doch eine recht freie, mitunter sogar anregend-irritierende Auslegung der jeweiligen Schauplätze, wie es sich drei Stunden später beispielsweise beim Duell Siegmund-Hunding zeigt.


Gleich zu Beginn des fünfstündigen Abends wird es klar: Gleichberechtigter Mit-Akteur im Geschehen ist die Philharmonia Zürich unter ihrem GMD Gianandrea Noseda. Dezidiert und einfühlsam führt er das Orchester durch die Partitur, sodass Bühne und Graben in Eins verschmelzen. Selten hat man diese komplexe Musik so klar, so transparent, so plastisch gehört; der Dirigent schafft den einzelnen Instrumentalisten Raum für ihre Soli, sodass das Vorurteil der bombastischen Klangmassen haltlos wird. Umso deutlicher dagegen entfaltet sich die facettenreiche, oft erstaunlich kammermusikalische Faktur von Wagners Komposition mit ihren sinnstiftenden und sinnlichen Bezügen, ihrem pulsierenden Atem, ihrem erzählenden Charakter, was wiederum den Sängern zugutekommt. Die kluge Balance zwischen gewaltigen Klangwogen und zartesten Piani erlaubt fast durchgehende Textverständlichkeit. So entwickelt Nosedas Dirigat eine musikalisch-dramatische Dringlichkeit, die den weiten Spannungsbogen über den ganzen Abend sichert.



Wotan als Spielleiter

Fürs erste also treffen wir Siegmund auf der Flucht. Zwar anders als es Wagners

Libretto vorsieht, ist auch Wotan mit dem Flüchtenden unterwegs. Das macht indes durchaus Sinn. Der Göttervater will sicherstellen, dass sich sein Plan erfüllt. Zu diesem Zweck hat er den Wölfling Siegmund gezeugt, auf dass ihm dieser «freie Held» den Goldschatz und vor allem den alle Macht verleihenden Ring wieder gewänne, der durch den Bau der Burg Walhalla vertraglich an deren Erbauer Fafner gefallen war. Wotan, bereits in seiner späteren Erscheinung als Wanderer mit schwarzem Mantel und Schlapphut, lenkt den verwundeten Siegmund hin zu Hundings Hütte. Dort soll er rasten und – anfänglich unerkannt – auf seine Zwillingsschwester Sieglinde, Hundings Frau, treffen. So wird der Gott, stumm und eigentlich unsichtbar, quasi zum Spielleiter, der mit seinem Speer Blitz und Donner auslöst, und, in Hundings Haus, Sieglinde den Becher zur Labung des Flüchtigen und das Trinkhorn zu seinem Willkomm reicht. Noch später rammt er, immer noch als unsichtbarer Schatten, während Sieglindes Erzählung das unbesiegbare Schwert in den Stamm der Esche – eine Verdoppelung und Verdeutlichung von Vorgängen, die weit zurückliegen.



Die Begegnung der Geschwister, die in inzestuöser Liebe zueinander finden, ist einer der ersten Höhepunkte des Werks. Mit expansiv strahlendem Tenor besticht Eric Cutlers als Siegmund. Ob im dürstenden Verlangen nach Wasser als Verfolgter oder in der resignativen Erzählung als Geächteter, ob im heroisch auftrumpfenden «Wälse, Wälse!» oder im erotischen Überschwang des «Wonnemonds», der amerikanische Sänger lässt keine Wünsche offen, und seine Diktion als Nicht-Deutschsprachiger ist tadellos.


In Sieglinde findet er nicht nur dramaturgisch eine «bräutliche Schwester», auch darstellerisch und stimmlich ist ihm Daniela Köhler eine ebenbürtige Partnerin. Sie versteht es, den widersprüchlichen Gefühlen Sieglindes beredten Ausdruck zu verleihen: Einerseits dem trotzigen Aufbegehren gegen den Gatten wider Willen, den sie mit einem Schlaftrunk ausser Gefecht setzt, und andererseits dem ekstatischen Erkennen – im doppelten Sinne! – von Bruder und Geliebtem. Aber ebenso, im 3. Aufzug, dem jähen Gesinnungswandel, als sie sich ihrer Würde und Aufgabe als werdende Mutter Siegfrieds bewusst wird.


Mit wuchtigem Bass profiliert sich Christof Fischesser als Hunding, der mit seinen Mannen in zottigen Fellmänteln aus einer fernen, barbarischen Welt zu kommen scheint: ein gefährlicher, aber nicht undifferenzierter Gegenpart der Liebenden, gefangen und verstrickt in archaischen Sitten und ehernen Sippengesetzen.



Götter wie Menschen – menschliche Götter

Zufrieden mit der Entwicklung der Dinge begibt sich Wotan zu Beginn des 2. Aufzugs nach Walhall. Er befiehlt der Walküre Brünnhilde, seiner Lieblingstochter, im zu erwartenden Duell zwischen Hunding und Siegmund, letzterem zum Sieg zu verhelfen. Er legt Mantel, Hut und Speer ab, fläzt sich auf einen Stuhl am langen Tisch und lagert die Beine hoch. Doch er hat nicht mit seiner Gattin Fricka gerechnet. An seine amourösen Eskapaden hat sie sich längst gewöhnt, aber Ehebruch und Blutschande kann sie, Hüterin von Ehe und Moral, nicht kampflos hinnehmen. Einmal mehr bedrängt sie, «der alte Sturm, die alte Müh’!», ihren Göttergatten mit Vorwürfen. Patricia Bardon in eleganter, grünschillernder Robe macht das hervorragend. Ohne als überzeichnete Megäre zu chargieren, demontiert und entlarvt sie Wotans Argumente nach allen Regeln der Kunst, bis er ihr zugesteht, auf den Schutz Siegmunds zu verzichten, die Zauberkraft seines göttlichen Schwerts Nothung zu bannen. Mit geblähten Röcken rauscht sie als «Siegerin» von dannen, vorbei an der entgeisterten Brünnhilde – filmreif!



Tomasz Konieczny ist ein ebenso grandioser Wotan, mit baritonalem Aplomb, ausdrucksstark, reich an Zwischentönen und dynamischen Abstufungen. Das Ringen um den Götterwohnsitz, um Macht und Reichtum hat ihm inzwischen graue Haare beschert; im «Rheingold» war er noch dunkelhaarig. Jetzt, im Zwist mit der nölenden Gattin kann er nur noch fast tonlos hauchen: «Nimm den Eid!» – Ob dieser saftige Ehezoff ein wenig die offenbar nicht seltenen Auseinandersetzungen zwischen dem bezüglich ehelicher Treue nicht eben zimperlichen Meister und seiner Ehefrau Minna widerspiegelt? – Denkbar wär’s; jedenfalls bietet das göttliche Paar ein superbes Zweipersonenstück à la Ibsen oder Bergman.


Doch nun steht Wotan noch die Auseinandersetzung mit Brünnhilde bevor. Diese textlastige Konfrontation von echt wagnerscher Überlänge gestalten Konieczny und Camilla Nylund als Psychodrama, das das Scheitern des Göttervaters exemplarisch vorführt und, bei allen Vorbehalten gegenüber seinen Machenschaften, zur packenden Darstellung der Dekomposition eines Mächtigen wird. Auf sein Geheiss soll die Walküre Siegmund (der ja ihr Halbbruder ist) dessen bevorstehenden Tod verkünden, was sie widerstrebend, doch mit anrührender Empathie auch tut und schliesslich selbst von dessen Standhaftigkeit, nicht ohne die geliebte Sieglinde in Walhall einziehen zu wollen, gerührt ist. Das bringt sie dazu, sich Wotans Gebot zu widersetzen und Siegmund im Zweikampf beizustehen. Doch das wiederum veranlasst Wotan, in den Kampf einzugreifen, indem er Siegmund durch einen Speerstoss selbst tötet – erneut eine bild- und symbolstarke Abweichung vom Originallibretto: Dort lässt er nur Siegmunds Schwert zerbrechen, sodass Hunding den nurmehr Wehrlosen niederstrecken kann. Doch eigenartigerweise – diesmal eine nicht ganz schlüssige Änderung! – findet der Waffengang nicht im Wald, sondern im Walhalla-Saal statt...


Camilla Nylunds Rollendébut als Wotanstochter war von grossen Erwartungen begleitet. Die in anderen Wagner-Rollen erprobte Sängerin scheint sich hier erfolgreich eine weitere Partie zu erschliessen, die sie mit lyrischer Wärme und strahlenden Spitzentönen, mit selbstbewusster Entschiedenheit und schonungsloser Identifikation gestaltet. So ist denn auch ihre letzte Begegnung mit dem zürnenden Vater, der ihren Ungehorsam bestrafen wird, von intimer Intensität geprägt.


Wer reitet so laut durch ...

Zuvor aber erklingt das wohl berühmteste Stück der Oper – oder vielleicht Wagners überhaupt: der Walkürenritt, der als Zirkusmusik wie als martialische Propagandamusik eingesetzt wurde, zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg von den Nazis, aber auch in Coppolas Antikriegsstreifen «Apocalypse Now» (1979), um nur den berühmtesten unter vielen Filmen zu nennen. Der wilde, scharf rhythmisierte Hit kulminiert im lärmenden «Hojotoho!» der Walküren. Diesen Töchtern Wotans, neun an der Zahl, obliegt es, die gefallenen Recken (altnord. valr) auf dem Schlachtfeld, der Walstatt, einzusammeln, um sie nach Walhall zu bringen. Dort kredenzen ihnen diese «Wunschmädchen» Met – und sorgen wohl für weitere «Annehmlichkeiten»... Das Regieteam nutzt den Auftritt dieser berittenen «Amazonen» für eine frech-frivole Einlage; Ironie und Humor sind ja in dieser Oper, vielleicht mit Ausnahme des erwähnten Ehedisputs, kaum angesagt. Dafür sorgen nun aber diese

aufmüpfigen Gören, ausgestatten mit Brustpanzer, Speer und Pferdekopf-Helm. In einem frevlen Katz-und-Maus-Spiel hetzen sie die toten Kämpen in ihren weissen Leichenhemdchen und bewaffnet mit lächerlichen Pappschwertern, durch die Säle von Walhall, was eine ungewohnt heitere Note in das üblicherweise allzu hehre Geschehen bringt.





Die letzte Szene aber gehört Wotan und Brünnhilde. Noch einmal entspinnt sich ein ergreifender Dialog zwischen Vater und Tochter. Das grauenhafte uralte Motiv des Vaters, der sein Kind einer Idee opfert – Agamemnon, Abraham, Gottvater –, hier bekommt es durch die subtile Gestaltung von Nylund und Konieczny beklemmende, tragische Grösse: Sie bittet um die Gunst des schützenden Flammenkreises und bettet sich zum langen Schlaf; er, ein gebrochener, um Jahre gealterter Mann, entfacht mit letzter Anstrengung das Feuer. Der Fels erglüht. Der Vorhang fällt. Eine ganze Weile bleibt es still... Dann: tosender Applaus.

Bilder: OHZ @ Monika Rittershaus

P.S. Ich gestehe, mein Interesse an Wagner war – bis auf ein paar Ausnahmen –bislang eher musikologisch geprägt. Die Zürcher Inszenierung hat mir einen neuen, unverkrampften Zugang zum «Ring» eröffnet: Aus Göttern wurden Menschen.

20. 10. 2022

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